nordpol : 5.04 UTC — Denkbar wiederum, dass irgendwann einmal Warenhäuser existieren werden für Ohren, Nasen, Augen, Läden also für Kopfes Zubehör. Auch Geschäfte für Nieren, Knochen, Sehnen, Haut und weitere Materialien eines menschlichen Körpers sind wahrscheinlich geworden. Man wird, sofern man über ausreichend finanzielle Mittel verfügt, wesentliche anatomische Substanzen der eigenen Existenz in zentralen Magazinen voll ausgewachsen vorrätig halten, um in der Not ohne Verzögerung handeln zu können. Fernreisende führen dann Behälter mit sich, in welchen sich tiefgekühlte Lungen und Herzen befinden. Ein anatomischer Eisschatten könnte unsere Lebenszeit begleiten, solange man noch nicht in der Lage ist, eine komplette, eine durchblutete, willenlose Gestalt, eine Kopie der eigenen Person in nächster Nähe in Bereitschaft zu halten. Diese Person könnte über Reisepapiere verfügen, über persönliche Kleidung, über einen Schrankkoffer zum Schlafen, über einen Stuhl zum Sitzen, über etwas Personal, welches das doppelte Wesen füttern und baden und spazieren führen wird im Garten. Jedes fünfte Jahr würde das Wesen erneuert werden. In den Papieren meines Schattens könnte folgende Signatur zu entdecken sein: Louis / XD5878682-NOE06 24.11.18~24.11.2023. − stop
Aus der Wörtersammlung: kleidung
minutenzeit
nordpol : 0.06 UTC — Ich habe den Verdacht, dass sich Menschen, die sich in äusserst knapper Fellbekleidung auf Bäumen oder in leichten Sommeranzügen in Personenaufzügen moderner Gebäude begegnen, hier wie dort zunächst bevorzugt über das Wetter unterhalten. — stop
indien
alpha : 8.52 UTC – Einmal plante ich, nach Indien zu reisen. Ich forschte nach Kleidung, die wochenlang nicht gewechselt werden muss, Hemden, Hosen, Schuhe, die alles das von sich weisen, was sie von innen oder außen her verschmutzen könnte. Dann noch ein ebenso reinlicher Rucksack auf dem Rücken, eine Schreibmaschine, allerlei Kärtchen, eine Zahnbürste. Ich würde gern mit einem Zug nach Indien fahren. — stop
vom unsichtbaren
lima : 23.59 UTC — Ich war noch ein Kind gewesen, als ich von meinem Vater in einen unter der Erde liegenden Saal des Kernforschungszentrums CERN geführt wurde. Ich lernte dort die Unsichtbarkeit kennen. Es war inmitten einer Nacht, der Saal grell beleuchtet, Dioden blinkten, orangenfarbene Warnleuchten drehten sich langsam. Und da war das Rauschen der Luft, die kühl durch den Saal strich, ein beständiger Wind, weswegen in einer Hochsommernacht doch alle Menschen, die in dem Saal zu beobachten waren, warme Kleidung trugen. Mein Vater und ich standen auf einer Brücke, die über einen Korridor führte, der vollständig leer zu sein schien. Aber das war natürlich ein Irrtum, dort gleich unter uns schoss nämlich ein Strahl hochenergetischer Teilchen durch die Luft, der jeden Menschen sofort getötet hätte, wenn er dort unten hindurch spaziert wäre. Mein Vater deutete hinab und versuchte mir das Unsichtbare zu erklären. Nicht sichtbar, weil zu schnell, sagte mein Vater, und zu klein. Ich war so berührt von der möglichen Wirkung des Unsichtbaren, dass ich immer wieder dorthin zurückkehren wollte, um das Unsichtbare zu besuchen. Überhaupt ist das Unsichtbare, das aber doch der Fall ist, ein wundervolles Phänomen. Oder jenes gemeinsame Wesen, das nur den Liebenden sichtbar wird. — Mit dieser Minute endet Louis’ 20646 Lebenstag. — stop
von marienkäfern und wodka
tango : 2.00 — Vor drei Wochen entdeckte ich in einem Münchener Antiquariat ein schweres Notizbuch DIN A3, in welches ein Mann, der für einige Monate in einem Bergwald lebte, mit sehr kleinen Schriftzeichen Beobachtungen, Erlebnisse, Gedanken verzeichnete. Es muss zur Sommerzeit gewesen sein, das Jahr der Aufzeichnungen wurde nicht vermerkt, auch nicht der volle Name des Mannes, nur sein Vorname, der war Ludwig. Das Dokument umfasst beinahe siebenhundert Seiten, es scheint mehrfach feucht geworden zu sein, da und dort sind zwischen den Blättern getrocknete Wiesenblumen zu finden, die mittels des Buchgewichtes präpariert worden waren, auch habe ich mehrere Ameisen völlig leblos aufgefunden, sowie Marienkäfer, die den Anschein erweckten, als würden sie gerade noch versucht haben, auf und davonzufliegen, als sie von einer Buchseite, die umgeblättert wurde, gefangen genommen wurden. Was war es gewesen, das den Mann in den Wald lockte? Vielleicht die Stille und das wunderbare Licht der Höhe? An einem Julitag, es war der 5., folgender Eintrag: Höhe 1258 m. Kein Wind, keine Wolke am Himmel. Ich sitze und beobachte Schafe, wie sie unter mir über eine Wiese spazieren. Wunderbare Geräusche der kleinen Halsglocken. Zum Wodka ist mir heute Morgen eingefallen, dass Menschen existieren, die Wodka bevorzugt in Mineralwasserflaschen füllen. Es handelt sich hierbei um einen Vorgang der Verkleidung oder des Verheimlichens. Der Wodka ist versteckt, obwohl er sichtbar ist. Das eigentliche Versteck ist die Methode der Behauptung, etwas anderes zu sein. Ähnlich verhält es sich mit Mixturen, die üblicherweise an Arbeitsplätzen zur Anwendung kommen. Eine Thermoskanne ist Aufenthaltsort einer guten Begründung, diese Begründung besteht aus der Flüssigkeit des Kaffees. In diese Begründung ist das Eigentliche, der Cognac, eingewickelt. — stop
von frauen unter zelten
olimambo : 0.55 — Vor Straßenbahnhaltestellen warten Flüchtlingsmenschen in Trainingsbekleidung, Familien, sie steigen nicht ein, sie schauen, schauen diese seltsamen Menschen an, beobachten vielleicht das Leben hier im Norden, Einheimische, wie sie aus Straßenbahnen steigen. Im Foyer des Hospitals ein junger Mann an der Seite eines Wesens, das sich als wandelndes Zelt darstellt, schwarz mit einem Sehschlitz. Dort sind ein Paar Augen zu erkennen. Eine irritierende Erscheinung. Ich werfe dem Wesen, vermutlich einer Frau, im gehbaren Zelt einen Blick zu in einer konzentrierten, direkten, auch fragenden Weise, die für mich nicht üblich ist. Im Flur vor der Intensivstation, weitere Frauen in schwarzen Gewänderzelten, die Gesichter dieser Frauen liegen jedoch frei. Ich vermag ihre Nasen, ihre Münder, gleichwohl ihre Augen zu sehen, ihr scheues Lächeln. Sie stehen auf Zehenspitzen, sprechen in ein Mikrophon, das an einer Wand befestigt ist neben einer Tür von opakem Glas. In englischer Sprache erkundigen sie sich nach ihrem Vater, der auf der Intensivstation liegen soll. — stop
lilly
delta : 0.05 — Ich wollte mit einem armen Menschen sprechen, wollte erfahren, wie es ist, mittellos geworden zu sein. Ich hatte Glück, eine Bekannte, die für die Bahnhofsmission arbeitet, erwähnte eine seltsame Frau, Lilly, die sich seit Monaten auf den Bahnsteigen 22, 23 oder 24 gewöhnlicherweise aufhalten würde, sie sei sehr lieb und sehr arm und würde gerne erzählen. Ich entdeckte Lilly auf einer Bank sitzend, Bahnsteig 18, sie war zunächst eher scheu gewesen, aber dann doch bereit sich mit mir zu unterhalten. Ja, Lilly. Sie spricht schnell, wenn sie spricht, und sie schämt sich ein bisschen, vielleicht deshalb, weil sie ahnt, dass sie nicht so gut riecht wie sie gerne riechen möchte, und ihr Haar, das hell geworden ist an der ein oder anderen Stelle, scheint feucht und klebrig geworden zu sein vom Talg. Ich fasse zusammen, was Lilly etwas durcheinander herum erzählte. Wenn eine Frau arm geworden sei, wenn eine Frau auf der Strasse leben müsse, erklärte Lilly, sollte sie zunächst versuchen, solange Zeit wie möglich ihren Status der Armut zu verbergen, sie sollte so wirken, als habe sie noch Geld zur Verfügung, als sei alles in Ordnung, dann würde man sie aus den Warteräumen eines Bahnhofes beispielsweise oder eines Flughafens nicht vertreiben. Sie trage aus genau diesem Grund noch immer einen Hosenanzug, manchmal, bei gnädigem Licht, wirke sie so, als würde sie zur Arbeit gehen oder gerade eben von der Arbeit kommen. Meine Schuhe sind geputzt, und wenn ich sie schonen werde, sollten sie doch noch lange Zeit als Schuhe einer erfolgreichen Frau erscheinen. Ich habe gelernt, im Sitzen zu schlafen, weiß jederzeit, wo ich mich waschen könnte, auch meine Bluse, meine Strümpfe, es ist sehr anstrengend, mich selbst und meine Kleidung in allgemein zugänglichen Toilettenräumen zu säubern, immerzu bin ich erschöpft, niemand kennt mich persönlich, weiß woher ich komme, ahnt wer ich einmal gewesen bin. Ich esse sparsam, ich esse, was ich finde, und trinke aus öffentlichen Brunnen. Ich darf nicht rauchen, ich darf keinen Alkohol trinken, das ist ja selbstverständlich in meiner Lage! Einmal im Jahr nehme ich einen Zug und fahre im Winter nach Süden, ein weiteres Mal fahre ich im Sommer nach Norden, aber das ist nur ausgedacht. Ich lese Zeitungen, die ich da und dort entdecke. Ich spreche mit den Tauben, leise, sehr leise, damit ich nicht verrückt werde. In meinem Koffer befindet sich eine zweite Bluse, und dies und das und ein Paar Turnschuhe, ein Halstuch in roter Farbe, ein Halstuch in gelber Farbe, ein Halstuch in blauer Farbe, das grüne Tuch trage ich gerade in diesem Moment, ich habe einen schönen Hals, nicht wahr! Ja, ich darf nicht rauchen und nicht trinken und nicht verrückt werden, das ist sehr wichtig, ich muss bei mir sein, ich fürchte Schlafhäuser, ich fürchte diese schrecklichen Schlafhäuser, ich bin mir nicht sicher, ob ich noch bin. — stop
ai : SUDAN
MENSCH IN GEFAHR : “Sandara Farouq Kadouda wurde am 12. April vermutlich von Angehörigen des sudanesischen Geheimdienstes entführt. Der Verbleib der Ärztin und zweifachen Mutter ist unbekannt. Sandara Farouq Kadouda war am 12. April zu einer Veranstaltung in Omdurman unterwegs, die von der politischen Opposition in den Räumlichkeiten der National Umma Party organisiert worden war. Kurz nach 17.00 Uhr wurde ihr Wagen von einigen Männern in Zivilkleidung angehalten, die allem Anschein nach Angehörige des Geheimdienstes (National Intelligence Security Service — NISS) waren. Die Männer nahmen ihr das Handy ab, als sie gerade mit einer Freundin telefonierte. Diese hörte laute Stimmen, als Sandara Farouq Kadouda jemanden nach seinem Ausweis fragte. Kurz darauf wurde das Handy abgestellt. Der Wagen von Sandara Farouq Kadouda wurde 30 Minuten später an der Straße gefunden, er war verlassen und die Schlüssel steckten noch. Die Familie von Sandara Farouq Kadouda zeigte den Vorfall bei der Polizei und dem NISS an. Bisher weigern sich die Behörden jedoch, Informationen über ihren Verbleib und ihren Gesundheitszustand preiszugeben. Sandara Farouq Kadouda hat keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand oder ihrer Familie. Sie leidet an chronischer Unterzuckerung und muss daher einen speziellen Ernährungsplan einhalten und täglich Medikamente einnehmen. Allerdings ist unklar, ob sie Zugang zu der benötigten medizinischen Versorgung hat. Sie ist zudem in Gefahr, gefoltert und anderweitig misshandelt zu werden. — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 25. Mai hinaus, unter »> ai : urgent action
kleiner kopf
romeo : 22.01 – Ich begegnete gestern am frühen Morgen einem Mann, den ich vor Jahren schon einmal beobachtet hatte. Er wartete unter Fernreisenden stehend vergeblich auf einen Zug. Ich erinnere mich noch sehr gut an unsere erste Begegnung. Er hat sich seither kaum verändert, verfügt nach wie vor über einen ungewöhnlich kleinen, zum Himmel hin spitz zulaufenden Kopf. Damals, im Mai des Jahres 2011, saß er auf einer Bank, Terminal 2, des Flughafens, seine Hände hielten eine Tasse Kaffee vor einen kleinen Mund, kleine helle Augen starrten in diese Tasse, kurz fixierten sie mich, dann wieder die Oberfläche des Kaffees, der sich im Gefäß langsam drehte. Staunend wartete ich in der Nähe des Mannes auf einer weiteren Bank, öffnete ein Buch, aber anstatt zu lesen, sah ich immer wieder hin zu dem kleinen Kopf. Ich konnte mir nicht denken, wie es möglich ist, mit einem derart kleinen Kopf zu überleben. Man stelle sich das einmal vor, der Kopf des Mannes war nicht sehr viel größer gewesen, als der Kopf eines Kindes von zwei oder drei Jahren. Eigentlich, dachte ich, müsste dieser Mann tot sein oder aber von eingeschränktem Denkvermögen. Danach allerdings sah der Mann nicht aus, er trug die feine Kleidung eines Geschäftsreisenden, außerdem war er vermutlich in der Lage, aus Blicken Gedanken zu lesen, weswegen ich bald selbst zum Gegenstand intensiver Beobachtung wurde. — Null Uhr zwölf in Kobane, Syria. — stop
PRÄPARIERSAAL : tonspule
sierra : 2.36 — Tonspule 68. Michael erzählt: > Ich beobachte, dass ich meinen lebendigen Körper mit dem toten Gewebe vor mir auf dem Tisch vergleiche. Ich lege Nerven, Muskeln und Gefäße einer Hand frei, bestaune die Feinheit der Gestaltung, überlege wie exakt das Zusammenspiel dieser anatomischen Strukturen doch funktionieren muss, damit ein Mensch Klavier spielen, greifen, einen anderen Menschen streicheln kann, wie umfassend die Innervation der Haut, um Wärme, Kälte, verschiedene Oberflächen erfühlen, ertasten zu können. Immer wieder pendelt mein Blick zwischen meiner lebendigen und der toten Hand hin und her. Ich bewege meine Finger, einmal schnell, dann wieder langsam, ich schreibe, ich notiere, was ich zu lernen habe, bis zur nächsten Prüfung am Tisch, und beobachte mich in diesen Momenten des Schreibens. Abends treffen wir uns in der Bibliothek hier gleich um die Ecke und lernen gemeinsam. Vor allem vor den Testaten werden die Nächte lang. Ich kann zum Glück gut schlafen. Unsere Assistentin ist eine junge Ärztin, die noch nicht vergessen hat, wie es für sie selbst gewesen war im Saal. Sie ist immer sehr warm und freundlich zu uns. Aber natürlich achtet sie streng auf die Einhaltung der Regeln, kein Handy, kein Kaugummi im Mund, angemessene Kleidung. Manchmal versammelt sie uns und wir proben am Tisch stehend das nahende Testat, es gibt eigentlich kaum einen Tag, da wir nicht von ihr befragt werden, das erhöht natürlich unsere Aufmerksamkeit und Konzentration enorm. Einmal erzählte sie uns eine Geschichte, die mich sehr berührte. Sie sagte, ihre Mutter sei sehr stolz, dass sie eine Ärztin geworden ist. Sie habe ihr eingeschärft: Was Du gelernt hast, kann Dir niemand mehr nehmen. Aber natürlich, als wir die feinen Blutgefässe betrachteten, die unser Gehirn mit Sauerstoff versorgen, wurde mir bewusst, dass wir doch auch zerbrechlich sind, dass unser Leben sehr plötzlich zu Ende gehen kann. Im Moment will ich daran aber nicht denken. Ich bin froh hier sein zu dürfen, ich habe lange darauf gewartet. Manchmal gehe ich durch den Saal spazieren. Wenn ich Lungenflügel betrachte, oder Herzen, oder Kehlköpfe, Lage und Verlauf einzelner Strukturen, dann erkenne ich, dass im Allgemeinen alles das, was in dem einen Körper anzutreffen ist, auch in dem anderen entdeckt werden wird, kein Körper jedoch ist genau wie der andere, damit werde ich in Zukunft zu jederzeit rechnen. — stop