Aus der Wörtersammlung: marie

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sequenz

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echo : 6.08 — Ich beob­ach­te mei­nen Fern­seh­bild­schirm. Er ist so flach, dass ich mei­ne, das beweg­te Bild, wel­ches er emp­fängt, müss­te trans­pa­rent sein wie ein Schmet­ter­lings­flü­gel. Ich könn­te in die­ser Vor­stel­lung durch das Zim­mer lau­fen, um jene Sequen­zen, die von Kriegs­vor­be­rei­tun­gen, von chir­ur­gi­schen, begrenz­ten Luft­schlä­gen erzäh­len, von der ande­ren Sei­te her zu betrach­ten. Erin­ner­te mich an Boh­u­mil Hra­bal, von dem berich­tet wird, er wür­de bevor­zugt hin­ter sei­nem Fern­seh­ge­rät Platz genom­men haben. Das muss zu einer Zeit gewe­sen sein, als Bild­schir­me in den Rah­men mons­trö­ser Appa­ra­tu­ren hock­ten, Röh­ren­bild­schir­me genau­er, die noch explo­die­ren konn­ten. Indem Hra­bal sei­nen Bild­emp­fän­ger von hin­ten betrach­te­te, han­del­te er mit dem Aus­druck äußers­ter Ver­wei­ge­rung, er saß dort und konn­te sich dar­auf ver­las­sen, kei­nes der emp­fan­ge­nen Bil­der sehen zu kön­nen, er war genau dort hin­ter jener Maschi­ne, die die Bil­der erzeug­te, vor den Bil­dern sicher. Viel­leicht hat­te er über­dies das Fern­seh­ge­rät aus­ge­schal­tet, ich weiß es nicht, gern wür­de ich ihn fra­gen, ihm erzäh­len, wie ich das mache in die­sen Tagen, da ich mir zuneh­mend sicher bin, Lüge von Halb­wahr­heit oder Wahr­heit unter­schei­den zu kön­nen. Wirk­lich, wahr­haf­tig ist die­ses selt­sa­me, schmer­zen­de Gefühl, das ich bei dem Gedan­ken emp­fin­de, man soll­te Herrn Putin unver­züg­lich ver­haf­ten. Es ist ein zufrie­de­nes, zustim­men­des Gefühl, ein Reflex, wie ich so in mei­ner fried­li­chen, siche­ren Woh­nung sit­ze, eine Tas­se Kaf­fee in der Hand. Bald wan­de­re ich in die Küche und bra­te mir einen Fisch, eine klei­ne Dora­de. Ich höre die Stim­men der Kom­men­ta­to­ren vom Arbeits­zim­mer her, die wei­ter spre­chen, obwohl ich nicht da bin. Und ich höre den Regen, es reg­net tat­säch­lich, dann hört es wie­der auf. Vögel flie­gen vor­über. Auf der Schei­be eines Fens­ters sitzt ein Mari­en­kä­fer und nascht von den Res­ten einer Wes­pe, die ich einen Tag zuvor töte­te, weil sie sich in der Dun­kel­heit mei­nem Bett näher­te. — Das Radio erzählt, die Künst­le­rin Sasha Skoch­i­len­ko sei in St. Peters­burg inhaf­tiert, weil sie auf Preis­schil­der Nach­rich­ten vom Krieg in der Ukrai­ne notier­te. — stop

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auf dem bildschirm

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nord­pol : 3.55 UTC — Phil­ip Roth, der in einem Gespräch von einem Bild­schirm aus erzählt, ein Schrift­stel­ler müs­se los schrei­ben, dür­fe sich nicht beschrän­ken, vor allem nicht sei­ne Spra­che. — Kurz vor Däm­me­rung. Sechs Mari­en­kä­fer haben in die­ser Nacht zu mir gefun­den. Wie sie geräusch­los über schnee­weis­se Wän­de lau­fen, immer wie­der kurz sit­zen, dann wei­ter, dann wie­der sit­zen, viel­leicht schla­fen. — stop
ping

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lebenszeichen

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india : 11.28 UTC — Da sind Ther­mo­me­ter­werk­zeu­ge, 5 + 1, zur Mes­sung der Tem­pe­ra­tu­ren eines Zim­mers. Und fla­ckern­des Regen­licht, das von den Fens­tern her kommt. Ein Com­pu­ter­bild­schirm, in dem sich der Com­pu­ter selbst befin­det, zuletzt vor fünf Jah­ren ange­schal­tet. Auf dem Schreib­tisch ruhen ana­to­mi­sche Bücher, gedruckt in den 20er Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts, bit­te­rer Duft steigt auf, sobald sie geöff­net sind. Das Hand­buch eines Opel-Rekord und eine Blech­do­se, drin sind Lie­bes­brie­fe: Mei­ne Liebs­te, wie ich mich nach Dir seh­ne! Eine Zigar­ren­schach­tel wei­ter­hin vol­ler Brief­mar­ken des deut­schen Rei­ches, die der Jun­ge noch sam­mel­te. Ein Kin­der­buch: Zwei Pin­gui­ne win­ken. Ein Gerät, das den Strom zu ver­mes­sen ver­mag, haar­dün­ner Zei­ger. Eine Kar­te der Stadt Lis­sa­bon und Fahr­kar­ten einer Stra­ßen­bahn, die in Lis­sa­bon noch immer anzu­tref­fen ist. Zwei Men­schen waren dort, die Lis­sa­bon lieb­ten. Dem Jun­gen, der Lis­sa­bon spä­ter ein­mal lie­ben soll­te, gehör­ten zwei Schul­bü­cher, er wird spä­ter ein Dok­tor der Phy­sik und ein Ver­eh­rer And­rei Sacha­rows. Sein Vater war Arzt gewe­sen, des­halb auch Skal­pel­le auf rotem Samt und eine Schach­tel, in wel­cher sich Objekt­trä­ger befin­den. Dort Spu­ren, die gelb­lich schim­mern. Und Dioden und Wider­stän­de und Rechen­ker­ne auf Pla­ti­nen geschraubt. Auch Luft­post­brie­fe, die ein jun­ger Stu­dent an sich selbst oder sei­ne Gelieb­te notier­te, da waren sie noch nicht nach Lis­sa­bon gereist, präch­ti­ge Mar­ken und Stem­pel und Son­der­wert­zei­chen der Bal­lon­post zu einer Zeit, als Express­brie­fe noch durch Eil­bo­ten zuge­stellt wor­den waren. Eine Film­do­se und noch eine Film­do­se, die man nicht wagt im Regen­licht zu öff­nen. Auf einem Dia ist sehr klein eine jun­ge Frau zu erken­nen, die vor dem World Trade Cen­ter in New York steht. Sie ist dem Auge ihres Soh­nes sofort bekannt. In einer Klad­de ver­schnürt, Blät­ter eines Her­ba­ri­ums: Schlüs­sel­blu­me von Blei­stift­be­schrif­tung umge­ben, das war alles notiert am 24. VIII 1904. Auch zwei Funk­an­ten­nen wie Füh­ler eines Insek­tes ohne Strom. Eine Post­kar­te ist da noch und immer noch Regen drau­ßen vor den Fens­tern. Auf der Post­kar­te steht in gro­ßen Buch­sta­ben rot umran­det ver­merkt: Lebens­zei­chen von L.K. aus der Brau­bach­stra­ße / 8. II. 44: Mei­ne Lie­ben! Wir sind gesund und unbe­schä­digt. Marie & Fami­lie. — stop

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coccinellidae

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del­ta : 12.08 UTC — Freu­de am Abend ges­tern wie Kind als aus dem Dun­kel vor dem geöff­ne­ten Fens­ter ein Flug­we­sen tauch­te. In dem Augen­blick, da es erschien, leg­te ich gera­de eben ein Buch zur Sei­te, als hät­te ich geahnt, dass etwas Außer­ge­wöhn­li­ches gesche­hen wird. Ein Mari­en­kä­fer saß kurz dar­auf an der Wand, wur­de von war­mem Atem begrüßt und mit­tels einer Lupe betrach­tet. Der Käfer duck­te sich, ein Jung­tier oder halb ver­hun­gert. — 8 Uhr 28, noch 32° Cel­si­us im Zim­mer unter dem Dach. Nichts wei­ter. — stop
ping

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abend mit fliege no 1

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alpha : 22.45 UTC — Selt­sam ist das mit den Flie­gen gewor­den, den Fal­tern, den Käfern. Frü­her noch an war­men Som­mer­aben­den, sobald ich mei­ne Fens­ter öff­ne­te, waren unver­züg­lich, als hät­ten sie gewar­tet, dut­zen­de Tie­re in mei­ne Woh­nung geflo­gen, saßen auf und in Lam­pen­schir­men, spa­zier­ten über Bild­schir­me der Schreib­ma­schi­nen und des Fern­seh­ge­rä­tes, hock­ten an den Wän­den, besuch­ten mei­ne unbe­klei­de­ten Bei­ne und Arme, Stirn auch und mei­ne Hän­de, wäh­rend sie mit den Tas­ten arbei­te­ten. Auch an die­sem Abend könn­ten sie mich besu­chen, es scheint jedoch, als wäre nie­mand da drau­ßen oder nur sehr weni­ge Käfer, die Mari­en­kä­fer sind. Wenn ich an die­sem Abend von einem Zim­mer ins ande­re gehen wür­de, indes­sen eine Flie­ge mich in Kopf­hö­he beglei­te­te, wäre sie in genau dem Augen­blick, da ich ihre Exis­tenz mit mei­nen Wör­tern ver­zeich­ne, eine erfun­de­ne Flie­ge. — stop

ping

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st. elena

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sier­ra : 22.12 UTC — Am Bug sit­zen bei schwe­rem See­gang. Das gisch­ti­ge Meer­was­ser fliegt durchs neb­li­ge Licht wie Milch. Men­schen, die das Vapo­ret­to betre­ten, damp­fen, dass die Schei­ben beschla­gen. Eine jun­ge Frau dreht pfei­fend einen roten Regen­schirm im Wind. Ich denk mir die Geräu­sche des Regens aus, die unter dem Dröh­nen der Vapo­ret­to­mo­to­ren unhör­bar sind. Aber das Quiet­schen der Gum­mi­stie­fel. Trug Schwar­ze oder Gel­be als Kind. Heut­zu­ta­ge exis­tie­ren sie in allen mög­li­chen Far­ben. Auch Male­rei ist auf­ge­tra­gen, alte Meis­ter, der Früh­ling, Punkt­zeich­nun­gen der Mari­en­kä­fer, Mus­ter in allen mög­li­chen Far­ben. Ein Mann zeigt sei­ner Gelieb­ten einen fin­ger­lan­gen Nas­horn­kä­fer von Glas, er hält das schim­mern­de Wesen in die Luft, eine Vor­stel­lung in die­sem Moment, da wir uns wie­der dem Land nähern, die Vor­stel­lung auch eines Glas­blä­sers, irgend­wo müs­sen die­se wah­ren Künst­ler glü­hen­den, schmel­zen­den San­des noch heim­lich ihre Backen plus­tern wie Trom­pe­ten­spie­ler. Genau dort scheint eine Ver­bin­dung zu exis­tie­ren von der Musik zu den Nas­horn­kä­fern, die in Samm­lun­gen welt­weit gena­delt sit­zen. — stop

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luftgesellschaft

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nord­pol : 0.05 UTC — Irgend­et­was fehl­te, oder jemand. Ein Gefühl zunächst, ich begann zu zäh­len. Ich zähl­te von 23 Uhr bis Mit­ter­nacht fol­gen­de Besu­cher, die durch mein geöff­ne­tes Fens­ter licht­wärts flo­gen: Zwei klei­ne Flie­gen, eine grün, die ande­re bläu­lich schim­mernd. 3 Mari­en­kä­fer, rot, je 5 Punk­te. 1 Fal­ter, der mir ein Tag­fal­ter zu sein schien, er war aus dem Fens­ter hin­aus, ehe ich ihn unter­su­chen konn­te. 2 fast durch­sich­ti­ge Wesen von hel­lem Grün, die mir bekannt gewe­sen, weil ich mich seit Jah­ren sobald ihre Art an den Wän­den mei­ner Zim­mer zit­ternd ein­ge­trof­fen ist, beob­ach­tet füh­le. Zuletzt 1 Wes­pe. Es ist Ende Juli, und es ist warm und schwül. — stop

ping

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nach dem zug

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echo : 22.02 UTC — Men­schen, die glück­li­che Men­schen sind, gehen im Grun­de zunächst davon aus, dass sie von ande­ren Men­schen ver­stan­den, prä­zi­se, dass sie nicht miss­ver­stan­den wer­den, ich mei­ne in dem Sin­ne, dass Ver­stän­di­gung mög­lich ist, ent­we­der sofort, auf der Stel­le noch, oder mit­tels einer Nach­fra­ge kon­struk­ti­ve Ver­stän­di­gung letzt­end­lich gelingt, sagen wir Zivi­li­sa­ti­on, die nun auch in Mit­tel­eu­ro­pa bedroht wird von Per­so­nen, die auf ihr Land stolz sein wol­len in einer Wei­se, die Men­schen frem­der Spra­chen her­ab­setzt. — Am Mari­en­platz ver­liess ich den Zug. Ich stand unter War­ten­den, war­te­te selbst, beob­ach­te­te den Bahn­steig, auf dem war­ten­de Men­schen sich dräng­ten. Sie stan­den sehr nahe an der Bahn­steig­kan­te. Als der Zug ein­fuhr, dach­te ich, wäre ich ein Lok­füh­rer, wür­de ich in die­ser Situa­ti­on mei­ne Augen schlie­ßen. — stop

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korken

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del­ta : 0.15 UTC — Das waren Zei­ten, als wir noch Kin­der waren, die unter frei­em Him­mel mit Flug­dra­chen spiel­ten. Wie wir durch die Wäl­der kro­chen, um Kno­chen zu sam­meln. Ein Bild zeigt mich in kur­zen Hosen, wie ich einen Erd­ap­fel über offe­nes Feu­er hal­te, ich sam­mel­te Brief­mar­ken, Schmet­ter­lin­ge, Stei­ne und Kron­kor­ken, liess Seil­bah­nen über Bind­fä­den fah­ren von Haus zu Haus. Heu­te sam­me­le ich ger­ne Geschich­ten von Kie­men­men­schen, höl­zer­ne Ele­fan­ten oder Mari­en­kä­fer, die nachts schla­fend an war­men Lam­pen­schir­men sit­zen. — stop

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von stimmen

pic

del­ta : 18.12 UTC — Ich habe lan­ge Zeit über das Bild der Kehl­köp­fe nach­ge­dacht, wie sie in einem ana­to­mi­schen Prä­pa­rier­saal durch die Luft flie­gen als wären sie Vögel. Wann die­ses Bild zum ers­ten Mal auf­tauch­te, weiß ich nicht. Viel­leicht wäh­rend eines Spa­zier­gan­ges über den alten Münch­ner Fried­hof St. Georg. Ich stand vor Liesl Karl­stadts Grab, plötz­lich hör­te ich ihre Stim­me, die von irgend­wo her aus den Kas­ta­ni­en­bäu­men in nächs­ter Nähe zu kom­men schien. Oran­gen­far­be­ne Blü­ten, Fuchs­köp­fen ähn­lich, lun­ger­ten auf dem klei­nen Karl­stadt­hü­gel. Blaue Füh­ler­kä­fer hetz­ten über san­di­gen Boden. Wald­bie­nen, Moo­shum­meln, Rau­pen­flie­gen, es sirr­te und brumm­te in allen mög­li­chen Tönen. Auf dem Gedenk­stein für Rai­ner Wer­ner Fass­bin­der hock­te ein Mari­en­kä­fer von Holz, der Schirm eines Fächer­ahorns spen­de­te Schat­ten. Auch an Fass­bin­ders Stim­me konn­te ich mich sofort erin­nern, ohne einen kon­kre­ten Satz aus sei­nem Mun­de zu ver­neh­men. Es war ganz so, als wür­den die Stim­me in mei­nem Kopf eine Stim­me simu­lie­ren. Erich Käst­ner aller­dings war mir ent­we­der abhan­den gekom­men oder ich habe sei­ne Stim­me tat­säch­lich noch nie in mei­nem Leben gehört. Aber den Sedl­mayr, Wal­ter, erin­ner­te ich unver­züg­lich und auch die ange­nehm war­me Stim­me Bernd Eichin­gers, der so plötz­lich gestor­ben war. Som­mer­fä­den schweb­ten durch die Luft. Das Rascheln der Eich­hörn­chen unterm Efeu. Über mir ein blau­grau­er, blit­zen­der Him­mel. Es duf­te­te nach Zimt, war­um? — stop / koffertext 

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