ginkgo : 12.08 — In einem mehrstündigen, äußerst strapaziösen Versuch, Gedanken auszutauschen mit Menschen, die eine Twitterhöllenkammer befeuern, habe ich Folgendes gelernt. Es ist nämlich so, dass in der Vorstellung dieser Menschen bald Ankerzentren existieren werden, umzäunte Gebiete, die Personen beherbergen, Personenmenschen, welche aus dem Süden bereits zu uns gekommen sind oder furchtbarer Weise noch kommen werden. Weiterhin habe ich bemerkt, dass Menschenpersonen, die sich in jenen umzäunten und bewachten Gebieten zwangsweise aufhalten sollten, in der Wahrnehmung der Höllenkammerbewohner immerzu jung sind und gesund und Männer. Man vermutet, dass diese männlichen Menschenpersonen möglicherweise schwächere Menschen auf hoher See vorsätzlich von Bord gestoßen haben könnten, vorwiegend Kinder und Mädchen, das ist selbstverständlich reine Behauptung, die durch stetige Wiederholung in der Höllenkammer stetig zur Gewissheit wird. Diese jungen Männer nun, sie sind sehr häufig von schwarzer oder dunkler Haut bedeckt, sollen außerdem über finanzielle Mittel gebieten, die ihre Flucht oder Reise überhaupt erst möglich machten, sie seien also, so erzählt man, weder arm noch in irgendeiner Weise hilfsbedürftig, sie würden beileibe nicht südlichen Hungergebieten entkommen oder vor Bürgerkriegen geflohen sein, vielmehr sollen sie von irgendwoher angereist sein wie aus dem Nichts, um auf Kosten verarmter Ureinwohner in der Mitte Europas Mischbevölkerung zu erzeugen. Weil sie sich sorgfältig kleiden, weil sie über Telefone gebieten, weil sie mitnichten ausgehungerte Elendsgestalten sind, werden sie verdächtigt, gut organisierte Ankermenschen zu sein, Vorhut oder Schlimmeres. Ja, so in dieser Art und Weise wird vorgestellt, wird ausgedacht, wird Gewissheit erzeugt. Ich stelle fest: Menschen, die keine Menschenpersonen, sondern Patrioten sind, Menschen, die in dieser skizzierten Gewissheit leben, sind empfindlich, sind wütend, sobald man sich mittels Wörtern fragend nähert. Sie schreiben unverzüglich zurück, dass man den Fragenden selbst sehr gerne pfählen würde bei lebendigem Leibe, erschießen, nach Afrika verjagen, da doch der Fragende ein linker Faschist sei, ein Antisemit, ein Mitvergewaltiger, das Böse schlechthin. stop. Die Sonne ist rund. — stop
Aus der Wörtersammlung: efeu
vom suchen und finden
zoulou : 15.01 UTC — Das Suchen nach Gegenständen in Gärten, oder das Suchen nach Menschen in Wäldern oder Parklandschaften, wo sie sich freiwillig versteckten, Vergnügen, Freude, Glück, wie das Suchen nach Büchern oder Zitaten in Antiquariaten, die zum Zeitpunkt der Suche noch nicht digitalisiert worden waren. Einmal hörte ich eine Freundin an ihrem 85. Geburtstag, wie sie sich nach ihrer Brille erkundigte. Ich wusste genau, wo sich die Brille in dem Moment ihrer Frage aufgehalten hatte, aber meine alte Freundin schimpfte, während sie nach ihrer Brille suchte, so freundlich vor sich hin, und erzählte Geschichten, die sie entdeckte, obwohl sie doch nach ihrer Brille suchte, dass ich mir ein wenig Zeit ließ, um ihr zu sagen, wo sie ihre Brille sofort finden könnte. Ich erinnere mich, wie ich als Kind einen Wald durchsuchte, in dem ein weiterer, etwas kleinerer Wald enthalten war, ein Efeudschungel nämlich, es war ein feuchtwarmer Tag und die Luft duftete nach Löwenmäulchen. Anstatt der erwarteten Schneckengehäuse, fand ich eine Herde goldbrauner Frösche vor, die sich vermutlich über mein Erscheinen wunderten. Vor drei Tagen bemühte ich mich längere Zeit um die Erfindung einer Telefonnummer, die in der Stadt Chicago vorkommen könnte, aber garantiert nicht existiert. Und noch heute, vor drei Stunden, suchte ich nach einer größeren oder kleineren Stadt, in der folgende Adresse existiert: im Schnee 10. Obwohl ich zahlreiche, auch spezielle Suchmaschinen verwendete, war ich nicht erfolgreich gewesen. Ich sollte vielleicht sagen, dass manchmal wunderbar ist, nicht zu finden, was man sucht, es könnte dann reine Erfindung sein. — stop
von stimmen
delta : 18.12 UTC — Ich habe lange Zeit über das Bild der Kehlköpfe nachgedacht, wie sie in einem anatomischen Präpariersaal durch die Luft fliegen, als wären sie Vögel. Wann dieses Bild zum ersten Mal auftauchte, weiß ich nicht. Vielleicht während eines Spazierganges über den alten Münchner Friedhof St. Georg. Ich stand vor Liesl Karlstadts Grab, plötzlich hörte ich ihre Stimme, die von irgendwo her aus den Kastanienbäumen in nächster Nähe zu kommen schien. Orangefarbene Blüten, Fuchsköpfen ähnlich, lungerten auf dem kleinen Karlstadthügel. Blaue Fühlerkäfer hetzten über sandigen Boden. Waldbienen, Mooshummeln, Raupenfliegen, es sirrte und brummte in allen möglichen Tönen. Auf dem Gedenkstein für Rainer Werner Fassbinder hockte ein Marienkäfer von Holz, der Schirm eines Fächerahorns spendete Schatten. Auch an Fassbinders Stimme konnte ich mich sofort erinnern, ohne einen konkreten Satz aus seinem Munde zu vernehmen. Es war ganz so, als würden die Stimme in meinem Kopf eine Stimme simulieren. Erich Kästner allerdings war mir entweder abhandengekommen oder ich habe seine Stimme tatsächlich noch nie in meinem Leben gehört. Aber den Sedlmayr, Walter, erinnerte ich unverzüglich und auch die angenehm warme Stimme Bernd Eichingers, der so plötzlich gestorben war. Sommerfäden schwebten durch die Luft. Das Rascheln der Eichhörnchen unter dem Efeu. Über mir ein blaugrauer, blitzender Himmel. Es duftete nach Zimt, warum? — stop / koffertext
zebraaffen
whiskey : 0.01 — Ich sollte einen Brief schreiben. Der Inhalt des Briefes wäre bedeutungslos, weswegen ich auf ein Schriftstück im Umschlag verzichten könnte. Ich werde per E‑Mail Folgendes notieren: Lieber L., in wenigen Tagen, wenn alles gut gegangen sein wird, wirst Du einen Brief erhalten. Sollte Dich der Brief tatsächlich erreichen, musst Du ihn nicht öffnen, das Kuvert ist leer. Würdest Du mir bitte den Empfang des Briefes bestätigen. Ich wäre Dir dankbar, es ist ein Versuch. Ja, so werde ich notieren, den Brief sorgfältig adressieren, auch mein Absender wird nicht fehlen. Ich stelle mir vor, einen größeren Briefumschlag zu verwenden, ich werde 1 gültiges Postwertzeichen befeuchten und auf dem Brief befestigen. Von diesem gültigen Postwertzeichen abgesehen, werden 25 weitere Postwertzeichen auf dem Umschlag zu finden sein, sagen wir Briefmarken, die Giraffen und Fische zeigen, Schmetterlinge, Zebraaffen, Vögel, Insekten. Diese Briefmarken ferner Länder, die ich von weiteren Briefen löste, werden natürlich bereits gestempelt sein, man könnte sagen, dieser Brief wird geschrieben werden, um die Sorgfalt der Behörden zu probieren. — stop
tintenfinger
lima : 0.55 — Mit dem langsamen Verschwinden der Briefe flüchten unsere Postwertzeichen in Schachtelbehälter, in Alben, in Museen, kostbare, bunte Wesen von Papier, die wir noch mit unseren Zungen befeuchteten, um sie mit Briefumschlägen für immer zu verbinden. Auch Gesten, die den Briefen zugeordnet sind, werden sich nach und nach verlieren. Die Geste des Zerreißens beispielsweise, oder die Geste des Zerknüllens. Wann habe ich zuletzt beobachtet, wie der Empfänger eines Briefes sich dem geöffneten Dokument mit der Nase näherte, um von der Luft der geliebten schreibenden Person zu atmen, die mit dem Brief gereist sein könnte? Verloren die Abdrücke der Tintenfinger, die Ränder einer Briefseite zierten, verloren auch das feine Geräusch der Skalpelle, indem sie teilend durch das seidene Futter der Kuvertkoffer ziehen. Ein absurder Gedanke möglicherweise, wie ich den E‑Mailbrief einer Behörde, der mich zornig werden lässt, ausdrucke, wie ich ihn in einen Umschlag stecke, wie ich ihn für einige Sekunden in Händen halte, wie ich mich konzentriere, wie ich den Brief genussvoll in winzige Teile zerlege. — stop
kontrabass
romeo : 6.15 — Das warme Licht, das im Holz der Kontrabässe brennt, ein Glühen, in das ich vernarrt bin, soweit ich zurückdenken kann? Die Schuhe eines uralten Bassisten, wie sie vor dem kleinen Jungen sehr fest auf dem Boden einer Kellerbühne stehen, während die Welt drumherum aufgewühlt ist, schwarze, spiegelblanke Schuhe, und irgendwo, weit oben am Schneckenturm, dunkle Hände, die wie Echsen über Holz und kupferne Seile springen. Mein seltsam fühlender Bauch. Wunderte mich, dass sie miteinander sprechen, während sie spielen, lachen, spaßen, sich befeuern und beim Namen nennen. Hört ich nicht gerade noch Thelonius Sphere Monks Stimme wie er im Jahre 1957 : Coltrane! Coltrane! ruft? — Welches Geräusch würde ein Kontrabass von Eis erzeugen? — stop / koffertext
zitronengelb
charlie : 7.08 — Über meinen Großvater, den ich nie persönlich kennengelernt habe, ist mir nicht sehr viel bekannt. Er soll ein warmherziger Mensch gewesen sein, der als Beamter der Stadt München in ein kleines Bürozimmer versetzt worden war, das im Winter nicht beheizt werden konnte. Mein Großvater wollte nicht in die Partei eintreten, deshalb musste er frieren, deshalb war er oft krank gewesen. Die Familie, meine Mutter war ein Mädchen von damals fünf oder sechs Jahren, bewohnte eine kleine Wohnung in einem nördlichen Stadtteil. Sie waren dort zu fünft, die Eltern und ihre drei Töchter. In der Küche der Wohnung im zweiten Stock war Parkettfußboden verlegt, keine Selbstverständlichkeit für diese Zeit. Wenn Bomben ins Münchener Zentrum fielen, zitterte in Moosach der Boden und die Hölzer des Parketts hüpften wie Frösche herum. Vor einem Spiegel steht mein Großvater. Er rasiert sich mit zitternden Händen. Er hat Zucker und kein Insulin. Er ist immer sehr durstig und spricht vom Durchhalten wegen der Rente. Vor allem ist sein Gesicht so gelb wie eine Zitrone. Diese Vorstellung habe ich einer Erzählung meiner Mutter unlängst entnommen, die ich hörte, als wir über den Nordfriedhof gingen, um das Grab der Großmutter und des Großvaters zu besuchen. Bald wird das Grab verschwunden sein, aber die Knochen bleiben im Boden zurück. Zum Zeitpunkt unseres Besuches war alles anwesend, wie früher noch, als ich selbst, ein Kind, an Sonntagen vor das Efeugrab getreten war. Einmal stand ich dort in blauen Sandalen. Auf dem Grabstein spazierte eine Schnecke. Sie legte eine Bleistiftstrecke zurück, dann blieb sie sitzen und schlief in der warmen Herbstsonne ein. — stop
ein gewehr für kinder
delta : 6.16 — Irgendwann einmal muss ich davon gehört haben, dass es in Amerika möglich ist, Gewehre für Kinder zu kaufen. Diese Gewehre sind ihrer Gestalt nach den Gewehren der Erwachsenen äußerst ähnlich, aber sie sind kleiner und bonbonfarben und vermutlich auch leichter. Das Seltsame ist, dass diese Kindergewehre ebenso wirkungsvoll sind, wie die Gewehre der Erwachsenen. Wenn ein Kind mit einem Kindergewehr einen Schuss auf ein anderes Kind abfeuern will, zum Beispiel auf dessen Kopf, oder versehentlich ein Schuss sich lösen sollte, wird das schießende Kind bemerken, dass das beschossene Kind zu Boden fällt und heftig blutet, vermutlich aus einem Loch, das sehr plötzlich in seiner Schädeldecke entstanden ist. Es liegt dann bebend einfach so da auf dem Teppich eines Zimmers oder im Garten unter einer blühenden Magnolie oder auf einer Straße, die von weinroten Blättern bedeckt ist, weil der tödliche Schuss zur Herbstzeit abgefeuert wurde. Verwundert, vielleicht schon weinend, wird das Kind, das die Folgen des Schusses betrachtete, in die Küche oder ins Schlafzimmer stürmen, wo die Mutter einerseits schläft oder andererseits gerade das Mittagessen zubereitet. Vielleicht hat die Mutter den Schuss selbst gehört und kommt ihrem bitteren Kind entgegen, beide haben ihre Augen weit geöffnet. Das Kind, das an den Bauch der Mutter stürmt, will vermutlich getröstet werden, es ist ja noch nicht einmal zehn Jahre alt, es braucht diesen Trost sehr sicher, weil das andere Kind nicht wieder aufstehen will, weil das gefallene Kind in einer Weise blutet, die nicht üblich ist. Wie dann die Mutter ihrem weinenden Kind folgen wird, wie beide den Ort des Geschehens erreichen, wie die Mutter zu Boden sinkt, wie sie weint und klagt, wie sie mit zitternden Händen den schwer versehrten Leichenkörper betastet, wie sie den Himmel anruft, wie sie selbst kaum noch atmet, hinter ihr stehend das überlebende Kind, das die geliebte Mutter beobachtet. Wie es jetzt zögernd näher kommt, ganz leise, weil es um Himmelswillen die Reparaturarbeiten der Mutter nicht stören will. – stop
atlantikleuchter lH-XL-78
MELDUNG. Atlantikleuchter lH-XL-78 : mobiles Habitat für 12 Exemplare Anglerprachtfisch Antennarius striatus AS-UY [ männlich ] : je 2.08 Watt Lumineszenz : 2 Liter Schwimmraum : Vollmantelpanzerverglasung : Gewicht [ ohne Atlantik ] – 12.2 kg : Befeuerung – 3 g Zwerggarnele Neocaridina var red LT-BN88 [ a 24 h ] : automatischer Druckausgleich [ 105 atm / Tag : 5 atm / Nacht ] : Abdeckung protoplastischer Strahlung durch Hautschirm [ natürlich ] — transparent [ Inid-Code 12564865–38 ] — stop / für meinen Vater
stimmen zu st. georg
echo : 0.28 — Ein Spaziergang über den alten Münchner Friedhof St. Georg. Ich stand vor Liesl Karlstadts Grab, plötzlich hörte ich ihre Stimme, die von irgendwo her aus den Kastanienbäumen in nächster Nähe zu kommen schien. Orangefarbene Blüten, Fuchsköpfen ähnlich, lungerten auf dem kleinen Karlstadthügel. Blaue Fühlerkäfer hetzten über sandigen Boden. Waldbienen, Mooshummeln, Raupenfliegen, es sirrte und brummte in allen möglichen Tönen. Auf dem Gedenkstein für Rainer Werner Fassbinder hockte ein Marienkäfer von Holz, der Schirm eines Fächerahorns spendete Schatten. Auch an Fassbinders Stimme konnte ich mich sofort erinnern, ohne einen konkreten Satz aus seinem Munde zu vernehmen. Es war ganz so, als würden die Stimme in meinem Kopf eine Stimme simulieren. Erich Kästner allerdings war mir entweder abhandengekommen oder ich habe seine Stimme tatsächlich noch nie in meinem Leben gehört. Aber den Sedlmayr, Walter, erinnerte ich unverzüglich und auch die angenehm warme Stimme Bernd Eichingers, der so plötzlich gestorben war. Sommerfäden schwebten durch die Luft. Das Rascheln der Eichhörnchen unter dem Efeu. Über mir ein blaugrauer, blitzender Himmel. Es duftete nach Zimt, warum? Irgendwo in meinem Kopf, ich spürte das genau, muss eine Erinnerung an die Stimme Oskar Maria Grafs zu finden sein. Und wenn ich nun noch zwei oder drei Stunden auf meinem Sofa sitze und lausche in dieser stillen Nacht, wird sie vielleicht hörbar werden. — stop