india : 0.45 UTC — Einmal vor langer Zeit stehe ich vor einer Tür. Ich bin groß genug geworden, um die Klinke der Tür mit einer Hand zu erreichen. Ich versuche die Tür zu öffnen, da ruft Mutter, nicht Louis, Papi arbeitet. Aber das war seltsam, weil das Zimmer hinter der Tür das Badezimmer gewesen war, nicht das Arbeitszimmer, das gab es auch. Mutter sagte: Dein Vater entwickelt Bilder, es muss dunkel, ganz dunkel sein im Zimmer, Du musst etwas warten, mein Schatz, Papi wird bald rauskommen. Ich erinnere mich, dass ich mich auf den Boden legte und unter der Tür zum Badezimmer hindurch spähte. Ich konnte Vaters Radio hören, und ich beobachte rotes Licht, das im Badezimmer leuchtete, sodass ich dachte, das Radio würde vielleicht rot leuchten. Es ist nicht dunkel, sagte ich, Mutter antworte, doch, doch, das ist ich Vaters Dunkelkammer. Vermutlich weil ich erlebte, was ich gerade erzählte, bewirkte, dass ich mit Radioapparaten noch Jahre später rotes Licht in Verbindung brachte. Dann, bald, wurden Radios grün, wegen ihres leuchtenden Auges. Es waren Röhrengeräte. — Vor der Küste des Staates Senegal, so erzählt das Fernsehen, sollen 68 Menschen auf dem Weg nach Europa ertrunken sein. — stop
Schlagwort: kamm
jakob
marimba : 18.18 UTC — Unser Kater hieß Jakob. Er war ein großes Tier, beinahe so groß war Jakob wie ein kleiner Luchs. Er war in Paris geboren worden und reiste bald in einer kleinen Schachtel per Post nach Ferney Voltaire, wo er in einer Wohnung lebte im sechsten Stock. Da war ihm die Welt bald zu klein geworden, weswegen er lernte mit dem Aufzug zu fahren. Manchmal hockte Jakob in den Bäumen vor dem Haus. Er machte Geräusche in der Katzensprache zu uns hin, da fuhren wir hinunter, um ihn abzuholen. Ich erinnere mich, dass mein Vater, Jakob, den Kater, nicht annehmen wollte. Eben, eben: Ein Raubtier in einer Wohnung. Er sagte, als er den Spatzenkater, der damals bei seiner Anreise noch so groß gewesen war wie ein Spatz, auf dem Wohnzimmertisch sitzen sah: Nein! Kurz darauf hockte er selbst mit seinem Fotoapparat vor dem Katzentisch. Er beobachtete wie der kleine Jakob mit seinen Tatzen nach noch kleineren Luftfischen angelte, die im Grunde nicht existierten, aber sich wie kleine Fische anfühlten, weil sie von Gas waren, das aus einem Mineralwasserglas hüpfte. Kaum war Vater aus der Dunkelkammer zurück, da war ein Bild entstanden, das Jakob noch lange Zeit zeigte, nachdem er längst nicht mehr existierte nach 24 Jahren Katzenzeit. Er kann bleiben, sagte Vater. Wie soll er heißen? — stop
dunkelkammer
echo : 0.06 UTC — Ich stehe vor einer Tür. Ich bin groß genug geworden, um die Klinke der Tür mit einer Hand zu erreichen. Ich versuche die Tür zu öffnen, da ruft Mutter, nicht Louis, Papi arbeitet. Aber das war seltsam, weil das Zimmer hinter der Tür das Badezimmer gewesen war, nicht das Arbeitszimmer, das gab es auch. Mutter sagte: Dein Vater entwickelt Bilder, es muss dunkel, ganz dunkel sein im Zimmer, Du musst etwas warten, mein Schatz, Papi wird bald rauskommen. Ich erinnere mich, dass ich mich auf den Boden legte und unter der Tür zum Badezimmer hindurch spähte. Ich konnte Vaters Radio hören, und ich beobachte rotes Licht, das im Badezimmer leuchtete, sodass ich dachte, das Radio würde vielleicht rot leuchten. Es ist nicht dunkel, sagte ich, Mutter antworte, doch, doch, das ist ich Vaters Dunkelkammer. Vermutlich weil ich erlebte, was ich gerade erzählte, bewirkte, dass ich mit Radioapparaten noch Jahre später rotes Licht in Verbindung brachte. Dann, bald, wurden Radios grün, wegen ihres leuchtenden Auges. Es waren Röhrengeräte. — stop
im quarantänegarten
echo : 20.25 UTC — Der Wind fuhr heut mit Regenkamm übers Dach. Ich dachte an das Haus im Süden wo Mutter und Vater nicht mehr sind. Wie seltsam doch die Betrachtung der Kleider verschwundener Menschen. Schuhe. Schals. Hemden. Schmuck. Und der Garten, wie er wild wird, sobald man nicht immerzu an ihn denkt. Ein Teich, der weniger zu werden droht vom Schilf, von den Schneckenpanzern, vom Laub, von den Häuten der Libellenlarven. Wie viel die alten Menschen noch gearbeitet haben in ihrem hohen Alter wird hier unter den Bäumen sichtbar. Die Schuhe, ich fotografierte Schuhe. In einer Handtasche entdeckte ich Reiseproviant, Mutters Müsliriegel, Traubenzucker, Tempotaschentücher, Prospekte, einen Regenschirm, ein Halstuch, einen Lippenstift. Der Schmerz, der mir wie ein Blitz durch den Körper fährt, sobald ich daran denke, dass ich die alte Dame in ihrem Bett liegend nicht besuchen könnte in diesen Tagen, die Wochen sind, Monate, halbe oder ganze Jahre, als wär sie noch da. — stop
22 Uhr 12
lima : 22.12 — Seit gestern Abend spät ist mir das unheimliche Wort “Gefechtstote” bekannt. Wie viele unheimliche Wörter werden in dieser Minute oder während der kommenden Woche erfunden und solange in Echokammern wiederholt sein, bis wir gezwungen sein werden, sie in unsere Wörterbücher aufzunehmen? — stop
kleiner mann
nordpol : 18.16 UTC — Eine Sammlung von Kerzen am Ende eines Bahnsteiges, Sammlung von Rosen, Nelken, Tulpen, hunderte Sträuße und Briefe in allen möglichen Farben und Sprachen: Mach’s gut, kleiner Mann! Immer wieder dieser Satz, es leuchtet auch am Tag, und Menschen erscheinen oder bleiben stehen. Sie sind still, weil ein Kind von einem Zug überfahren wurde, weil ein verwirrter Mann das Kind vor einen Zug gestoßen hatte, ein Mann, der in Afrika geboren wurde, weswegen auch sehr böse Personen immer wieder einmal böse Sätze über Hautfarben und Menschen aus der Fremde sagen. Meist aber ist es still, auch deshalb, weil die Fotoapparate heutzutage Telefone sind, die sich auch wie Fotoapparate benehmen, man hört nicht, wenn sie das Licht einfangen. Es wird viel fotografiert, vielleicht weil es hier berührt, hunderte Teddybären. Eine Frau, sie trinkt aus einer kleinen Flasche Cognac, neben ihrem Rollstuhl kauert ein Hund. Die Frau sieht elend aus, weint: Das arme Kind, sagt sie, und dass die hier fotografieren, das auch noch. Furchtbar ist das. Dann fährt sie davon, sehr dicht an der Bahnsteigkante entlang, Tage später ist vor Ort nichts mehr zu sehen, aber die Bilder in digitalen Kammern, auch vom Jungen, vom kleinen Mann, ein Bild, eine Fälschung. — stop
abu kammash أبو كماش
blau
echo : 22.08 — Roland Barthes bedeutendes Buch Die helle Kammer ist blau. Als ich nach vielen Jahren auf einen Stuhl steige, es regnete noch immer, um nach meiner Ausgabe des kleinen Buches zu suchen, ist es tatsächlich so gewesen. — stop
palanca
echo : 22.52 UTC — Abends von der Vaporettostation Palanca her die Küste nach Zitelle spaziert, dann wieder ein kleines Stück zurück. Es ist bald spät geworden, kurz nach 10 Uhr. Langsam, von Schleppern gezogen, bewegt sich in diesem Augenblick das Personenfrachtschiff Queen Mary 2 durch den Giudecca Canal ostwärts in Richtung des offenen Meeres. Da stehen Menschen weit oben an Deck hinter der Reling, die so klein sind, dass man, ohne ein Fernrohr zu verwenden, nicht zu erkennen vermag, ob sie vielleicht winken, man könnte sie für armlose Wesen halten. Weit links, zur Seite gerückt in den Schatten einer Brüstung, hockt auf einer Stufe der Steintreppe zur Chiesa del Santissimo Redentore hinauf, eine junge Frau, die etwas durcheinander zu sein scheint. Da ist ein Koffer, geöffnet. Sie hat den Inhalt des Koffers, Kleider, Schuhe, einen blinkenden Kamm, und Blusen, auch einen Sommerhut, um sich herum ausgebreitet. Sie sitzt dort im Kreis ihrer Besitztümer wie in einem Nest, trinkt aus einer Flasche Wein, und flucht mittels italienischer Sprache zu dem Schiff hinauf, dass es eine wahre Freude ist. Man wird sie dort oben in der Ferne kaum hören, nur ich vermutlich, der in ihrer Nähe hockt und das Wasser beobachtet, das dunkel schimmert. Es die Zeit der Flut bereits. Das Wasser berührt die Kronen der Quais, da und dort geht es an Land, um über das uralte Pflaster zu züngeln. Eine Gruppe von Ameisenschatten passiert mich westwärts, eine halbe Stunde später kommen sie mit ein paar Brosamen zurück. Beständiges Brummen. Gestern war ein sonniger Morgen gewesen, da wurde ich von einem hellen Pfeifen geweckt. Ich öffnete das Fenster, eine Frau grüßte vom gegenüberliegenden Haus herüber, sie brachte an einem Seil, das ein Rädchen an der Fassade meines Hauses bewegte, gerade feuchte Tücher aus, so haben wir Kinder noch Seilbahnen von Haus zu Haus gezogen. — stop
synopse
ginkgo : 12.08 — In einem mehrstündigen, äußerst strapaziösen Versuch, Gedanken auszutauschen mit Menschen, die eine Twitterhöllenkammer befeuern, habe ich Folgendes gelernt. Es ist nämlich so, dass in der Vorstellung dieser Menschen bald Ankerzentren existieren werden, umzäunte Gebiete, die Personen beherbergen, Personenmenschen, welche aus dem Süden bereits zu uns gekommen sind oder furchtbarer Weise noch kommen werden. Weiterhin habe ich bemerkt, dass Menschenpersonen, die sich in jenen umzäunten und bewachten Gebieten zwangsweise aufhalten sollten, in der Wahrnehmung der Höllenkammerbewohner immerzu jung sind und gesund und Männer. Man vermutet, dass diese männlichen Menschenpersonen möglicherweise schwächere Menschen auf hoher See vorsätzlich von Bord gestoßen haben könnten, vor allem Kinder und Mädchen, das ist selbstverständlich reine Behauptung, die durch stetige Wiederholung in der Höllenkammer nach und nach zur Gewissheit wird. Diese jungen Männer nun, sie sind sehr häufig von schwarzer oder dunkler Haut bedeckt, sollen außerdem über finanzielle Mittel gebieten, die ihre Flucht oder Reise überhaupt erst möglich machten, sie seien also, so erzählt man, weder arm noch in irgendeiner Weise hilfsbedürftig, sie würden beileibe nicht südlichen Hungergebieten entkommen oder vor Bürgerkriegen geflohen sein, vielmehr sollen sie von irgendwoher angereist sein wie aus dem Nichts, um auf Kosten verarmter Ureinwohner in der Mitte Europas Mischbevölkerung zu erzeugen. Weil sie sich sorgfältig kleiden, weil sie über Telefone gebieten, weil sie mitnichten ausgehungerte Elendsgestalten sind, werden sie verdächtigt, gut organisierte Ankermenschen zu sein, Vorhut oder Schlimmeres. Ja, so in dieser Art und Weise wird vorgestellt, wird ausgedacht, wird Gewissheit erzeugt. Ich stelle fest: Menschen, die keine Menschenpersonen, sondern Patrioten sind, Menschen, die in dieser skizzierten Gewissheit leben, sind empfindlich, sind wütend, sobald man sich mittels Wörtern fragend nähert. Sie schreiben unverzüglich zurück, dass man den Fragenden selbst sehr gerne pfählen würde bei lebendigem Leibe, erschießen, nach Afrika verjagen, da doch der Fragende ein linker Faschist sei, ein Antisemit, ein Mitvergewaltiger, das Böse schlechthin. stop. Die Sonne ist rund. — stop