lima : 2.33 UTC — Das Radio erzählt von einem kleinen Jungen, der in einem Krankenhaus in Ägypten Zuflucht fand. Der Jungen verlor im Gazakrieg vor wenigen Wochen beide Beine. Die Beine des Jungen wurden von Splittern einer Bombe abgerissen. Sein Onkel, der ihn begleitete, schenkte ihm eine Puppe. Diese Puppe, so der Onkel, sei eine besondere Art von Puppe, man könne ihre Beine von den Knien abwärts abnehmen und wieder ansetzen. Der Junge will die Puppe nicht haben. Der Junge sagt, er wünsche sich, dass seine Beine bald wieder nachwachsen. — stop
Aus der Wörtersammlung: krieg
on the road
himalaya : 7.12 UTC —Vor wenigen Jahren entdeckte ich Jack Kerouacs Roman On the Road in der ungekürzten Fassung als E‑Book. Ich beobachtete, dass eine Rechenmaschine irgendwo, vermutlich von Nordamerika aus, verzeichnete, welche Zeilen dieses Romans von Lesern oder Leserinnen während ihrer Lektüre markiert worden waren. Eine ausgedehnte, präzise Leserbeobachtung scheint kaum merklich Stunde um Stunde vollzogen zu werden. Ich stellte mir vor, Lichtmaschinen, die von Menschen in der Hand gehalten werden, dokumentieren, wie lange Zeit sich lesende Menschen mit einem bestimmten Text beschäftigen, wie sie den Text studieren, ob sie die Lektüre der ein oder anderen Seite wiederholen, an welchen Textorten ihre Augen innehalten oder ihre Hände über den Bildschirm streichend vorwärts blättern, wie viele Leser sich zunächst mit dem Ende einer Geschichte beschäftigen, ehe sie die erste Seite des Textes öffnen, um nun tatsächlich mit der Lektüre zu beginnen, so wie sich der Autor oder Autorin die Lektüre ihres Textes einmal vorgestellt haben könnten. Dass funkende Bücher Körpertemperaturen messen, Feuchtigkeit, Salze der Hände, welche sie berühren, ist nicht unwahrscheinlich. Man will wissen, weil man es wissen kann, an welcher Stelle des Textes Leser verloren gehen oder von welcher Stelle des Textes an Leser restlos eingefangen sind, ja, das ist denkbar. Guten Morgen. Es ist März, leichter Regen. — Die Welt der Wörter scheint sich der Lage unserer Welt anzugleichen: Vor einigen Tagen bemerkte ich das Wort Areosolbombe. Sollte ich tatsächlich der Registratur meines Wörterspeichers gestatten, Wörter des Krieges zu erlernen, so dass meine Schreibmaschine in der Zukunft des Notierens weder Warn- noch Fehlerhinweise an mich senden würde. — stop
Iannis Xenakis
Die Schönheit
sichtbarer
Musik
geräusche des krieges
sierra : 2.38 UTC — Immer wieder einmal begegne ich im Nachtzug einem Mann, der singt. Der Mann singt sehr leise, kaum jemand scheint sich von seinem Singen gestört zu fühlen. Während er singt, sind seine Augen weit geöffnet, er blickt ins Leere, sein Mund ist geschlossen, Töne, die wir vernehmen, kommen aus seinem Hals heraus, der bebt, wenn er singt. Nur selten habe ich mit dem Mann gesprochen, man kennt sich, man fährt in der Nacht im selben Zug in der selben Richtung, es ist mühsam mit ihm zu sprechen, weil er stottert. Ich darf ihn nicht ansehen, wenn ich ihn nicht ansehe, kommen manchmal ganze Sätze aus seinem Mund. Ich weiß jetzt, dass der Mann in der persischen Stadt Isfahan geboren wurde, Architektur studierte, gegen irakische Männer kämpfte, die jung waren wir er selbst, und dass er nur durch einen Zufall überlebte. Er konnte fliehen. Er floh zu Fuß in die Türkei, eine lebensgefährliche Reise, Sahin, seine Frau, wurde von irgendjemandem angeschossen, er trug sie kilometerweit durchs Gebirge, nahe der Grenze begegneten sie einem Esel, dem ein Bein fehlte. Sie schliefen unter einem Baum ohne Blätter, in der Nacht schleppten sie sich weiter, der Mond war heiß wie die Sonne und auf den Wegen hockten Schildkröten mit blau schimmernden Augen. Manchmal kommen die Geräusche vom Krieg, sie kommen wann sie wollen, dann singt der Mann. – stop
ai : RUSSISCHE FÖDERATION
MENSCH IN GEFAHR : “Die Künstlerin Aleksandra Skochilenko ist wegen “Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die russischen Streitkräfte” (Paragraf 207.3 des Strafgesetzbuchs) zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, weil sie Preisschilder in örtlichen Supermärkten durch Antikriegsinformationen ersetzt hat. Hierbei handelt es sich nicht um eine international als Straftat anerkannte Handlung. Der Straftatbestand beschneidet das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit auf eine Weise, die sowohl den völkerrechtlichen als auch den verfassungsrechtlichen Verpflichtungen Russlands zuwiderläuft. Aleksandra Skochilenko leidet an Zöliakie und einer Herzerkrankung. Ihren Ärzt*innen zufolge benötigt sie deshalb eine angemessene medizinische Betreuung sowie eine streng glutenfreie Diät, die im Strafvollzug nicht möglich ist. Die Künstlerin befindet sich bereits seit mehr als 19 Monaten in Haft. Ihr Gesundheitszustand hat sich im Gefängnis stark verschlechtert, und eine anhaltende Inhaftierung wird dies noch verschlimmern bzw. kann sogar ihr Leben gefährden. Alexandra Skotschilenko ist eine gewaltlose politische Gefangene, die nur aufgrund der Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung inhaftiert ist. Sie muss umgehend und bedingungslos freigelassen werden.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen unter > ai : urgent action
Aleksandra Skochilenko
vor Gericht
undatierte
Fotografie
mensch auf einem fahrrad
romeo : 15.12 UTC — Vielfach bekannt: Ein Kriegsschiff sank im vergangenen Jahr in einem Sturm, der nicht existierte. Gegen 22 Uhr die Nachricht, das Schliff seit tatsächlich untergegangen. Die russische Nachrichtenagentur Tass bestätigte den Untergang des Schiffes, dessen Ende von ukrainischen Nachrichten bereits Stunden zuvor angekündigt worden war. Wirklichkeit existiert als Summe von Nachrichtenereignissen. Und da war eine Strasse, auf der sich dicht an dicht Panzerfahrzeuge reihten. Von weit oben her, aus dem Weltraum betrachtet, mochte man meinen, jene Panzerameisen, die sich über eine Strasse hin bewegen, würden doch nicht sehr gefährlich sein. Aber jene Gegenstände oder Wesen, auf die die Panzerammeisen schiessen, sind noch kleiner, sie wären auf Weltraumbildern kaum noch sichtbar. Es ist sehr schwer Größenverhältnisse zu verstehen in kriegerischen Wirklichkeiten. Und Feuerbälle. Und überhaupt die Zeit. In einem Dorf schoss ein Panzer auf einen Radfahrer. Auch dies wurde von oben her betrachtet, aus geringerer Höhe. Der Radfahrer hörte vollständig auf zu existieren in Bruchteilen einer Sekunde. — stop
am tiber
nordpol : 10.15 UTC — An einem späten Abend beobachtete ich von einer Brücke aus einen Mann, der am Ufer des Tiberflusses kauerte. Der Mann fütterte größere und kleinere Tiere mit seiner linken Hand, in der rechten Hand hielt er eine Angel fest. Das war nicht sofort zu erkennen gewesen, weil sich im Fluss und auch in der Luft über dem Fluss nichts bewegte, nicht einmal das Wasser zeigte Strömung. Die Flussoberfläche schimmerte im Mondlicht wie ein See, und das Schilf des Ufers schien von Winden, nicht von wildem Wasser gebeugt. Da waren Schatten im Gras der kleinen Insel, hunderte vorwärts oder rückwärts springende Schemen. Noch nie zuvor habe ich so viele Ratten auf einen Blick gesehen. Wie Eisenspäne einer physikalischen Anordnung zur Untersuchung magnetischer Felder waren sie zu dem Mann hin ausgerichtet, wirbelten durcheinander, sobald der Mann Futterware unter die Tiere schleuderte. Dann wieder stilles Warten. Eine Bisamratte, scheuer Herrscher, enterte das Land. — Am folgenden Tag kehrte ich morgens zur Nachtbrücke zurück. Der Mann kauerte noch immer nah der kleinen Insel und angelte im Fluss. Möwen hatten sich genähert. Ratten waren nur wenige zu sehen, aber Tauben. Wenn der Mann einen Fisch erbeutete, warf er ihn seinen Freunden vor die Füße. An den steilen Wänden der künstlichen Tiberfassung da und dort blühende Büsche. Eidechsen züngelten gegen die Sonne. — Das Radio erzählte von einer Frau, die nachts um 3 Uhr im 5. Stock eines Hauses der Stadt Mariupol in ihrer Küche stand und kochte, als die Stadt vom Krieg überfallen wurde. — stop
remember
nordpol : 0.05 UTC — “Aleksandra Skochilenko ist eine Songwriterin und Künstlerin aus Sankt Petersburg. Ihr wird vorgeworfen, Preisschilder in örtlichen Supermärkten durch Antikriegsinformationen ersetzt zu haben, darunter Informationen über die Toten durch die Bombardierung des Theaters von Mariupol. / Der Sankt Petersburgerin wird die “öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation und die Ausübung der Befugnisse der staatlichen Organe der Russischen Föderation” gemäß dem kürzlich hinzugefügten Paragrafen 207.3 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorgeworfen. / Aleksandra Skochilenko ist in der Kunstszene bekannt: Sie schreibt Lieder, verfasst Comic-Bücher und Cartoons, organisiert Konzerte und Jamsessions. Außerdem hat sie das bekannte “Buch über Depressionen” geschrieben, das dazu beiträgt, das Stigma psychischer Erkrankungen zu verringern. Das Buch ist äußerst beliebt. Es wurde mehrfach neu aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt und hat vielen Menschen innerhalb und außerhalb Russlands geholfen. Viele Videos und Ausstellungen wurden durch das Buch inspiriert.” Aleksandra Skochilenko ist noch immer in Haft. Schreiben Sie einen Brief! — stop
von eisballonen
sierra : 10.28 UTC — Erste Vorstellung eines Polarkäfers bereits im Jahr 2008 notiert. Dieser Käfer sollte, dachte ich, so hell sein, dass nur sehr feines Schattenlicht auf seinem Panzer Strukturen eines Körpers sichtbar werden lässt. Ich könnte vielleicht sagen, das heißt, ich könnte behaupten, dass der Käfer heller ist als der Schnee und kälter als das Eis. Er verträgt keine Dunkelheit, auch Dämmerung ist Dunkelheit, und ernährt sich vom Fleisch sehr kleiner Krebse, die in Eisballonen vom Wind durch die Luft getragen werden. Stunde um Stunde, je eine Bewegung, schlägt sein Herz. Das Radio erzählt von einem jungen Mann, der mit weisser Armbinde in der Stadt Mariupol in einem Funkwagen sitzt. Es ist kalt, es ist März. Der Atem des Mannes dampft oder raucht, während er ein Gedicht vorträgt, welches in romantischer Weise vom Krieg erzählt. In diesem Augenblick, scheint er selbst persönlich eine Pause in der Tätigkeit des Mordens eingelegt zu haben. — stop
frühe lichtaufnahme
tango : 15.00 UTC — Ich habe eine Lichtaufnhame, nachdem ich sie bereits vor Jahren einmal wieder entdeckte, heute zum 2 Male gefunden oder erinnert in einer Schachtel, die ich unter meinem Sofa versteckte, eine Fotografie, die zeigt, wie ich kurz nach meiner Geburt ausgesehen habe. Ich war schon geputzt, aber noch immer zerfurcht vom langen Warten unter Wasser. Vor vielen Jahren, als ich mich an diese erste Fotografie meines Lebens erinnert hatte, war mir bewusst geworden, dass eines Tages einmal eine weitere Fotografie existieren wird, eine Fotografie, die die letzte Aufnahme gewesen sein wird meiner Person als einer lebenden Person. Auch war mir bewusst geworden, dass das ZUR WELT KOMMEN mit Entfaltung zu tun haben könnte. Mein erster Schatten. Ich wäre im Jahr meiner Geburt in Farbe bereits möglich gewesen. — Das Radio erzählt von einer Frau, die aus der Stadt Mariupol fliehen konnte. Sie erzählt, sie habe jede einzelne der Fotografien, die ihr Leben zeigten, an Flammen verloren, die ihr Geburtshaus im Stadtteil Sartana vertilgten. Nun sitze sie in der Ferne im Exil und versuche jene verlorenen Bilder zu erinnern. Ihre Eltern auf einer Bank im Garten, sie selbst spielend zu ihren Füßen im Gras. Oder die Fotografie ihrer Schwester, wie sie in einer Badewanne sassen in einem wunderbaren heissen Sommer. Vater hatte die Wanne in den Garten getragen. Ihr Vater lebe nicht mehr schon lange Zeit. Er sei ohne Krieg gestorben. Er wäre auf jener Sommeraufnahme nicht zusehen gewesen, aber auf eine Aufnahme vom Winter des selben Jahres am gefrorenen Strand nahe des Hafens. - stop
ai : RUSSISCHE FÖDERATION
MENSCH IN GEFAHR : ““Am 11. April durchsuchte die Polizei die Wohnung von Aleksandra Skochilenko, nahm sie fest und verhörte sie bis 3 Uhr des 12. April. Am 13. April verhängte das Bezirksgericht Vasileostrovsky in Sankt Petersburg Untersuchungshaft bis zum 1. Juni 2022 gegen sie. Es ist wahrscheinlich, dass die Untersuchungshaft verlängert wird. / Aleksandra Skochilenko leidet an Zöliakie, einer genetischen Glutenintoleranz. Wenn sie glutenhaltige Nahrung zu sich nimmt, kann das den Beginn eines Organversagens, Krebs oder Autoimmunerkrankungen verursachen. Amnesty International hat erfahren, dass Aleksandra Skochilenko in der Untersuchungshafteinrichtung keine glutenfreien Nahrungsmittel erhält und ihrer Familie nicht gestattet wird, ihr diese zu schicken. / Aleksandra Skochilenko ist eine Songwriterin und Künstlerin aus Sankt Petersburg. Ihr wird vorgeworfen, Preisschilder in örtlichen Supermärkten durch Antikriegsinformationen ersetzt zu haben, darunter Informationen über die Toten durch die Bombardierung des Theaters von Mariupol. / Der Sankt Petersburgerin wird die “öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation und die Ausübung der Befugnisse der staatlichen Organe der Russischen Föderation” gemäß dem kürzlich hinzugefügten Paragrafen 207.3 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorgeworfen. / Aleksandra Skochilenko ist in der Kunstszene bekannt: Sie schreibt Lieder, verfasst Comic-Bücher und Cartoons, organisiert Konzerte und Jamsessions. Außerdem hat sie das bekannte “Buch über Depressionen” geschrieben, das dazu beiträgt, das Stigma psychischer Erkrankungen zu verringern. Das Buch ist äußerst beliebt. Es wurde mehrfach neu aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt und hat vielen Menschen innerhalb und außerhalb Russlands geholfen. Viele Videos und Ausstellungen wurden durch das Buch inspiriert. / Am 20. April hieß es, dass sich Aleksandra Skochilenkos Gesundheitszustand durch das Fehlen glutenfreier Nahrungsmittel verschlechtert habe. Am 21. April teilte ihr Rechtsbeistand Amnesty International mit, dass die Haftanstalt ihr schließlich erlaubt habe, ein Lebensmittelpaket ihrer Familie zu erhalten, das ihrer glutenfreien Ernährung entsprach./ Am 23. April wurde sie von einer provisorischen Haftanstalt in ein Untersuchungsgefängnis gebracht./ Nach einem Besuch bei Aleksandra Skochilenko in der Untersuchungshaftanstalt am 25. April berichtete einer der Rechtsbeistände, dass sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert habe. Sie kann nichts essen, da sie nicht das für sie erforderliche glutenfreie Essen erhält und ihre Familie ihr auch kein Essen schicken darf. Sie fühlt sich die meiste Zeit über schwach. Sie erzählte auch, dass sie von den Wärter_innen der Haftanstalt und ihren Zellengenoss_innen unter Druck gesetzt wurde. — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen unter »> ai : urgent action