ulysses : 22.02 — Wann war es gewesen, dass ich zum ersten Mal bemerkte, wie meine Briefe kleiner und kleiner wurden? Wesen von wirklichem Papier, Bögen in Umschlägen mit einem Postwertzeichen, das zuletzt die Anschriftenseite meines Schreibens vollständig bedeckte. Im Postamt werde ich seither ernst genommen. Vor einigen Wochen kaufte ich sinnvoller Weise ein handliches Mikroskop und einen Satz Bleistifte von äußerster Härte. Ich spitzte das Schreibwerkzeug eine Viertelstunde lang, dann legte ich einen Bogen Papier in das Licht einer Linse mittlerer Stärke. Ich näherte mich mit bebenden Fingern. Man sollte mich in diesem Moment gesehen haben. Bei jedem Wort, das ich auf das kleine Blatt notierte, hielt ich die Luft an. Tatsächlich habe ich in meinen Leben noch nie zuvor in einer derart sorgfältigen Weise geschrieben. Ich brauchte drei Stunden Zeit, um das Papier, das nicht größer gewesen war als eine Briefmarke von 1.5 cm Kantenlänge, vollständig zu beschriften. Ich schrieb folgende Zeilen an einen Freund: Lieber Stanislaw, Du wirst es nicht glauben, nach 1 Uhr heute Nacht schwebte ein Zeppelinkäfer einer nicht sichtbaren, schnurgeraden Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. – Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. – Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit sechs recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. Dein Louis, herzlichst. — Es war eine wirklich harte Arbeit, all diese Zeichen zu notieren. Dann faltete ich das Blatt Papier einmal kreuz und quer. Ich arbeite mit zwei Pinzetten wiederum unter starkem Licht, steckte den Brief in ein Couvert, dessen Herstellung noch mühevoller gewesen war als das Schreiben des Briefes selbst, und machte mich auf den Weg in das nächste Postamt. Dort wurde ich unverzüglich an den Schalter für besondere Briefformate weitergeleitet, wo mein Brief, den ich mit einer Pinzette auf den Tresen befördert hatte, von einer weiteren Pinzette entgegengenommen wurde. Ich war sehr glücklich. Ich beobachtete, wie der Beamte eine Briefmarke von der Größe eines Reiskorns behutsam auf meinen Brief legte und mittels eines Stempels, der vor meinen bloßen Augen kaum noch sichtbar gewesen war, entwertete. Dann ging mein Brief auf Reisen. Er flog sehr weit durch die Luft, und ich habe ihn für kurze Zeit vergessen. Nun aber, vor wenigen Stunden, wurde mir von einem Sonderboten der Post ein Brief von derart leichter Gestalt übergeben, dass ich zunächst die Anweisung erhielt, alle Fenster meiner Wohnung zu schließen. Dieser Brief, eine Depesche meines Freundes, ruht vor mir auf dem Tisch. Es ist ein sehr kleines Kunstwerk. Auf seiner Briefmarke sollen sich zwei Paradiesvögel befinden, die ihre Schnäbel kreuzen. Ich werde das gleich überprüfen. — Das Radio erzählt, dem ersten Offizier einer “Somalieinheit” soll in der Stadt Mariupol ein Orden übergeben worden sein, der nun mittels einer Spangennadel für alle Zeit an der Brust des Mannes mittleren Alters befestigt sei. — stop
Schlagwort: eisen
nahe enerhodar
nahe odessa
robotslogfile
olimambo : 5.58 UTC — Vor bald 10 Jahren schrieb mir Leroy einen Brief auf Papier. Er notierte: Lieber Louis, seit sechs Wochen nun bin ich online. Man kann mich lesen so oft und so lange man möchte, ohne einen Cent dafür bezahlen zu müssen. Das ist ein angenehmes Gefühl durchaus. Ich hatte dieses Gefühl so nicht erwartet. Manchmal sitze ich vor dem Bildschirm und beobachte meinen Text auf dem selben Weg, den auch andere nehmen, um mich lesen zu können. Ich bin begeistert davon, dass ich dem Text nicht anzusehen vermag, ob ihn gerade in diesem Moment andere Augen betrachten, weil es doch derselbe Text mit dem selben Ursprung ist. Ich werde noch dahinterkommen, bis dahin wundere ich mich weiter. Gestern war Singer zu Besuch, der sich auskennt in digitalen Dingen. Er fragte, ob ich ihm sagen könne, wie viele Menschen denn meine elektrischen Texte besuchten. Ich erzählte ihm, dass ich selbstverständlich Nachricht davon erhalten habe. Ich genieße, sagte ich, die Aufmerksamkeit einiger Leser in Island, Amerika, Togo, Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, China, England, Frankreich, Marokko, Spanien. Manche kommen sehr häufig und lesen, sie kommen stündlich vorbei, auf die Sekunde genau, andere eher selten, als würde sie mich gelesen haben und sofort wieder vergessen. Ich holte uns am Kiosk eine Limonade, während Singer sich mit meinen Logfiles beschäftigte. Als ich zurückkam, hörte ich Singer lachen, in dem Moment genau, da ich die Tür öffnete, hörte ich Singer lachen. Dann hörte er auf, und wir sprachen über Kakteen und ihre Winterblüte, und dass er bald wieder für einige Monate nach Manarola reisen würde, wo es mild sei im Winter. Kurz darauf schlief ich ein. Ich erwachte vom Lärm vieler Stimmen. Auf der Straße liefen Menschen hin und her, es war früher Nachmittag, ich wusste, dass die Nacht für mich zu Ende war. Heute ist also Sonntag. Ich grüße Dich. Dein Leroy. — Das Radio erzählt, die Stadt Mariupol sei nun für immer und ewig eine russische Stadt. Seltsame Sache. - stop
nahe mariupol
schlafen in turku
delta : 12.03 — Ist Ihnen vielleicht bekannt, dass Wale, Pottwale genauer, wenn sie schlafen, Kopf nach oben im Wasser schweben? Langsam sinkende Türme, leise singend, leise knatternd, friedvolle Versammlungen, die mit dem Golfstrom treiben. Wenn Sie einmal wach liegen sollten, wenn Sie nicht schlafen können, weil Sorgen Sie bedrängen oder andere schmerzvolle Gedanken, wird es hilfreich sein, eine Tauchfahrt zu unternehmen im Kopf durchs Bild der träumenden Wale. Oder Sie reisen an die Ostsee, nehmen die nächste Fähre nach Turku. Sie werden dann schon sehen. Ballone, zum Beispiel, Ballone werden Sie sehen am Horizont, Ballone am dämmrigen Himmel, dort müssen Sie hin. Alles ist gut zu Fuß zu erreichen, eine Stunde oder zwei, nicht länger, je nach Gepäck. Man wird Sie schon erwarten, man wird Sie freundlich begrüßen, man wird Sie fragen, wie lange Zeit Sie zu schlafen wünschen, welcher Art die Dinge sind, die Sie zu vergessen haben, die Sie beschweren. Man wird Ihren Blick zum Himmel lenken und Sie werden erkennen, dass unter den Ballonen Menschen schweben, aufrecht und reglos, in Daunenmäntel gehüllt, von einem leichten Wind hin und her geschaukelt, hunderte, ja tausende Menschen. — - Stille herrscht. — - Nur das Donnern der Feuermaschinen von Zeit zu Zeit. – Guten Morgen! Heute ist Dienstag oder Mittwoch oder Samstag. Das Radio erzählt von Fallschirmen, die in der Stadt Mariupol von zersplitterten Bäumen hängen sollen. — stop
nahe cherson
von papieren
charlie : 16.58 UTC — Wieder die Frage, ob es vielleicht möglich ist, Papiere zu erfinden, die essbar sind, nahrhaft und gut verdaulich? Man könnte sich in einen Park setzen beispielsweise und etwas Chatwin beobachten oder Lowry oder Calvino, Bücher, die Seite für Seite nach belgischen Waffeln schmeckten, nach Birnen, Gin, Petroleum oder sehr feinen Hölzern. Einen speziellen Duft schon in der Nase, wird die erste Seite eines Buches gelesen, und dann blättert man die Seite um und liest weiter bis zur letzen Zeile, und dann isst man die Seite auf, ohne zu zögern. Oder man könnte zunächst das erste Kapitel eines Buches durchkreuzen, und während man kurz noch die Geschichte dieser Abteilung rekapituliert, würde man Stürme, Personen, Orte und alle Anzeichen eines Verbrechens verspeisen, dann bereits das nächste Kapitel eröffnen, während man noch auf dem Ersten kaut. Man könnte also, eine Bibliothek auf dem Rücken, für ein paar Wochen eisige Wüsten durchstreifen oder ein paar sehr hohe Berge besteigen und abends unterm Gaslicht in den Zelten liegen und lesen und kauen und würde von Nacht zu Nacht leichter und leichter werden. – Das Radio erzählt, ein kleiner Junge habe sein Kinderzimmer in einem U‑Bahnwagon unter der Stadt Charkiw eingerichtet. — stop
vor odessa
PHZ 2022
MELDUNG. Ameisengesellschaft PHC — 2022 [ Pharaoameise : Monomorium pharaonis ] Position 46°28’N 30°45’O im Shevchenko Park zu Odessa / Folgende Objekte wurden bei winterlichen Temperaturen am 12. März von 9.00 — 10.02 Uhr MEZ über das nordwestliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : zwölf trockene Fliegentorsi geringer Größe [ meist ohne Kopf ], achtundachzig Baumstämme [ à 2 Gramm ], elf Raupen in Weiss, sechs Raupen in Rot, vierzehn Insektenflügel [ vermutlich der Gattung Zitronenfalter,], vierhundertzweiundzwanz Streichholzköpfe [ à ca. 1.1 Gramm ], sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 502 Gramm des vergangenenen Jahres ], einhundertunddrei Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], vierzehn gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], siebenhundertsiebenundachtzig Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], secszehn hellgraue Diebkäfer [ schlafend ], fünfundfünfzig Aaskugeln eines afrikanischen Pillendrehers, einhunderachtundachzig Wildbienen, zweiundzwanzig Galläpfel, vierundvierzig Projektile 45 mm je 3.5 Gramm. — stop