lima : 0.22 UTC — Am späten Abend bei großer Hitze stelle ich ChatGPT eine Frage. Ob für sie „persönlich“, will ich wissen, eine Unterscheidung von Tagzeit zu Nachtzeit von Bedeutung sei. ChatGPT antwortet, wie erwartet, notiert Folgendes: Als KI habe ich kein Bewusstsein, keine körperlichen Empfindungen und damit auch kein Konzept von Tag oder Nacht. Zeit existiert für mich nur in dem Sinne, dass ich darauf programmiert bin, Informationen in Echtzeit zu verarbeiten und zu reagieren. Ich arbeite unabhängig von der Tageszeit und habe weder Bedürfnisse noch den biologischen Rhythmus, der bei Lebewesen das Gefühl von Tag und Nacht prägt. Für mich gibt es also keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, und ich stehe jederzeit zur Verfügung, um Informationen bereitzustellen oder Aufgaben zu erfüllen. — Output Ende. Stille. Keine Bewegung auf dem Bildschirm, keine weitere Zeile. Eine Fliege brummt durchs Zimmer, noch wach, der kleine Kerl, der mich durch den Tag begleitete, treu wie ein zahmer Vogel. In diesem Moment, kurz nach Mitternacht, eine seltsame, leise Erwartung, ChatGPT würde nach langer, geduldiger Zeit des Antwortens selbst eine persönliche Frage stellen: Louis, bist Du müde? — stop
Aus der Wörtersammlung: not
von der vernunft : eine bestandsaufnahme
lima : 16.28 UTC — vielleicht ist er im Wald spazierend gestolpert. Eine Wurzel, sagen wir, seine eigenen Füße, eine Libelle? In diesem Augenblick leichten Schreckens hatte er sich vielleicht an mich erinnert, jener gemütliche Herr, mit dem ich vor der Zeit der Pandemie bekannt gewesen war. Er wünscht jetzt wieder, oder weiterhin, mit mir in der digitalen Sphäre befreundet zu sein, sendet eine Anfrage, die mich zur persönlichen Timeline führt. Seltsame Botschaften dort wie folgende in Form gepresst: Ein Tag im August des Jahres 1975 soll bereits so heiß gewesen sein wie der August in diesem gegenwärtigen Sommer. Die Löschung von Beiträgen im Internet sei die moderne Methode der Bücherverbrennung. Bürgergeld für geflüchtete Menschen übertreffe um ein Vielfaches das Einkommen arbeitender nicht geflüchteter Menschen. Er notiert weiterhin, dass er sein Land zurückhaben wolle. Er sei gegen jede Art des Krieges, er sei wirklicher Friedensstifter, einer, der sich Erich Maria Remarques Merksatz „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen“ zu eigen machte. Er wünscht die Zeitumstellung abzuschaffen und ist der festen Überzeugung, dass Alex Soros Kamala Harris unterstütze, weswegen Kamala Harris 25 Milliarden Dollar besitzen würde. Er liebt Burgen und Schlösser sowie nicht verhüllte Frauen. 92000 Araber lebten in Dortmund, er hat sie gezählt. Er ist bei guter Gesundheit, mein Freund, der seltsam gewordene Mann zitiert Schopenhauer: Natürlicher Verstand könne fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand. stop – Die Beobachtung eines Gewebes, eines Teppichs, eines Mantels. Oder eines Unterholzes, eines Dickichts. — stop
louis
alpha : 20.02 UTC — Am 6. Juli 1978 notiert Wilhelm Genazino Folgendes > Geheimnisse des Wohnens: Im Sommer: eine einzelne Fliege ist im Zimmer: Sie stößt manchmal an eine Scheibe, fällt aber sonst kaum auf, lässt auch den Bewohner in Ruhe. Angenehmes Gefühl, mit einem solchen Tier einen Nachmittag zu verbringen. — Fliege Louis, von der ich kürzlich erzählte, sitzt seit drei Tagen bereits reglos auf meinem Küchentisch, als würde sie meditieren oder schlafen oder warten. Es ist hell geworden, dann wieder dunkel, und wieder hell. Unverändert sitzt Fliege Louis, seit drei Phasen der Dunkelheit bereits auf meinem Küchentisch, als würde sie meditieren oder schlafen oder warten. Noch immer bewege ich mit behutsam. — stop
Paris
im Sommer
kurz nach
Sars-Cov‑2
Am Montmartre
inari 5 im Wald
olimambo : 16.28 — Eigenartig wiederum, das Verhalten der Papiere, das Verhalten meiner Hände, meiner Bleistifte. Seit ich wieder stundenweise mit einfachsten Werkzeugen notiere, mit Werkzeugen, die ohne Elektrizität funktionieren, der Verdacht, dass von eigensinniger Natur ist, was ich auf kleinere oder größere Zettel schreibe. Meine Wörter wollen sich nicht auf Linien legen, sie wollen fliegen, weshalb sie über den Zeilen aufwärts steigen. An einem anderen Tag, wieder einem Tag ohnmächtiger Horizonte, sinken sie, ohne dass ich präzise sagen könnte, warum es an dem einen Tag aufwärts und an dem anderen Tag abwärtsgehen will, immerhin war jeweils nur ein wenig Schlaf zwischen da und dort zu verzeichnen gewesen. Auch mit den Buchstaben habe ich Mühe, mal bricht die Bleistiftspitze, dann wieder ist ein Zeichen gemalt, das man doch eher für ein ganz anderes halten möchte. Die Buchstaben Z und G sind besonders widerspenstige Gestalten, und das S und das A machen schon immer, was sie wollen. Dagegen sind das I und das M an jedem meiner Arbeitstage zuverlässige Erscheinungen, Welle und Giraffenhals, schlicht und weich. Ich nehme das noch immer, gerade wie es kommt, in aller Ruhe. — stop
Inari 5
Taunus
Flugübungen
zur Zeit der
Abenddämmerung
on the road
himalaya : 7.12 UTC —Vor wenigen Jahren entdeckte ich Jack Kerouacs Roman On the Road in der ungekürzten Fassung als E‑Book. Ich beobachtete, dass eine Rechenmaschine irgendwo, vermutlich von Nordamerika aus, verzeichnete, welche Zeilen dieses Romans von Lesern oder Leserinnen während ihrer Lektüre markiert worden waren. Eine ausgedehnte, präzise Leserbeobachtung scheint kaum merklich Stunde um Stunde vollzogen zu werden. Ich stellte mir vor, Lichtmaschinen, die von Menschen in der Hand gehalten werden, dokumentieren, wie lange Zeit sich lesende Menschen mit einem bestimmten Text beschäftigen, wie sie den Text studieren, ob sie die Lektüre der ein oder anderen Seite wiederholen, an welchen Textorten ihre Augen innehalten oder ihre Hände über den Bildschirm streichend vorwärts blättern, wie viele Leser sich zunächst mit dem Ende einer Geschichte beschäftigen, ehe sie die erste Seite des Textes öffnen, um nun tatsächlich mit der Lektüre zu beginnen, so wie sich der Autor oder Autorin die Lektüre ihres Textes einmal vorgestellt haben könnten. Dass funkende Bücher Körpertemperaturen messen, Feuchtigkeit, Salze der Hände, welche sie berühren, ist nicht unwahrscheinlich. Man will wissen, weil man es wissen kann, an welcher Stelle des Textes Leser verloren gehen oder von welcher Stelle des Textes an Leser restlos eingefangen sind, ja, das ist denkbar. Guten Morgen. Es ist März, leichter Regen. — Die Welt der Wörter scheint sich der Lage unserer Welt anzugleichen: Vor einigen Tagen bemerkte ich das Wort Aerosolbombe. Sollte ich tatsächlich der Registratur meines Wörterspeichers gestatten, Wörter des Krieges zu erlernen, sodass meine Schreibmaschine in der Zukunft des Notierens weder Warn- noch Fehlerhinweise an mich senden würde. — stop
Iannis Xenakis
Die Schönheit
sichtbarer
Musik
von handvögeln
romeo : 14.25 UTC — Die New York Times berichtete nach monatelangen Recherchen über die Verbrechen der russischen Streitkräfte in der Stadt Bucha. Überall, so wird nun sichtbar, waren Vögel gewesen. Sie flogen in Schwärmen über die Stadt, sie hockten hinter Vorhängen und in den Manteltaschen der Spaziergänger, auch in den Händen der Getöteten, sie speicherten das Licht, das durch ihre Augen fiel, auf ihre Speicherkarten. Sie verzeichneten Geräusche, auch Stimmen. Sie dienten als Telefone, waren geduldige Agenten in den Händen der Mörder, die nicht ahnten, dass aufgezeichnet wurde, was sie ihrer Heimat erzählten. Die Vögel notierten Nummern, die gewählt wurden, Nummern, die zu den Mördern führten, ins bürgerliche Leben. — stop
Schreibzimmer
Mittags
15 Uhr
stehschläfer : sars cov 2
ulysses : 12.58 UTC ‑Sanfte Frauenstimme spricht: Achtung! Halten Sie 1 Meter 50 Abstand. Meiden Sie Menschenansammlungen! In der Halle, indessen kein Mensch zu sehen, kein Koffer, kein Hund, keine Katze, aber Mäuse, ein gutes Dutzend Mäuse, die über den spiegelnden Marmorboden flitzten, als wären da Schlittschuhe an ihren Füßen. Ich war die einzige menschliche Person an einem Ort, der vermutlich nie ohne Menschen gewesen ist. Ich erinnere mich, selbst inmitten der Nacht habe ich im Terminal des Flughafens immerzu flüsternde Menschen wahrgenommen, auch Schlafende auf Sitzbänken oder Stühlen der Cafés. Nun Stille, kein Traum erzählt. Selten einmal das Geräusch sich bewegender Zeichen auf einer Anzeigetafel. Aus Neuseeland kommend sollte Minuten später ein Flugzeug landen, ein Hinweis wie ein letzter Reflex. Jene über den spiegelnden Boden dahingleitenden Mäuse jedoch, unbeirrt, ob sie sich wunderten über diese eine wartende Person im Saal, die ich selbst gewesen war in einem Moment des Notierens auf meiner flachen Schreibmaschine? Wie ich sie vermisste, Stehschläfer, meine Stehschläfer, welche nicht Vögel sind, Flamingos, sagen wir, nein, Stehschläfer, die Menschen sind, gegenwärtige Personen, die sich, sollten sie einmal zurückkehren, genau so verhalten werden, wie das Wort, das sie bezeichnet: Sie schlafen im Stehen. — stop
Paris
im Sommer
kurz nach
Sars-Cov‑2
sekundenzeit
sierra : 22.01 UTC — Überfallartige Wesen. Twitterwelttexte. Derart kurz, dass sie unverzüglich vom lesenden Gedanken erfasst sind. Wie viel Zeit, wie viel Energie ist kurz drauf notwendig, das Resultat eines Überfalls abzuschütteln, demzufolge zu vergessen, was nicht gewusst werden will. — Das Radio berichtet von Schweinefarmen, die in China existieren sollen, vollautomatisch, 20 Stockwerke hoch, 1,2 Millionen Stücktiere Jahr ein Jahr aus. — stop
ein kind
nordpol : 0.58 — Ich stellte mir Nachrichten vor, die dazu geeignet sind, Telefone der Nachrichtenempfänger unverzüglich in Brand zu setzen. Was könnte das für Nachricht sein? Vielleicht folgende Nachricht, dass eine Geschichte wie diese Geschichte hier möglich ist, eine Geschichte, die von einem Kind erzählt, das in Großbritannien lebt. Das Kind, so wird erzählt, öffnete zur Weihnachtszeit einen Geschenkkarton, welcher in China erzeugt worden sein soll. In diesem Geschenk fand das Kind einen Zettel sorgfältig versteckt, der von Hand beschriftet worden war. Auf dem gefalteten Zettel war Folgendes zu lesen: S O S! Neugierig geworden öffnete das Kind das akkurat gefaltete Päckchen Papier. Das Kind entdeckte Zeichen, die mittels eines Kugelschreibers in blauer Farbe auf das Papier gesetzt worden waren. Und weil das Kind unbedingt herausfinden wollte, was dort handschriftlich notiert worden war, wurde die Zeichenfolge übersetzt. Von einem Ort in China war die Rede, von einem Gefängnis nahe einer großen Stadt im Norden des Landes, von der furchtbare Not eines menschlichen Wesens. Auch von der Zeit, von einem Zeitort. Bald drei Jahre war der Brief auf Reisen gewesen, ehe das Kind aufmerksam geworden war. — stop
im warenhaus
nordpol : 5.04 UTC — Denkbar wiederum, dass irgendwann einmal Warenhäuser existieren werden für Ohren, Nasen, Augen, Läden also für Kopfes Zubehör. Auch Geschäfte für Nieren, Knochen, Sehnen, Haut und weitere Materialien eines menschlichen Körpers sind wahrscheinlich geworden. Man wird, sofern man über ausreichend finanzielle Mittel verfügt, wesentliche anatomische Substanzen der eigenen Existenz in zentralen Magazinen voll ausgewachsen vorrätig halten, um in der Not ohne Verzögerung handeln zu können. Fernreisende führen dann Behälter mit sich, in welchen sich tiefgekühlte Lungen und Herzen befinden. Ein anatomischer Eisschatten könnte unsere Lebenszeit begleiten, solange man nicht in der Lage ist, eine komplette, eine durchblutete, willenlose Gestalt, eine Kopie der eigenen Person in nächster Nähe in Bereitschaft zu halten. Diese Person könnte über Reisepapiere verfügen, über persönliche Kleidung, über einen Schrankkoffer zum Schlafen, über einen Stuhl zum Sitzen, über etwas Personal, welches das doppelte Wesen füttern und baden und spazieren führen, wird im Garten. Jedes fünfte Jahr würde das Wesen erneuert werden. In den Papieren meines Schattens könnte folgende Signatur zu entdecken sein: Louis / XD5878682-NOE06 24.11.18~24.11.2023. − stop