delta : 22.01 — Ich erinnere mich gern an Max. Er war gerade 6 Jahre alt geworden, als ich ihm zuletzt persönlich begegnete. Wir saßen damals an einem Küchentisch, es war Abend, Max schon müde. Er schüttelte etwas gelangweilt eine Paprikaschote und wunderte sich, weil in der gelben Frucht Bewegung zu sein schien. Ich nahm ihm die Paprika aus der Hand, und tatsächlich war in ihrem Inneren etwas lose geworden oder existierte dort, das sich üblicherweise nicht in einer Paprika befinden sollte. Also legte ich die Paprika zur Untersuchung auf einen Teller und öffnete sie vorsichtig. Es war ein kleines Loch, das ich in die Paprika schnitt. Seite an Seite sitzend warteten wir gespannt vor der Frucht darauf, ob vielleicht Irgendetwas oder Irgendjemand aus der Öffnung steigen würde. Indessen erzählte ich von der Erfindung der Tiefseeelefanten, von ihren kilometerlangen Rüsseln, die sie zur Meeresoberfläche recken, sofern sie den Atlantik durchqueren. Bald wurde Max ungeduldig, er nahm die Paprika in seine Hände, um durch das sparsame Loch zu spähen, ohne freilich etwas sehen zu können, es war dunkel da drin, weshalb ich das Loch vergrößerte, und außerdem noch zwei kleinere Löcher für das Licht seitwärts in den Körper trieb. Wiederum spähte Max in die Paprika, jetzt konnte er etwas erkennen. Er stellte nüchtern fest, dass sich in der Paprika ein Ohr befinden würde, ein Paprikaohr, ganz eindeutig. Zwei Jahre sind seither vergangen. Als ich kürzlich mit Max telefonierte, erklärte er, dass er in der Schule Tiefseemenschen mit Bleistift zeichnete. Immer wieder habe er die Körper der Tiefseemenschen, die über den Meeresboden spazierten, ausradiert, um sie noch kleiner zu machen, damit ihre Hälse auch lang genug werden konnten auf dem viel zu kleinen Blatt Papier, das ihm zur Verfügung gestellt worden war. — stop
Aus der Wörtersammlung: meeresboden
dämmerschritte
kilimandscharo : 6.26 — Tiefseeelefanten, wo auch immer sie sich befinden, schlafen gemeinsam zur selben Zeit. Sie gehen dann langsam, step by step, träumend rückwärts über den Meeresboden hin. — Seltsame Sache. – An diesem frühen Morgen denk ich noch etwas anderes von Schlafesdingen. Gerade öffnet Berfin die Tür ihrer Wohnung. Sie kommt von einer Nachtschicht zurück. Fünf Stunden Arbeit. Jetzt wird sie noch eine halbe Stunde schlafen, dann aufstehen, ihre Kinder, drei Mädchen, mit Küssen auf kleine heiße Ohren wecken, Frühstück bereiten und sie zur Schule bringen. Berfin schläft 21 Stunden pro Woche. Sie lacht gern. Ein zartes Gesicht. Augen, die viel Krieg gesehen haben. Meistens plagen sie Kopfschmerzen. Müde bin ich, sagt sie, dafür gibt’s kein Wort.
tauchgang wiegend
nordpol : 0.02 — Tiefseeelefanten wirklich zu begegnen, heißt, gegen den Grund zu reisen, dorthin, wo Herz und Gehirn, Ohren und Augen auf kräftigen Beinen über den Meeresboden wandern. Vielleicht ist man gerade in einem Boot auf dem Weg ein paar Fische zu fangen. Man vernimmt ein Schnauben zunächst, eine Begrüßung, eine Frage, aber schon mit dem folgenden Gedanken, wird man sich, von einem Rüssel zärtlich in die Wiege genommen, im Wasser wieder finden. Dann gehts abwärts. Eine Tiefenfahrt, wie keine andere je zuvor. Einhundert Meter Blau, jetzt schließen sich die Augen. Man träumt von Rüsselwäldern, von Schwärmen glimmender Fische, von der Kühle, vom Eis, von feurigen Augen, für die man keine Worte finden kann, so seltsam ihr Ausdruck, so geduldig, so weise, und so sonderbar die Geräusche der eigenen Knochen, ein Malmen, in dem man kleiner wird und kleiner. — Woher ich das alles weiß? Nun, ich bin in der vergangenen Nacht gegen Zwei, Benny Goodman im Ohr, ins Wasser gefallen. — Ein Knistern, noch heute.
karpfenzungen
18.15 — Ich hörte, eine U‑Bahnlinie soll einmal vor langer Zeit Europa verbunden haben mit dem nordamerikanischen Kontinent. Sie folgte dem 55. Breitengrad unter atlantischen Gesteinen, nahe Bryant Park, Manhattan, stieg man zu. Dann fuhr man los. Man fuhr zwei Tage und drei Nächte, Zeit, viel Zeit, Geschichten zu erzählen. Wenn Nacht geworden war unter dem Meeresboden, schlief man auf Hängematten gebettet tief und fest, war wieder Tag geworden, saß man plaudernd vor den Fenstern zu den Steinen. Am letzten Abend der Reise endlich wurde getanzt bis spät in die Nacht. Schon mitteleuropäischer Zeit, servierte man über offenen Feuern gebratene Täubchen. Die waren prall gefüllt mit Karpfenzungen. Dann war’s fünf und Morgen über Budapest. Metro Vörösmarty tér stieg man aus und jeder ging seiner Wege. – Zwei Uhr fünfundzwanzig in Lhasa, Tibet. — stop
lowrysteine
3.15 — Bei feiner Coltranemusik Notizparticles für Lowrystory übertragen. Sagen wir : Atlantik : Dampfer : Koffer : Blackout : Ellis Island : Trompete : Mexiko : Höllenstein : Gin : Satellit : Vulkan : Bellevue : Walfischvogel : Melville : Battery Park : : lunar caustic. — Um nicht einzuschlafen, verbringe ich diese Nacht auf einem sehr harten, hölzernen Gartenstuhl. 70 Meter tief unter der Wasseroberfläche, 2000 m hoch über dem Meeresboden. | stop | Lichtblitze einer Meduse. | stop | Schlafende Walfische. | stop | Senkrecht schwebende Türme. | stop | Ein Granatbarsch, der sich um mein linkes Ohr bemüht. | stop | Salz im Mund. | stop | Suche nach neuen Pseudonymen. — Elf Uhr fünfundzwanzig in Lhasa, Tibet. — stop