delta : 22.32 UTC — L. erzählt, sie habe den Mann, der in einer Wohnung lebt, die sich hinter der Wand ihrer Küche befindet, noch nie gesehen. Seit einem Jahr hört sie seine Lebenszeichen, ein blechern klingendes Radio. Das Radio spielt Jazzmusik. Und menschliche Stimmen in arabischer, englischer, französischer Sprache. Manchmal ein Piepsen, vielleicht das Piepsen einer Mikrowelle. Abends fällt Licht an eine Hauswand, er ist zu Hause, ein Schatten bewegt sich. Sie wünschte sich einen Türspion, durch den sie auf den Flur spähen könnte. Abends oft Stimmen, als wäre die Küche voller Menschen. Nein, sie habe nicht gelauscht, die Stimmen sind laut. Schritte draußen auf dem Flur sind nie zu hören. Das Geräusch eines Wasserhahns. Das Scheppern von Metall. Ein hell singendes Glas. Türen auf und zu. Die Stimmen, die sie hört, immer abends, eine Tonspur junger Stimmen, fröhlich. Nachts Stille, manchmal spät, soeben Dämmerung vor den Fenstern, wieder Stimmen. Sie meint, ihr Nachbar würde vermeiden, gesehen zu werden. Er will nicht gesehen werden, denkt sie, aber bemerkt. Sie würde ihm helfen. Unlängst, kurz vor Weihnachten, hörte sie seine Wohnungstür draußen in nächster Nähe. Sie war bereits in ihren Regenmantel geschlüpft. — stop
Lew Kopelew und Raissa Orlowa
Anfang der 80er Jahre in Crottorf.
Vertraute vertraut im
Garten arbeitend.
Fotografie: Archiv
der FSO Bremen