himalaya : 0.15 UTC — Eine Geschichte sollte hier erscheinen, eine Geschichte, die nicht erzählt werden darf, weil sie zur Spur eines Menschen führen könnte, der gesucht wird in einem fernen Land. Wieviele dieser Geschichten werden vermutlich existieren, Geschichten, die nicht erzählt werden dürfen, weil sie an einem Ort erscheinen, der von digitalen Robotern durchkämmt wird auf der Suche nach verdächtigen Wörtern oder Mustern mit Netzen von Code. Unheimliche Wesen, die niemals schlafen. — stop
Aus der Wörtersammlung: mensch
von handboten
sierra : 22.01 UTC — Terroristen planten einen Angriff auf zivile Menschen im Süden Israels jahrelang. Ihre Kommunikation, bis zuletzt unbemerkt, muss über Papiere und menschliche Boten organisiert worden sein. Später höre ich, sie telefonierten mittels von Hand gelegter Telefonleitungen in Tunneln unter der Stadt Gaza. Ich stelle fest, die Folgen ihrer Tat, werden noch immer in der digitalen Sphäre verhandelt. Ich beobachte diese freundlichen Vögel, die rücklings in Händen der Menschen liegen, indessen sie mit ihren Fingern durch blutige Kanäle segeln. Nie könnte ich präzise sagen, wie sich jene Menschen, die ich beobachte, in dieser Zeit ihres Segelns verändern, ihr Gehirn, ihre Ansichten, ihre zukünftige Handlungsweise. — stop
Mutters letzter
Sommerhut der ihr immerzu
in die Stirn rutschte
als noch Sommer mit
Mutter war
on the road
himalaya : 7.12 UTC —Vor wenigen Jahren entdeckte ich Jack Kerouacs Roman On the Road in der ungekürzten Fassung als E‑Book. Ich beobachtete, dass eine Rechenmaschine irgendwo, vermutlich von Nordamerika aus, verzeichnete, welche Zeilen dieses Romans von Lesern oder Leserinnen während ihrer Lektüre markiert worden waren. Eine ausgedehnte, präzise Leserbeobachtung scheint kaum merklich Stunde um Stunde vollzogen zu werden. Ich stellte mir vor, Lichtmaschinen, die von Menschen in der Hand gehalten werden, dokumentieren, wie lange Zeit sich lesende Menschen mit einem bestimmten Text beschäftigen, wie sie den Text studieren, ob sie die Lektüre der ein oder anderen Seite wiederholen, an welchen Textorten ihre Augen innehalten oder ihre Hände über den Bildschirm streichend vorwärts blättern, wie viele Leser sich zunächst mit dem Ende einer Geschichte beschäftigen, ehe sie die erste Seite des Textes öffnen, um nun tatsächlich mit der Lektüre zu beginnen, so wie sich der Autor oder Autorin die Lektüre ihres Textes einmal vorgestellt haben könnten. Dass funkende Bücher Körpertemperaturen messen, Feuchtigkeit, Salze der Hände, welche sie berühren, ist nicht unwahrscheinlich. Man will wissen, weil man es wissen kann, an welcher Stelle des Textes Leser verloren gehen oder von welcher Stelle des Textes an Leser restlos eingefangen sind, ja, das ist denkbar. Guten Morgen. Es ist März, leichter Regen. — Die Welt der Wörter scheint sich der Lage unserer Welt anzugleichen: Vor einigen Tagen bemerkte ich das Wort Areosolbombe. Sollte ich tatsächlich der Registratur meines Wörterspeichers gestatten, Wörter des Krieges zu erlernen, so dass meine Schreibmaschine in der Zukunft des Notierens weder Warn- noch Fehlerhinweise an mich senden würde. — stop
Iannis Xenakis
Die Schönheit
sichtbarer
Musik
ai : VENEZUELA
MENSCHEN IN GEFAHR :“Am 19. Februar 2024 wurde Juan Carlos Marrufo ohne Vorankündigung in das Gefängnis Rodeo I im venezolanischen Bundesstaat Miranda verlegt, fast drei Jahre nach seiner politisch motivierten willkürlichen Inhaftierung. Obwohl sich sein Gesundheitszustand verschlechtert, verweigern ihm die Behörden nach wie vor Untersuchungen und Behandlungen. María Auxiliadora Delgado, die mit Juan Carlos verheiratet ist und ebenfalls seit dem 19. März 2019 willkürlich festgehalten wird, benötigt sofortige medizinische Untersuchungen. Emirlendris Benitez, die im August 2018 willkürlich festgenommen wurde, leidet an Beschwerden, die auf die Folter zurückzuführen sind, der sie ausgesetzt war. Sie benötigt eine sofortige Operation. — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen unter > ai : urgent action
von handvögeln
romeo : 14.25 UTC — Die New York Times berichtete nach monatelangen Recherchen über die Verbrechen der russischen Streitkräfte in der Stadt Bucha. Überall, so wird nun sichtbar, waren Vögel gewesen. Sie flogen in Schwärmen über die Stadt, sie hockten hinter Vorhängen und in den Manteltaschen der Spaziergänger, auch in den Händen der Getöteten, sie speicherten das Licht, das durch ihre Augen fiel, auf ihre Speicherkarten. Sie verzeichneten Geräusche, auch Stimmen. Sie dienten als Telefone, waren geduldige Agenten in den Händen der Mörder, die nicht ahnten, dass aufgezeichnet wurde, was sie ihrer Heimat erzählten. Die Vögel notierten Nummern, die gewählt wurden, Nummern, die zu den Mördern führten, ins bürgerliche Leben. — stop
Schreibzimmer
Mittags
15 Uhr
stehschläfer : sars cov 2
ulysses : 12.58 UTC ‑Sanfte Frauenstimme spricht: Achtung! Halten Sie 1 Meter 50 Abstand. Meiden Sie Menschenansammlungen! In der Halle indessen kein Mensch zu sehen, kein Koffer, kein Hund, keine Katze, aber Mäuse, ein gutes Dutzend Mäuse, die über den spiegelnden Marmorboden flitzten, als wären da Schlittschuhe an ihren Füßen. Ich war die einzige menschliche Person an einem Ort, der vermutlich nie ohne Menschen gewesen ist. Ich erinnere mich, selbst inmitten der Nacht habe ich im Terminal des Flughafens immerzu flüsternde Menschen wahrgenommen, auch Schlafende auf Sitzbänken oder Stühlen der Cafés. Nun Stille, kein Traum erzählt. Selten einmal das Geräusch sich bewegender Zeichen auf einer Anzeigetafel. Aus Neuseeland kommend sollte Minuten später ein Flugzeug landen, ein Hinweis wie ein letzter Reflex. Jene über den spiegelnden Boden dahin gleitenden Mäuse jedoch, unbeirrt, ob sie sich wunderten über diese eine wartende Person im Saal, die ich selbst gewesen war in einem Moment des Notierens auf meiner flachen Schreibmaschine? Wie ich sie vermisste, Stehschläfer, meine Stehschläfer, welche nicht Vögel sind, Flamingos, sagen wir, nein, Stehschläfer, die Menschen sind, gegenwärtige Personen, die sich, sollten sie einmal zurückkehren, genau so verhalten werden, wie das Wort, das sie bezeichnet: Sie schlafen im Stehen. — stop
Paris
im Sommer
kurz nach
Sars-Cov‑2
stimmen
india : 20.12 UTC — Gestern hatte ich mich plötzlich an Vaters Stimme erinnert. Die Stimme sagte: Aber das ist doch Kokolores. Dann lachte die Stimme. Und ich dachte noch daran, wie ich vor Jahren einmal bemerkte, dass ich mich für einen Moment nicht mehr an die Stimme meines Vaters erinnern konnte. Wie ich auch suchte, ich fand sie nicht. Ich war natürlich sehr erschrocken gewesen. Anstatt der Stimme meines Vaters, hörte ich die Stimme des großen Erzählers Isaak B. Singer, eine helle und zugleich raue Stimme, die der Stimme meines Vaters sicher ähnelte. Ich hatte vor ein oder zwei Jahren Singers Stimme in einem Filminterview gehört. Fotografien zeigen den alten Mann spazierend am Atlantik. Auch mein Vater war mehrfach in Brighton Beach gewesen, wenn ich nicht irre. Plötzlich kehrte die Erinnerung an die Stimme meines Vaters zurück. Isaac B. Singers Geschichte im übrigen geht so: Kurz nach meiner Ankunft ( in Amerika ) betrat ich zum ersten mal eine Cafeteria, ohne zu wissen was das ist. Ich hielt es für ein Restaurant. Ich sah lauter Leute mit Tabletts und fragte mich, warum man in so einem kleinen Restaurant so viele Kellner brauchte. Ich gab jedem, der mit einem Tablett vorbeikam, ein Zeichen. Ich hielt sie alle für Kellner und wollte etwas bestellen. Aber sie ignorierten mich, manche lächelten auch. Und ich dachte, was für ein unwirklicher Ort! Es war wie in einem Traum. Ein kleines Café mit so vielen Kellnern, und niemand beachtet mich! Irgendwann begriff ich dann, was eine Cafeteria ist. Sie wurde mein zweites Zuhause. Die Cafeterien wurden eine Art Zuhause für Flüchtlinge aus Polen, Russland und anderen Ländern. Viele meiner Geschichten spielen in Cafeterien, wo all diese Menschen aufeinandertrafen: die Normalen, die weniger Normalen und die Verrückten. Das ist also der Hintergrund meiner Geschichten, die in Cafeterien spielen. – stop
Spuren einer Zeit
da mein Vater
das Wort
Kokolores
sagte
sekunde
himalaya : 22.37 UTC — Eine gute menschliche Sekunde könnte folgend gestaltet sein. Ich sage in dieser Sekunde: Komm, das ist ja interessant. Erzähl mir Deine Geschichte! — So könnte es gehen. Auch dann, wenn ich mit Menschen spreche, die mir fremd sind, vielleicht unheimlich, Menschen, die ich fürchte oder zu fürchten habe: Komm, das ist ja interessant. Erzähl mir Deine Geschichte. — stop
von vögeln
sierra : 22.08 UTC — Kleine oder handliche fliegende Fotoapparate sind zunächst zu kleinen fliegenden Filmkameras geworden. Man kann sie mit Hilfe eines Mobiltelefons und zweier Daumen steuern. Diese fliegenden, filmenden aufmerksamen Augen scheinen Objekte der Vogelwelt geworden zu sein. Man könnte nun weiteren durchbluteten Vögeln in der Luft begegnen. Man könnte ihnen folgen. Man könnte gleichwohl Menschen besuchen, die in höheren Etagen städtischer Wohnhäuser leben. Man könnte Menschen betrachten aus dem Dunkel heraus, ohne vielleicht selbst gesehen zur werden. Man kann, das ist beobachtet, nun seit bald zwei Jahren Sprengstoffe laden und aus größerer Höhe zur Erde hin stürzen. Beobachtende Vögel sind zu Raubvögeln geworden, sie rauben Bilder und töten. Die Vorstellung heute, spazierend im Palmengarten, die Vorstellung sehr kleiner zierlicher Drohnen, die herumfliegen, um da und dort in den Städten und in den Wäldern, Proben zu nehmen von Kot, aus Abfallstoffen der Müllhalden, Gewässern, auch unmittelbar aus den Blutkreisläufen lebender Organismen, von Kühen und von Menschen, denkbare Welten. — stop
ai : RUSSISCHE FÖDERATION
MENSCH IN GEFAHR : “Die Künstlerin Aleksandra Skochilenko ist wegen “Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die russischen Streitkräfte” (Paragraf 207.3 des Strafgesetzbuchs) zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, weil sie Preisschilder in örtlichen Supermärkten durch Antikriegsinformationen ersetzt hat. Hierbei handelt es sich nicht um eine international als Straftat anerkannte Handlung. Der Straftatbestand beschneidet das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit auf eine Weise, die sowohl den völkerrechtlichen als auch den verfassungsrechtlichen Verpflichtungen Russlands zuwiderläuft. Aleksandra Skochilenko leidet an Zöliakie und einer Herzerkrankung. Ihren Ärzt*innen zufolge benötigt sie deshalb eine angemessene medizinische Betreuung sowie eine streng glutenfreie Diät, die im Strafvollzug nicht möglich ist. Die Künstlerin befindet sich bereits seit mehr als 19 Monaten in Haft. Ihr Gesundheitszustand hat sich im Gefängnis stark verschlechtert, und eine anhaltende Inhaftierung wird dies noch verschlimmern bzw. kann sogar ihr Leben gefährden. Alexandra Skotschilenko ist eine gewaltlose politische Gefangene, die nur aufgrund der Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung inhaftiert ist. Sie muss umgehend und bedingungslos freigelassen werden.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen unter > ai : urgent action
Aleksandra Skochilenko
vor Gericht
undatierte
Fotografie