india : 20.02 UTC — Fliegen existieren, die sich im Moment der Dunkelheit an eine Wand setzen, auf ein Buch, auf den Boden, auf das vom Taglicht erwärmte Holz meines Schreibtisches. Dort verweilen sie still, bis es wieder hell wird, sie sind die Schläfer unter den Fliegen, Nachtschläfer. Indessen sind weitere Fliegen zu beobachten, die kaum sichtbar sind, solange Licht ist in meinen Zimmern, sie scheinen sich mittels Bewegungslosigkeit zu verstecken. Ich höre sie nicht, ich sehe sie nicht, ich vergesse, dass sie anwesend sind oder ihre Anwesenheit möglich sein könnte. Und dann ist also Dunkel. Unverzüglich fliegen sie los, Spuren der Duftmoleküle folgend landen sie auf Wangen, Stirn oder einer Schulter, die freilegt, die schläft, die in diesem Augenblick der Landung erwacht. Man könnte sagen, die Nachtflieger unter den Fliegen, bewirken Licht. Kaum stehe ich schlaftrunken neben dem Bett, haben sie sich bereits wieder versteckt. Sie wissen um den Zorn. Und sie wissen, dass bald wieder Dunkel werden wird. — stop
Schlagwort: wange
von einer walzenspieldose
nordpol : 22.58 UTC — Vor Jahren, zur Sommerzeit, an der Seite einer schwermütigen Frau durch tropfenden Wald nahe eines Krankenhauses spaziert. Es hatte geregnet, eine Sintflut, das Kleid der Frau, von dem sie erzählte, dass es sich um ein brennendes Kleid handele, klebte an ihrem Körper fest. Schmal war sie geworden, zerbrechlich, fast durchsichtig die Haut ihrer Hände, ihrer Wangen, ihres Halses. Ich erinnere mich, dass ich ihr Libellen zeigte, sie jagten dicht über den dampfenden Boden hin, Walderdbeeren, einen Frosch. Ich fragte nach ihren Gedanken, aber ich konnte sie nicht erreichen, auch mit meinen Blicken nicht, weil sie mich nicht ansehen wollte, sondern vor sich hin starrte, indem sie vorsichtig ihre Schritte setzte, als würde der Boden unter ihren Füßen nicht wirklich existieren. Ihr feines Gesicht, ich erinnere mich, ihre hellen Augen, hell von Schmerz und Furcht. Wie sie nach einer langen Zeit des Schweigens sagte, niemand könne verstehen, wie sie sich fühle, kein Mensch, das sei schrecklich, und das Atmen, die Angst, die Leere, der Eindruck zu fallen, und dass sie nicht wisse, wann das alles wiederkommen würde, wenn es doch einmal aufgehört haben sollte. In einer ihrer Hände barg sie eine Spieldose. Manchmal hielt sie die kleine Maschine vor ihr Gesicht und drehte an einer Kurbel. Sie neigte dann den Kopf zur Seite, und für einen Moment schien der Schmerz nachzulassen, eine Ahnung im Sommerregen, eine Erfahrung größter Ferne und Hilflosigkeit inmitten zirpenden, pfeifenden, rauschenden Lebens. — Ich habe von dieser Begegnung im Wald bereits einmal erzählt. Weil ich heute über wasserfeste Walzenspieldosen notierte, erinnerte ich mich. — stop
maskentier No 1
tango : 0.06 UTC — In einer gezeichneten Vorstellung der Maskentiere sind Augen zu bemerken. Das ist sehr seltsam, weil Augen nicht eigentlich sinnvoll oder unverzichtbar sind für den Zweck, dem Maskentiere bald einmal dienen werden. Es ist nämlich so, dass Maskentiere in der Lage sein sollten, sich auf menschliche Münder und Nasen niederzulegen, um dieselben zu beatmen, demzufolge Luft aus der Atmosphäre zu entnehmen, um diese eventuell kontaminierte Luft für Menschen oder andere Tiere sorgfältigst zu filtern, indem sie in Stunden, da sie ihrer Bestimmung folgen, auf vielfältig gestalteten Wangen, Nasenrücken, Halspartien so dicht zu liegen kommen, dass kein Gramm einer Virenlast je an ihren Rändern oder Enden entweichen könnte. Es ist stattdessen ganz wunderbar saubere Luft, die sie spenden, und es ist ganz wunderbar saubere Luft, die sie im Gegenzug wieder an die Welt zurückgeben werden. Natürlich ist denkbar, dass kein Wort, kein Schrei durch ihre Lederhaut hindurch nach draußen dringen wird, es wird also stiller unter den Menschen, die schweigen und sich sicher fühlen, sobald sie mit ihren wärmenden Masken über Straßen und durch Warenhäuser spazieren. Dann ist Abend geworden, und man legt das getragene Tier zurück in einen Behälter, der mit Wasser gefüllt ist. Dort schwimmen sie dann aufgeregt unter weiteren Maskentieren herum und erzählen sich Geschichten, was sie hörten und was sie gesehen haben während des Tages, indessen sie sich säubern und paaren, um weitere Maskentiere zu erzeugen. — Auch Ohren, jawohl! — stop
die fotografien meines vaters
marimba : 14.12 UTC — Als ich noch ein Kind gewesen war, lernte ich bald das Geräusch der Fotografien kennen. Es war, zum Beispiel, an einem Samstag. Der Fotoapparat, der das Licht zu fangen vermochte, befand sich irgendwo außerhalb meines rollenden zu Hauses in den Händen meines Vaters, der die Linse auf mich richtete oder in den Himmel hinauf oder auf das lachende Gesicht meiner schönen Mutter, die den Kinderwangen schob und schaukelte. Dann, auch an jenem Samstag zum Beispiel, war sehr bald ein wunderbares Geräusch zu hören, das ich noch immer in meinem Gehirn nachbilden kann, eine Sammlung sehr heller trillernder, auch raschelnder Töne, ein Gleiten von 1 Sekunde Dauer. Und noch einmal, ja, er lacht, sagte mein Vater, und dass ich tatsächlich lachte, würde ich einige Jahre später mit eigenen Augen sehen vor einer Leinwand sitzend, auf die das Licht fiel, das mein Vater eingefangen hatte. Dieses Licht, das aus einem surrenden, hechelnden grauen Kasten strömte, war ein Licht, das den Staub der Luft zum Leuchten brachte, als würde es schneien in unserer kleinen Wohnung. Fotografieren war für mich zunächst ein Ton, nachdem sich auch die Vögel in den Wäldern und Parks herumdrehen wollten. — stop
oktoberklee
nordpol : 8.12 UTC — Vom Bildschirm aus spricht eine ältere Frau, erzählt von Kontaktverfolgung wie sie im Gesundheitsamt, das sie leitet, verwirklicht wird. Ruhige Sprache, klug, sie scheint widerstandsfähig zu sein, gesund, man möchte meinen sie sei vielleicht eine Almwirtin, die in großer Höhe bei Wind und Wetter arbeitet. Nur ihre Stirn, ihre Augen, ihr graues Haar sind zu sehen. Mund, Nase, Wangen liegen hinter einem Mundschutz verborgen. Den möchte ich gern entfernen, weil ich diese energisch und zugleich warm und freundlich sprechende Person, wahrnehmen möchte, als wäre nicht Pandemiezeit. Tatsächlich entdecke ich in der digitalen Sphäre bereits im ersten Versuch eine Fotografie, die sie zeigt, als sie noch ohne Maske arbeiten konnte. — Heute leichter Regen, die Straßen von Kastanien bedeckt, Eichhörnchen durchsuchen das Meer der Früchte nach genießbaren Nüssen, die sie nicht finden. Es wird einen warmen Winter geben. Unter den Bäumen blüht der Klee. — stop
von händen
india : 22.28 — Hände, meine Hände, die sich benehmen, als wären sie Lebewesen für sich, dahin tasten, dorthin tasten, über Handläufe gleiten, Klingelknöpfe berühren, Äpfel und Birnen, ein Päckchen, ein Buch, ein Telefon, meine Schreibmaschine, auch plötzlich, ich bemerks zu spät, über meine Stirn spazieren, über Nase und Mund, weil sie sich Jahrzehnte lang ungestraft in dieser Weise bewegen durften. Ich dachte an Glöckchen, die an meinen Fingern befestigt, mich warnen würden, sobald ich meine Hände bewege, damit ich sie niemals vergesse, an elektrische Kontaktblättchen, die mich per Funksignal unverzüglich informieren werden, sobald ich mich mit meinen Händen eben Mund, Nase, Wangen, Stirn und Augen zu nähern drohe. — stop
halsposaune
alpha : 15.12 — Es ist Freitag. Seit einer halben Stunde verharrt der Hilfspolizist Thomas Liebermann an der Centralstation vor dem Gleis 8 völlig bewegungslos, weil ihm ein sehr kleiner Mann begegnet war, der über Fähigkeiten verfügte, die Herr Liebermann nicht vorhersehen konnte. Es war nämlich so gewesen, dass er diesen kleinen Herrn kontrollieren, das heißt präzise, den kleinen Mann aus der Halle des Bahnhofes entfernen wollte, weil der kleine Herr sehr ärmlich gekleidet war und außerdem schmutzig und verletzt durch eine Wunde an der linken Wange, die nicht sehr gut, vielmehr äußerst schrecklich wirkte. Sie bewegte sich nämlich, irgendetwas in der Wunde bewegte sich. Nun ließ sich der kleine Herr, der einen schäbigen, blauen Koffer auf den Boden abgestellt hatte, nicht bewegen in Richtung des Ausganges zu gehen. Er sah Herrn Liebermann stattdessen mit einem festen Blick entgegen, weil er der festen Überzeugung gewesen zu sein schien, dass er sich nicht oder nicht auf Befehl hin auf den Weg machen würde hinaus in die Kälte. Kurz darauf öffnete der alte Mann seinen Mund. In diesem Augenblick erkannte Hilfspolizist Thomas Liebermann, dass er etwas Außergewöhnliches erlebte. Denn in den Rachen des Mannes tief im Schlund war, nunmehr gut sichtbar, der Klangtrichter einer kleinen Posaune eingelassen. Von dort her war unverzüglich ein sonorer Ton zu hören, der die Halle erbeben ließ, sowie Herrn Liebermann in einen Zustand der Erstarrung versetzte. Das war vor einer halben Stunde gewesen, aber das erzählte ich bereits. Auch drei Tauben ließen ihr Leben. — stop
vor dem telefon
nordpol : 0.05 — Als ich die alte Dame im Haus der alten Menschen besuchte, war sie schon wach und bekleidet gewesen. Sie saß in einem Rollstuhl, trug Turnschuhe an ihren Füßen, das Haar war gekämmt, rosige Wangen. Anstatt mich zu begrüßen, sagte sie: 7805355, wir müssen uns kümmern, ich telefoniere die ganze Nacht, aber es geht niemand dran, es geht einfach niemand dran, 7805355. Die alte Dame wiederholte diese Nummer 7805355 in hoher Frequenz, sie hörte nicht auf, diese Nummer immer wieder vor sich her zu sagen. Wir verließen ihr Zimmer, ich schob sie durch Flure des Hauses der alten Menschen. Wir waren zunächst im Garten, dann im Park, dann auf einem Weg unter Apfelbäumen. Vögel zwitscherten. Die Luft war warm vom Licht der tief stehenden Sonne. Wenn ich anhielt, um nachzusehen, wie es der alten Dame ging, bemerkte ich, dass sie immer noch die Nummer eines Telefons vor sich hin murmelte, als ob sie eine Schallplatte in sich abspielte, die aufhörte, weil sie das Ende ihrer Spur verlor, einen Ausgang. Auch am Nachmittag, die alte Dame hatte geschlafen, wurde unentwegt von genau jener Telefonnummer gesprochen, die schon die Nummer des Morgens gewesen war. Bald wurde Abend. — stop
mrs sini reiss
marimba : 0.08 — Vor einiger Zeit besuchte ich Mrs. Sini Reiss, die im 22. Stock eines Wohnhochhauses nahe der Clark Street wohnt. Ich hörte, sie sei hoch betagt und habe ihr Apartment seit über zehn Jahren nicht verlassen. Die alte Dame lese viel und schaue gern vom Balkon aus zu den orangefarbenen Schiffen hin, die zwischen Manhattan Süd und Staten Island pendeln. Ich erkundigte mich, ob ich mich mit der alten Dame unterhalten müsse. Nein, nein, ich solle nur ein paar Getränke vorbeibringen und vielleicht ein bisschen nach dem Müll schauen, Mrs. Reiss habe noch nie einen deutschen Mann kennengelernt, nur welche im Fernsehen gesehen, sie werde sicher neugierig sein, sie spreche aber nur sehr wenig, sie werde also neugierig vor allem mit ihren Augen sein. Überhaupt solle ich mich nicht wundern, ich würde das hören sobald ich aus dem Aufzug steige, in ihrer Wohnung singen Vögel und brüllen Affen und zetern Zikaden unentwegt. Wenn du die Augen schließt, dann meinst du dich im Urwald zu befinden, das ist so, weil es in den Ohren der alten Dame seit vielen Jahren heftig rauscht und pfeift, weshalb sie jene fremden Stimmen in ihre Wohnung holte, damit sie das Geräusch, das sich in ihren Ohren befindet, nicht als ihr eigenes Geräusch wahrnehmen müsse. Mrs. Sini Reiss trage ein Wölkchen schlohweißen Haares auf dem Kopf, ihr Mund sei hellrot geschminkt, ihre Wangen aprikosenfarben bepudert, sie trage ein dunkelblaues Kostüm, und sie lese die New York Times von der ersten bis zur letzten Seite Tag für Tag, sie wisse über die Welt sehr gut Bescheid, aber sie wolle eigentlich nichts hören und nicht sprechen, sondern nur die Zeitung lesen und den Vögeln und Zikaden lauschen. Genau so ist es gewesen. Es war einem Dienstag. — stop
von kreide und schnee
nordpol : 22.01 — Farben antarktischen Eises auf einem Gesicht, noch Kreidefarben, noch Pigmente ohne Öle, Wangen, Nase, Lippen, Stirn, von flinken, träumenden Fingern im Prozess der Arbeit scheinbar ohne Bewusstsein im Versehen auf die eigene Haut gezeichnet, Anmutungen von Blau, von Grau, von Weiß, von Schwarz. Es scheint bedeutend, wenn nicht unverzichtbar zu sein, Farben von Schwarz, von Umbra, Kernschattenfarben, in die Hand zu nehmen, die Farben der Wüstengesteine, um das Eis der Antarktis, das Eis eines grönländischen Gletschers vorauszeichnen zu können. Ein leises Gespräch, wispernd, in dem Sandgesteine sich auf die Leinwand legen, zärtlich fauchend, das Licht in den meerwärts fließenden Schatten, in den Winkeln eines Mundes. Wie Melly Cusaro, die an einem winterlichen Tag beschloss, den Mars zu bereisen, fortan das Wesen des Eises und des Schnees zu begreifen sucht. Wer nach Wasser forschen wird in der Weltraumferne, sagt sie, muss sich von der Wüste und vom Schnee eine präzise Vorstellung gezeichnet haben. Es schneite in Brooklyn, Schnee lehnte an Wänden alter Häuser, türmte sich auf Balkonen, rieselte im zarten Atem eines fast windstillen Tages von den Ulmen. Wer mochte, konnte mit Schlittschuhen über die Promenade auf den Höhen fahren. Welches Geräusch würde in der Stille ein Kontrabass von Eis erzeugen? — stop