lima : 10.27 — Die Arme meiner Cousine sind kurz, an ihren Händen fehlen die Daumen. Als ich noch ein Kind gewesen war, beobachtete ich gern ihre Füße, die sich bewegten als wären sie nicht Füße sondern Hände. Man kann mit den Füßen malen, das wusste ich schon immer, und man kann mit den Füßen in Büchern blättern und einen Löffel zum Munde führen, man kann auf Füßen gehen und man kann sich mit den Füßen die Haare kämmen. Je nachdem, von welchem Standpunkt aus man das betrachtet, ist das seltsam oder eben nicht. Meine Cousine machte die Erfahrung, dass man sie versteckte, wenn Besucher zu ihrer Familie nach Hause kamen. Ich selbst dagegen wurde gerufen, damit ich betrachtet werden konnte. Mein Gott, ist er doch wieder kräftig gewachsen, der kleine Kerl! Er heißt Andreas, nichts weiter. Meine Cousine heißt Lilli, und sie heißt noch das Wort Contergan dazu, weil das viele Menschen sofort denken, wenn sie die Malerin Lilli Eben sehen. Da kann man nichts machen. Wenn etwas anders ist an einem Menschen, wenn etwas zuviel ist oder fehlt, dann bekommt das Fehlende oder das Zusätzliche einen Namen, der ein Leben begleitet, wie das meiner Cousine, die eine starke Persönlichkeit geworden ist. Aber die Hände und der Rücken tun außerordentlich weh mit dem Alter, und auch die Zähne tun weh, weil sie soviel mit den Zähnen machen musste in ihrem Leben. Eine einzige kleine Tablette, nicht wahr, die ihre Mutter, meine Tante, zu sich genommen hatte zu einer Zeit, da sie noch nicht wusste, dass sie schwanger gewesen war. Tausende Tote. Zehntausende Menschen mit einem oder mehreren Handicaps. Am vergangenen Freitag wurde von dem Geschäftsführer der Firma Grünenthal der Versuch einer Entschuldigung unternommen, ohne weiterführende Verantwortung übernehmen zu wollen. Er sagte: Wir bitten um Entschuldigung, dass wir fast 50 Jahre lang nicht den Weg zu Ihnen von Mensch zu Mensch gefunden haben. Wir bitten Sie, unsere lange Sprachlosigkeit als Zeichen der stummen Erschütterung zu sehen, die Ihr Schicksal bei uns bewirkt hat. — stop
Aus der Wörtersammlung: wange
korallenbäume
olimambo : 7.15 — Vergangene Nacht Fred Wesley im Traum. Wir fuhren auf einer Staten Island Fähre über die Upper Bay zu New York. Ich glaube, es war die Samuel I. Newhouse gewesen. Fred Wesley bot einen merkwürdigen Anblick. Seine Ohren waren von dem Material einer Posaune, auch unter der Haut seiner Stirn und seiner Wangen schimmerte es bereits metallen. Er schlief so fest, dass ich ihn nicht wecken konnte. Papageien flatterten auf dem Schiffsdeck herum. Sie stürzten auf jeden der Reisenden los, sobald er sich erheben wollte. Ein älterer Mann und ein Junge saßen gleich gegenüber. Der Mann, vielleicht der Großvater des Jungen, ritzte Schriftzeichen mit einem Messer in das Holz einer Sitzbank. Draußen über dem Meer, Dämmerung. Ein Kanonenboot der US Coast Guard begleitete das Schiff. Ich spürte, dass aus meinem Hals Kiemen gewachsen waren, Korallenbäume. Ein vielschichtiges Pfeifen war zu hören gewesen, indem ich atmete. Davon wachte ich auf. stop. Nichts weiter. — stop
ein ohr
sierra : 0.01 — Im Traum hatte eines meiner Ohren seine Position verlassen. Das wandernde Ohr hocckte, als ich erwachte, auf meiner linken Wange wie ein wildes Tier, das ich zu bändigen trachtete, in dem ich mit ihm ein Gespräch zu führen versuchte. Beschwörung. Verhandlung. — stop
geborstene wangen
marimba : 9.28 — Siebenhundert Menschen sollen vor wenigen Wochen während einer Demonstration auf dem Tahrir-Platz verletzt worden sein. Das Trauma der Versehrten, Verbrennung, verätzte Bronchien, steife Hände und Arme, Sprachstörung, blinde Augen, zertrümmerte Kiefer, geborstene Wangen, verlorene Erinnerung. Was bedeutet, der Blick ist in dunkle Seitenstraßen der Stadt gerichtet, in Zimmer versteckter, notdürftig ausgerüsteter Ambulanzen, das Wort der Verletzung in diesen Zusammenhängen? — stop
tonwellenschrauben
echo : 22.18 – Lungerte im Wald unter Louisianamoosen. Sturmgeräusche, auch Zikaden waren zu hören gewesen, ihre Flügelstimmen, hell, schrill, gläsern, Tonwellenschrauben. Auf Knien kroch ich bald jagend durchs Unterholz, wollte eines der lockenden Tiere fangen. Anstatt Insekten entdeckte ich Spieldosen, hunderte, ja tausende, kreisende Lärmmaschinen. Sie leuchteten, feuerrot und blau, je nach Höhe oder Tiefe ihres Gesangs. Sobald ich mich näherte, um eines der Wesen zu ergreifen, schossen sie senkrecht in die Luft, ganz so als würden sie über prall gefüllte Druckluftbäuche fürs flüchtende Reisen gebieten. Dann wurde ich wach. Es war Abend geworden. Samstag. Ein Orkan näherte sich von Westen, knisternde Fenster, Frösche schwebten summend vor den Fenstern. Zwei Stunden lang dachte ich über die Erfindung dienstbarer Käfer nach, Gattung, die Stille zu erzeugen vermag, wann immer gewünscht. Ich stellte mir vor, wie sie sich rückwärts über meine Wangen hin zu meinen Ohren bewegen, wie sie ihre kühlen Leiber in meine Gehörgänge versenken, wie sie sich dehnen und strecken, sanft, sanft, bis sie nahezu verschwunden sein werden. Zwei Fühler noch, ein Paar kleinster Augen links, ein Paar kleinster Augen rechts, Dochte, nein, Diodenlichter. Ich hörte nichts.
PRÄPARIERSAAL : nachtarbeit
tango : 23.15 — Im Regen mit Tonbandgerät unterm Schirm am See. Samstag. Augustkastanien fallen aus den Bäumen. Auf den Häuptern der Rotwangenschildkröten, die sich zu meinen Füßen arglos versammeln, als lauschten sie wie ich Magnetkopfstimmen, feuchte Häubchen von Ahornsamen. Kaum ein Mensch unterwegs. Ich dachte für einen Moment, weiß nicht wie das gekommen ist, dass ich an diesem Ort ohne Zeugen sofort den Versuch unternehmen könnte, eine der Schildkröten an ihrem Hals zu packen, sie aus dem Wasser zu heben, um sie zu Hause in der Küche mit einem Meißel aufzumachen. Auf Porzellan gebettet kurz darauf ein Reptilienhäufchen, rosafarben, feinste Streifen Schildkrötenbauches, dessen eigentliche Gestalt ich mir hinter Panzerhäuten liegend zur Zeit nicht vorstellen kann. — 22 Uhr 58. Janine erzählt: > Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich nachts aufwachte und den haarlosen Kopf meines Freundes vor mir gesehen habe. Ich erschrak fürchterlich. Ich saß ein paar Minuten senkrecht im Bett, dann bin ich aufgestanden. Wir haben eine sehr schöne Küche. Ich habe von Zeit zu Zeit in der Küche kampiert. Ich habe dort gelernt und manchmal bin ich mit dem Kopf auf dem Anatomieatlas eingeschlafen. Merkwürdig, über wie viel Kraft ich doch verfüge. Ich war beim Tanzen, zweimal wandern in den Bergen, ich habe gepaukt und ich habe mit dem Skalpell gearbeitet. Ich habe vormittags und mittags und Abend für Abend in der Bibliothek gelesen. Und wenn ich nachts in der Küche eingeschlafen bin, dann waren da plötzlich sehr scharfe Bilder in meinem Kopf. Aufblitzende Fotografien, die überfallartig Angst erzeugten. Der geöffnete Mund eines Toten. Sandige Zungen. Ein hoch aufragender, dunkelroter Penis. Das zerteilte und gehäutete Gesicht einer alten Frau. Das war nicht geträumt, ich habe diese Bilder bei vollem Bewusstsein vor mir gesehen. Jetzt kommen sie mich seltener besuchen.
syrischer traum
tango : 6.15 — Ich hatte einen beunruhigenden Traum. In diesem Traum wurde mit Panzern auf protestierende Menschen geschossen. Projektile, groß wie Koffer, flogen durch die Luft. Wenn sie einen Menschen trafen, rotierten Körperteile gegen den Himmel. Überhaupt bewegte sich die Welt in diesem Traum sehr langsam, die Blätter der Bäume, Kinder, die unter Platanen Himmel und Hölle spielten, auch jene fliegenden Eisenkoffer und das Feuer, das aus den Geschützrohren der Panzer trat, alles zur Zeitlupe verzögert. Einmal saß ich auf einer Bank. Ich hielt den Kopf eines Jungen in Händen. Durch ein furchterregendes Loch in der linken Wange des Kindes spähte ich in das tobende Gesicht eines Offiziers. Das alles war mir, noch im Traum befindlich, sehr merkwürdig vorgekommen, weil die singende Stimme eines Kindes in nächster Nähe zu vernehmen gewesen war. — stop
luftgespräch
echo : 8.18 – Ich spazierte in einer Stadt seltsamer Menschen. Diese Menschen waren Wesen ohne Augen in ihrem Gesicht, weswegen ich sie nicht begrüßen konnte, was ich natürlich schon deshalb versuchte, weil ich herausfinden wollte, ob diese Menschen, die sich in engen Straßen fortbewegten, ohne je aneinanderzustoßen, eventuell über geheime Augen verfügten, sehr kleine Augen in den Nasenflügeln, sagen wir, oder ihren Wangen, feinste Facetten. Als ich einmal den Himmel über mir betrachtete, bemerkte ich wegweisende Sätze auf Schildern und Pfeile und Spiegel, so dass ich mich selbst betrachten konnte, meinen in den Nacken geworfenen Kopf. In einer Bahnhofshalle ruhten wartende Reisende auf Bänken. Sie lagen so zueinander, dass ihre Schädeldächer sich fast berührten. Manche schliefen, andere unterhielten sich. Je ein Auge dort pro Kopf von feinem Haar umgeben. Aus der Ferne betrachtet sah das ganz so aus, als würden die Liegenden Selbstgespräche führen oder mit der Luft. Dann wach. — stop. — Montag. Acht Uhr zweiundzwanzig Minuten in Bengasi, Libyen. — stop
gebäck
ginkgo : 6.05 — War bei Harrods gewesen, ein hell ausgeleuchteter Saal. Verkäuferinnen in grünen Overalls stapelten kunstvoll menschliche Arme und Beine und Köpfe auf Tische. Klare, in den Augen schmerzende Substanz fiel von der Decke. Bald darauf Kurzstreckenfahrt im U‑Bahnwaggon. Ein feuchter menschlicher Arm ruhte auf meinen Oberschenkeln. Dieser Arm nun war in Zeitungspapier gewickelt, seidenweiße Substanz tropfte auf den Boden. Gleich gegenüber ein Mann und eine Frau. Das Gesicht des Mannes dampfte. Die Frau, die eine Melodie vor sich hinsummte, schälte mit einem Teelöffelchen grammschwere Fleischproben aus den Wangen des Mannes, um sie entweder sofort zu verzehren oder weiteren Fahrgästen darzubieten. — stop. — Montag. stop. Duke Ellington : Take the “A” Train. stop. Es ist denkbar, dass ich über das Gedächtnis eines Elefanten verfüge. — stop
spieldose
tango : 0.03 — Vor Jahren, zur Sommerzeit, an der Seite einer schwermütigen Frau durch tropfenden Wald nahe eines Krankenhauses. Es hatte geregnet, eine Sintflut, das Kleid der Frau, von dem sie erzählte, dass es sich um ein brennendes Kleid handele, klebte an ihrem Körper fest. Schmal war sie geworden, zerbrechlich, fast durchsichtig die Haut ihrer Hände, ihrer Wangen, ihres Halses. Ich erinnere mich, dass ich ihr Libellen zeigte, sie jagten dicht über den dampfenden Boden hin, Walderdbeeren, einen Frosch. Ich fragte nach ihren Gedanken, aber ich konnte sie nicht erreichen, auch mit meinen Blicken nicht, weil sie mich nicht ansehen wollte, sondern vor sich hin starrte, indem sie vorsichtig ihre Schritte setzte, als würde der Boden unter ihren Füßen nicht wirklich existieren. Ihr feines Gesicht, ihre hellen Augen, hell von Schmerz und Furcht. Wie sie nach einer langen Zeit des Schweigens sagte, niemand könne verstehen, wie sie sich fühle, kein Mensch, das sei schrecklich, und das Atmen, die Angst, die Leere, der Eindruck zu fallen, und dass sie nicht wüsste, wann das alles wiederkommt, wenn es doch einmal aufgehört haben sollte, und warum. In einer ihrer Hände barg sie eine Spieldose. Manchmal hielt sie die kleine Maschine vor ihr Gesicht und drehte an einer Kurbel. Sie neigte dann den Kopf zur Seite, und für einen Moment schien der Schmerz nachzulassen, eine Ahnung im Sommerregen, eine Erfahrung größter Ferne und Hilflosigkeit inmitten zirpenden, pfeifenden, rauschenden Lebens. Gestern in einer besonderen Weise von dem erschütternden, hoffnungsfrohen Film Helen in die Tiefe erzählt. — Top five der schlechtesten, gut gemeinten Ratschläge von Leuten, die überhaupt keine Ahnung haben: Fahr in die Ferien, lies ein Buch, lass Dir die Haare schneiden, renovier Deine Wohnung, lerne Joga.