zoulou : 18.55 UTC — Im Park haben, von Bambuswäldern aus, Bienenschwärme Angriffe auf Parkbesucher geflogen. Die Bienen sind unsichtbar, aber ihr helles dröhnendes Tausendfach gesetztes Summen, lässt Besucher zurückweichen, sie müssen sich nicht einmal zeigen, das geht sofort unter die Haut, läutet ein urtümliches Gedächtnisgeräusch Gefahr, das den spazierenden Menschen als Art vertraut zu sein schneit. Auch die Vögel, die den Park bewohnen sind dort stumm. Wale, die den nahenden Teich bewohnen, singen pünktlich einmal zum Ende der Stunden aus Lautsprecherboxen, die unsichtbar sind wie die Bienen. — stop
Schlagwort: gedächtnis
vom nachtstrassenmuseum
alpha : 22.25 UTC — Es ist nicht etwa so, dass Menschen auf der Strasse tief unter meinem Fenster nach Süden hin kurz vor Beginn der Ausgangssperren sich beeilen würden nach Hause zu kommen. Sie gehen voran so wie immer um diese Zeit, aber allein. Es sind ausserdem wenige Menschen, die sich dort unten bewegen. Für einen Moment dachte ich, vielleicht haben sie Eintritt bezahlt für das Museum der Nachstrassen zu Zeit der Ausgangsperre: 150 Euro. Ich muss das beobachten, das Museum, die Menschen, und die Nachtbienen, ihre Geräusche, ihre Wege, ihre Besuche hier oben, wo ich am Fenster stehe. — stop
luftschreiben
charlie : 6.55 UTC — Beim Nachbarn im Keller ruht auf einem kleinen runden Tisch, der von Wachsflecken bedenkt ist, eine mechanische Schreibmaschine. Immer wieder einmal denke ich an diese Schreibmaschine, wenn ich in den Keller absteige, um nach dem Stromzähler zu sehen. Gestern war sie noch immer dort in gelblichen Licht auf dem Tisch zu sehen, bedeckt von etwas feuchtem Staub und Mörtel, der von der Decke fällt, sobald die Erde bebt unter der Stadt. Ich dachte, ich sollte mir eine mechanische Schreibmaschine in die Wohnung holen, das Schreiben wiederholen wie früher noch ohne Möglichkeit einer Korrektur, auch mit der Kraft der Hände arbeiten. Da sind Geräusche der Kinderzeit, sofort kann ich sie aus dem Gedächtnis holen, wie ich mit jeder Taste einen Ton anschlage, manchmal so sanft, so vorsichtig, dass ich das Papier, das über einer Walze spannt, mit dem Druckzeichen nicht erreiche, dass ich, sagen wir, Zeichen in die Luft setze, weich. — stop
fingerschnecke
marimba : 2.28 UTC — Denkbar ist, dass ich das Muskelgedächtnis meiner Sprache bald verloren haben werde, weil ich kaum noch mit Tinten- beziehungsweise Grafitwerkzeugen schreibe, vielmehr auf vorgefundene Zeichen tippe, die sich wie gestempelte Bilder auf Tastaturen befinden. — stop
oktoberklee
nordpol : 8.12 UTC — Vom Bildschirm aus spricht eine ältere Frau, erzählt von Kontaktverfolgung wie sie im Gesundheitsamt, das sie leitet, verwirklicht wird. Ruhige Sprache, klug, sie scheint widerstandsfähig zu sein, gesund, man möchte meinen sie sei vielleicht eine Almwirtin, die in großer Höhe bei Wind und Wetter arbeitet. Nur ihre Stirn, ihre Augen, ihr graues Haar sind zu sehen. Mund, Nase, Wangen liegen hinter einem Mundschutz verborgen. Den möchte ich gern entfernen, weil ich diese energisch und zugleich warm und freundlich sprechende Person, wahrnehmen möchte, als wäre nicht Pandemiezeit. Tatsächlich entdecke ich in der digitalen Sphäre bereits im ersten Versuch eine Fotografie, die sie zeigt, als sie noch ohne Maske arbeiten konnte. — Heute leichter Regen, die Straßen von Kastanien bedeckt, Eichhörnchen durchsuchen das Meer der Früchte nach genießbaren Nüssen, die sie nicht finden. Es wird einen warmen Winter geben. Unter den Bäumen blüht der Klee. — stop
von häubchen
romeo : 0.24 UTC — Das Gedächtnis meiner Haut oder doch etwa ihre Fähigkeit zu vergessen. Nach Stunden, da ich eine enganliegende Maske trage, die 95 Prozent feinster Partikel aus meiner Atemluft filtern soll, meiner Atemluft hin und meiner Atemluft her, vergesse ich, dass Nase und Mund bedeckt worden sind. Ein Stück Schokolade, das ich zum Mund führe, stößt auf Widerstand, Wasser rinnt mir den Hals entlang. Und wie ich auf die Straße trete, das Häubchen von Mund und Nase nehme, so wie ich es lernte anzufassen an seinen Schlaufen für zwei Ohren, fühlt sich das an, als würde etwas fehlen. Der Wind plötzlich, es ist kühl, frisch, dort auf der Haut. Nachts baumeln meine Tageshäubchen vor den Fenstern im Wind. Zwanzig Tage lang schaukeln sie dort von der Sonne bestrahlt, drehen sich, werden nachts von Nachtfaltern besucht. — stop
api
india : 0.20 UTC — Wir kommen Datenspeichern näher, in welchen alle je von Menschenhand geschriebenen und überlieferten Zeichensätze versammelt sein werden. Meine Schreibmaschine könnte tatsächlich einmal mit diesen frei schwebenden Gedächtnissen verbunden sein, und während ich notiere, würde unverzüglich angezeigt, ob der gerade eingegebene Satz bereits einmal aufgeschrieben wurde oder nicht. — Ein warmer Abend. Auf dem Dach des Hauses jenseits der Straße sitzt seit zwei Tagen eine Taube, Dolores, allein. Vielleicht die Hitze. — stop
going to sleep
nordpol : 0.18 UTC — Einmal, während ich einen Text über Hände und Finger notierte, beobachtete ich meine eigenen, arbeitenden Hände und Finger, wie sie die Tastatur der Maschine bedienten, ohne dass ich ihnen bewusst Anweisung erteilte. Bald konnte ich nicht weiter, deshalb machte ich eine kleine Pause und betrachtete zunächst meine linke, dann meine rechte Hand. Sie ruhten Seite an Seite auf der Tastatur der Maschine und warteten. Sie warteten darauf, dass eine Stimme in meinem Kopf diktieren würde, was aufzuschreiben ist. Ich könnte jetzt vielleicht sagen, dass meine Hände darauf warteten, mein Gedächtnis entlasten zu dürfen, weil ich alle Sätze, die ich mit meinen Händen in die Tastatur der Maschine schreibe, nie lernen, nie speichern muss, weil ich bereits vor der Niederschrift weiß, dass ich bald wiederkommen und lesen könnte, was ich notiere und notierte. Ich betrachtete also meine Hände, und weil ich sehr lange Zeit nicht weiter wusste in meinem Text, habe ich in Nathalie Sarrautes wunderbarem Buch Kindheit gelesen. Nach einer Stunde schaltete sich mein Computer aus und ich konnte auf dem Bildschirm folgende Zeile lesen: no signal. going to sleep. — stop
lido santa maria elisabetta
tango : 22.06 UTC — Eine Welt ohne Automobile kenne ich nicht. Auch eine Welt ohne Strom ist mir nicht bekannt. Nach Stunden der Fahrt mittels Wasserbussen hin und her und herum, muss ich deshalb an Land gehen, muss meine Schreibmaschine mit Strom versorgen, um arbeiten zu können. Ich stellte mir einmal vor, wie ich unter Venezianerinnen und Venezianern sitze mit einer klappernden Olympiaschreibmaschine auf den Knien. Oder das Notieren von Hand in ein Notizbuch auf schwankenden Sitzgelegenheiten der Dampfschiffchen reisend. Man kann niemals erahnen, in welche Richtung sich die Welt bewegen wird. Plötzlich fährt die Stiftspitze unter der Hand sprunghaft vorwärts oder rückwärts, zieht eine Linie jenseits geplanter Schriftzeichen, bildet die Bewegung des Meeres auf Notizpapieren nach. In der digitalen Zeit werden verrückte Zeichen, Folge der Meeresbewegung von dem Korrekturgedächtnis der elektrischen Schreibmaschine unverzüglich korrigiert. Eine wunderbare Beobachtung ist, wie ich sicherer werde im Stehen auf dem Wasser im Bus. Beobachtete hunderte Male Knotenbindung in dem Moment, da sich das Batello dem Lande nähert, da es anzulegen wünscht, sodass es für einen kurzen Moment selbst zu Land wird. Wie wir Menschen dann über Brücken gehen, wie tanzen. Am Abend einmal spürte ich die uralte Stadt selbst unter mir schwanken. Da ich mich in diesem Augenblick dem Lido nähere, bemerke ich, dass ich die Erfindung der Automobile bereits nach wenigen Tagen vergessen habe. — stop
poesie
india : 8.15 — Das Internet scheint über ein gewaltiges, flüssiges Gedächtnis zu verfügen, oder ist vielleicht das Gedächtnis selbst. Auch Lügen jeder Art werden erinnert. Oder Erfindungen, die zunächst in Worten formuliert wurden, Geschichten, Poesie. Als man sie dann schützen will, als man ihren digitalen Ursprung löscht, kommen sie doch wieder und wieder in nicht endenden Echos zurück. — stop