charlie : 3.55 — Einige meiner Bücher scheinen über ein geheimes Gedächtnis zu verfügen. Wenn ich ein Buch mit Gedächtnis nach Jahren aus dem Regal nehme und auf einen Tisch lege, öffnet es sich einwenig, ein Raum entsteht, als würde das Buch nach einem Finger rufen, der genau in diesen Raum hineinfassen soll. Ich lese dort Sätze, die mir vertraut sind, vielleicht, weil ich sie oft wiederholte, woran sich das Buch noch immer erinnert. Vor kurzem öffnete sich ein Bändchen Elias Canettis genau in dieser Weise. Entdeckte: Es ist das Gute an Aufzeichnungen, dass sie frei von Berechnung sind. Sie sind zu rasch, sie hatten kaum Zeit, der Kopf, in dem sie entstanden sind, konnte noch nicht fragen, wozu sie zu gebrauchen wären. — stop
Aus der Wörtersammlung: gedächtnis
vom fliegen
echo : 22.08 — Mein Vater hatte ein hervorragendes Gedächtnis. Jahre lang konnte er sich an Geschichten erinnern, die unmittelbar mit Lichtbildern, die er aufgenommen hatte, in Verbindung stehen. Nun, da er gestorben ist, existieren viele dieser Geschichten im Verborgenen, weil mein Vater sich nicht mehr an sie erinnert, sie nicht mehr erzählen wird. In seinem Arbeitszimmer, weiterhin unberührt, steht ein schwerer, alter Schrank gleich neben einem Fenster zum Garten, in welchem sich tausende Aufnahmen in Magazinen befinden. Einige der Magazine wurden beschriftet. Ägypten 1986, Chicago 1978 oder Wandern im Wallis 1969. Auf einer kleinen Schachtel ist folgendes notiert: Andreas läuft. 87 Diafotografien sind in dieser Schachtel enthalten, farbige Aufnahmen, die sich mit meinen ersten Spazierversuchen verbinden. Ich trage weiche, helle Frottehosen und einen roten Pullover. Ich scheine sehr begeistert gewesen zu sein, mache große, runde Augen, manchmal sitze ich auf dem Boden und lache, ein andermal sitze ich auf dem Boden und weine. Auf der ein oder anderen Fotografie kommen Hände von der Seite her ins Bild oder sie kommen von oben. Einmal sind nur meine Füße zu sehen, sehr kleine Füße in blauen Strümpfen. Man könnte meinen, diese Aufnahme würde dokumentieren, dass ich das Fliegen lernte, noch ehe ich richtig stehen und laufen konnte. Indem ich die Bilder meines Vaters beobachte, wird seine Gegenwart intensiv spürbar, er war bei jeder Aufnahme in meiner Nähe gewesen, in der Nähe eines Kindes, das zur Zeit der Lichtnahme noch keine wirkliche Vorstellung davon haben konnte, was Erinnerung ist. Und tatsächlich, ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich das Laufen lernte. – Später Abend. stop. In Brooklyn, Haus 77, Orange St., soll eine Steinkirsche, Steinkirsche No 632, vollendet worden sein. — stop. — 5.08 Gramm. — stop
ohrwörtersuche
himalaya : 0.05 — Heute Nachmittag 601 Optionen gezählt, das Wort Ohr fortzusetzen. Zum Beispiel: Ohrassel Ohrbacken Ohrbaumel Ohrblase Ohrbommel Ohrenaffe Ohrenbläser Ohrspritze Ohrsteinchen Ohrenfinger Ohrenfledermaus Ohrenflüsterer Ohrengeier Ohrengewölbe Ohrlöffel Ohrenhaube Ohrenschmaus Ohrfeigenspiel Ohrensucht Ohrfasan Ohrfeder Ohrenteufel Ohrfeigencommando Ohrengedächtnis Ohrlippe Ohrtaube Ohrwangen Ohrenlos [ nach Grimmsches Wörterbuch digital ] — Bei den Ohrenfingern soll es sich um kleine Finger der linken oder rechten Hand handeln, die üblicherweise als Ohrreiniger verwendet werden. stop. Leichter Regen. — stop
ryūnosuke akutagawa
charlie : 5.05 — Nach der möglichen Existenz von Drohnen im New Yorker Luftraum gefragt, soll der Bürgermeister der Stadt geantwortet haben, dass man solche Entwicklungen nicht aufhalten könne. „Wir werden mehr Sichtbarkeit und weniger Privatsphäre haben”. Es sei keine Frage, ob er selbst das gut oder schlecht finde. Das sei beängstigend, aber er sehe letztlich kaum einen Unterschied zwischen einer Drohne in der Luft und einer Kamera auf einem Gebäude. — In diesem Moment, es ist kurz nach drei Uhr, verlässt die Vorstellung eines Posaunisten, der frühmorgens an Bord der Fähre MS John F. Kennedy spielend einen neuen Morgen begrüßt, während er von einem summenden Flugobjekt in der Größe einer Mandarine umrundet wird, ihren poetischen Raum. — stop. — Minus 5 Grad Celsius. — stop. — Weit unter mir, auf einer Straßenlaterne sitzt eine Amsel. Ich nehme an, dass sie mich sehen kann. Aber es ist noch zu kalt oder zu früh, um zu singen. Ich habe eine halbe Stunde lang in der Beobachtung des kleinen dunklen Vogelschattens mein Gedächtnis trainiert, indem ich versuchte, den Namen eines japanischen Dichters zu lernen, der seit dem 24. Juli 1927 nicht mehr am Leben ist. Er heißt Ryūnosuke Akutagawa. Jetzt ist es kurz vor vier. Nichts weiter. — stop
teegedanken
~ : oe som
to : louis
subject : TEEGEDANKEN
date : dec 21 12 11.05 p.m.
Einige Tage und Nächte haben wir alle gemeinsam in der Werkstatt zugebracht. Noe konnte uns hören in der Tiefe, wir hatten unsere Mikrophone nicht ausgeschaltet, um ihn teilhaben zu lassen an unserem Leben. Jetzt, lieber Louis, jetzt da der heilige Abend näher kommt, wird Noe melancholisch. Er fragte wieder nach seinen Eltern, ob seine Mutter und sein Vater noch lebten. Was sollen wir antworten? Was nur, verdammt, sollen wir antworten? Nichts als die Wahrheit? Wir wissen es nicht! Und so tun wir unser Bestes, Noe aufzuheitern. Benny Goodman spielt von der Konserve: Live at Carnegiehall. Noe liebt Benny Goodman seit Kindheitstagen. Weiterhin haben wir Noe in eine leichte, beruhigende Schwingung versetzt, er pendelt jetzt unter dem Schiff mit einer Amplitude von 20 Metern nach links und nach rechts. Indessen ahnt Noe nicht, was hier oben bei uns vor sich geht. Es ist nämlich so, dass wir unserem Taucher eine Überraschung bereiten werden. Eric, unser Maschinist, hatte die Idee, einen Weihnachtsbaum für Noe zu konstruieren, die Anmutung eines Weihnachtsbaumes genauer, der geeignet ist, in die Tiefe gelassen zu werden. Wir haben uns Mühe gegeben, der Baum ist hübsch geworden, drei Meter hoch, ein Gebilde aus Metall, das über einen Stamm und Äste verfügt. Da und dort haben wir Unterwasserfackeln befestigt, die wir von der Ferne zünden werden. Ein besonderer Abend, lieber Louis, steht bevor! Ob wir das Licht erkennen werden an der Oberfläche des Meeres? Was wird Noe sagen? Und wie werden die Fische, die großen und die kleinen Raubfische reagieren? — Es ist jetzt Freitag und spät. Ein Duft von Zimt, Gewürznelken und Kaffee strömt durch das Schiff. Am Montag werden wir uns ein paar junge Süßwasserwelse braten. Es geht alles also einen guten Weg. Vor Stunden noch zitierte Taucher Noe aus dem Gedächtnis einen weisen Satz, den der Philosoph Guido Ceronetti in seinen Teegedanken notierte. Noe sagte: Wenn ich wie ein Verlierer leben könnte, wäre ich es etwas weniger. — In diesem Sinne, lieber Louis : Ahoi! Dein OE SOM
gesendet am
22.12.2012
2065 zeichen
passagen
sierra : 22.01 — Wieder das Glück, denken und aufzuschreiben zu können mit eigenen Händen, was ich dachte oder was ich denke. Nachtluft von hellen Schatten, als hätte das Wasser ein Gedächtnis von Licht. — stop
gedankengang
alpha : 6.38 — Ich gehe ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. Ich habe schon viel nachgedacht während ich ging. Und ich habe schon viel vergessen während ich ging. Wenn ich gehe, kommen die Gedanken aus der Luft und verschwinden wieder in die Luft. Wenn ich sitze, kommen die Gedanken aus meinen Händen. Sobald ich einmal nicht schreibe, ruhen meine Hände auf den Tasten der Schreibmaschine und warten. Sie warten darauf, dass eine Stimme in meinem Kopf diktiert, was zu schreiben ist. Ich könnte vielleicht sagen, dass meine Hände darauf warten, mein Gedächtnis zu entlasten. Was ich mit meinen Händen in die Tastatur der Maschine schreibe, habe ich gedacht, aber ich habe, was ich schrieb nicht gelernt, nicht gespeichert, weil ich weiß, dass ich wiederkommen und lesen könnte, was ich notierte. Seltsame Dinge. Ich denke manchmal seltsame Dinge zum zweiten oder dritten Mal. Gerade eben habe ich wahrgenommen, dass es nicht möglich ist, zwei Zeichen zur selben Zeit auf meiner Schreibmaschine zu schreiben, immer ist ein Zeichen um Bruchteile von Sekunden schneller als das andere Zeichen. Wenn ich seltsame Dinge gedacht habe, freue ich mich. Wenn ich mich freue, kann ich nicht bleiben, wo ich bin. Die Freude ist ein Gefühl, das mich in Bewegung versetzt. Ich springe auf, wenn ich saß, oder ich springe in die Luft, wenn ich bereits auf meinen Beinen stand. Dann gehe ich ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. — stop
swetlana geier
delta : 0.03 — Ein aufregendes Buch, das ich gerade wiederlese in kleinen Etappen, Wilhelm Genazinos Erzählung Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Einhundertfünfzehn Geschichten eines Mannes, der fürchtet, sein Gedächtnis zu verlieren, Geschichten, die der Mann seinen Freunden erzählt, damit sie ihm später einmal zurückgegeben werden könnten. Ja, so sollte man leben, so genau, dass für jeden gelebten Tag eine erzählbare Geschichte zu verzeichnen ist. Manche dieser Geschichten werden vielleicht nur aus einem einzigen Satz bestehen, einem Gedanken oder einem zitierenden Text, Wörtern wie diesen, die ich gestern, nachdem ich den faszinierenden Film Die Frau mit den 5 Elefanten gesehen hatte und in seine zwölfte Minute zurückgekehrt, der Übersetzerin Swetlana Geier von den Lippen las: Es stellt sich immer wieder heraus, und es ist ein Zeichen für einen hochwertigen Text, dass der Text sich bewegt. Und plötzlich, man hat es vorbereitet und man sieht alles, und man weiß alles, aber plötzlich ist da etwas, was man noch nie gesehen hat. Ein solcher Text ist unerschöpflich. Man kann ihn eigentlich, auch wenn man ihn übersetzt hat oder zweimal, ich hab das jetzt zweimal übersetzt, man kann ihn nicht ausschöpfen. Und das ist eben wahrscheinlich ein Zeichen der allerhöchsten Qualität. Natürlich, man muss lesen lernen.
nachtfalter
alpha : 0.03 – Truman Capotes feine Geschichte Music for Chameleons. Das Portrait einer Aristokratin, die dem amerikanischen Schriftsteller während der 50er Jahre auf Martinique Gastgeberin gewesen war. Ich hatte die Geschichte vor langer Zeit bereits schon einmal gelesen und seither nie aus den Augen, nie aus dem Nahgedächtnis verloren. Wie eine elegante Lady auf einem gut gestimmten Klavier eine Mozart-Sonate spielt, und wie sich Chamäleons, von den Geräuschen des Instruments angezogen, zu ihren Füßen versammeln. Konnte mich gut erinnern an Geisterwesen, an rotäugige kleine Menschen weiß wie Kreide, an einen Garten riesiger Nachtfalter, an Pfefferminztee und Absinth, an Gauguins schwarzen Spiegel. Und wie die Chamäleons in ihren Farben, die über ihren Körper blitzten, die Musik Mozarts improvisieren, davon hatte ich begeistert immer und immer wieder einmal erzählt. Und dann lese ich Capotes Geschichte wieder. Da waren Nachtfalter und Menschen von kreideweißer Haut, und Pfefferminztee und Absinth, Mozart, Gauguin, allerlei Geister, eine Lady und ihr Klavier, und natürlich Chamäleons, Chamäleons in lavendel, in gelb, in lindgrün, in scharlachrot. Ich las und wartete, wartete darauf, dass ich bald jene Stelle erreichen würde im Text, da Farben improvisierend die Körper der Chamäleons beleuchteten. Wartete vergeblich. Wartete noch, als der Text schon lange Zeit zu Ende gelesen war. — Existiert vielleicht eine geheime Schreibmaschine in meinem Kopf, die Lektüren meines Lebens geräuschlos weiterschreibt?
gebäck
ginkgo : 6.05 — War bei Harrods gewesen, ein hell ausgeleuchteter Saal. Verkäuferinnen in grünen Overalls stapelten kunstvoll menschliche Arme und Beine und Köpfe auf Tische. Klare, in den Augen schmerzende Substanz fiel von der Decke. Bald darauf Kurzstreckenfahrt im U‑Bahnwaggon. Ein feuchter menschlicher Arm ruhte auf meinen Oberschenkeln. Dieser Arm nun war in Zeitungspapier gewickelt, seidenweiße Substanz tropfte auf den Boden. Gleich gegenüber ein Mann und eine Frau. Das Gesicht des Mannes dampfte. Die Frau, die eine Melodie vor sich hinsummte, schälte mit einem Teelöffelchen grammschwere Fleischproben aus den Wangen des Mannes, um sie entweder sofort zu verzehren oder weiteren Fahrgästen darzubieten. — stop. — Montag. stop. Duke Ellington : Take the “A” Train. stop. Es ist denkbar, dass ich über das Gedächtnis eines Elefanten verfüge. — stop