echo : 0.28 UTC — Ein Mann sitzt im Halbdunkeln eines Zimmers nahe der Stadt Kigali in Ruanda in einem Sessel und wartet. Er wartet darauf, dass Mücken, die ihn mit dem Malariaerreger infizieren könnten, zu ihm kommen. Sobald er eine Mücke hört, schaltet er das Licht einer Taschenlampe an, sucht in der Luft, um die Mücke zu fangen, ehe sie ihn erreichen kann. 3 Dollar verdienst er pro Nachtstunde. Er dürfe, erzählt der Mann, nicht einschlafen: Ich möchte nicht krank werden. Sobald er eine Mücke mittels einer Luftsaugpumpe einfangen konnte, transferiert er den noch lebenden Körper in ein Glasröhrchen, das er mit einem Wattebäuschchen verschliesst. Seltsame Geschichte. — stop
Aus der Wörtersammlung: mann
von feuervögeln
himalaya : 20.18 UTC — Und wenn doch Mobiltelefone mittels Nachrichten von fern her entzündet werden könnten? — Ich sitze neben irgendeinem Mann in irgendeinem Zug. Es ist Abend. Der Mann blickt auf den Bildschirm seines Mobiltelefons. Sein Daumen fördert Bilder von unten nach oben hin in rasender Geschwindigkeit. Ich betrachte seinen Kopf. Und plötzlich denke ich: Was denkt dieser Kopf? Kann dieser Kopf so schnell denken, wie sich die Bilder unter der Bewegung seines Daumens bewegen. Vielleicht kennt dieser Mann all jene Bilder, dieser fördert bereits. Vielleicht will er vertiefen, was er denkt. Immer wieder der Eindruck, ein kleiner Vogel, der pfeift von Zeit zu Zeit, liege rücklings in seiner Hand. Sofort wird aus der Bewegung eines Daumens, zärtliche Bewegung. — stop
stimmen
india : 20.12 UTC — Gestern hatte ich mich plötzlich an Vaters Stimme erinnert. Die Stimme sagte: Aber das ist doch Kokolores. Dann lachte die Stimme. Und ich dachte noch daran, wie ich vor Jahren einmal bemerkte, dass ich mich für einen Moment nicht mehr an die Stimme meines Vaters erinnern konnte. Wie ich auch suchte, ich fand sie nicht. Ich war natürlich sehr erschrocken gewesen. Anstatt der Stimme meines Vaters, hörte ich die Stimme des großen Erzählers Isaak B. Singer, eine helle und zugleich raue Stimme, die der Stimme meines Vaters sicher ähnelte. Ich hatte vor ein oder zwei Jahren Singers Stimme in einem Filminterview gehört. Fotografien zeigen den alten Mann spazierend am Atlantik. Auch mein Vater war mehrfach in Brighton Beach gewesen, wenn ich nicht irre. Plötzlich kehrte die Erinnerung an die Stimme meines Vaters zurück. Isaac B. Singers Geschichte im übrigen geht so: Kurz nach meiner Ankunft ( in Amerika ) betrat ich zum ersten mal eine Cafeteria, ohne zu wissen was das ist. Ich hielt es für ein Restaurant. Ich sah lauter Leute mit Tabletts und fragte mich, warum man in so einem kleinen Restaurant so viele Kellner brauchte. Ich gab jedem, der mit einem Tablett vorbeikam, ein Zeichen. Ich hielt sie alle für Kellner und wollte etwas bestellen. Aber sie ignorierten mich, manche lächelten auch. Und ich dachte, was für ein unwirklicher Ort! Es war wie in einem Traum. Ein kleines Café mit so vielen Kellnern, und niemand beachtet mich! Irgendwann begriff ich dann, was eine Cafeteria ist. Sie wurde mein zweites Zuhause. Die Cafeterien wurden eine Art Zuhause für Flüchtlinge aus Polen, Russland und anderen Ländern. Viele meiner Geschichten spielen in Cafeterien, wo all diese Menschen aufeinandertrafen: die Normalen, die weniger Normalen und die Verrückten. Das ist also der Hintergrund meiner Geschichten, die in Cafeterien spielen. – stop
Spuren einer Zeit
da mein Vater
das Wort
Kokolores
sagte
geräusche des krieges
sierra : 2.38 UTC — Immer wieder einmal begegne ich im Nachtzug einem Mann, der singt. Der Mann singt sehr leise, kaum jemand scheint sich von seinem Singen gestört zu fühlen. Während er singt, sind seine Augen weit geöffnet, er blickt ins Leere, sein Mund ist geschlossen, Töne, die wir vernehmen, kommen aus seinem Hals heraus, der bebt, wenn er singt. Nur selten habe ich mit dem Mann gesprochen, man kennt sich, man fährt in der Nacht im selben Zug in der selben Richtung, es ist mühsam mit ihm zu sprechen, weil er stottert. Ich darf ihn nicht ansehen, wenn ich ihn nicht ansehe, kommen manchmal ganze Sätze aus seinem Mund. Ich weiß jetzt, dass der Mann in der persischen Stadt Isfahan geboren wurde, Architektur studierte, gegen irakische Männer kämpfte, die jung waren wir er selbst, und dass er nur durch einen Zufall überlebte. Er konnte fliehen. Er floh zu Fuß in die Türkei, eine lebensgefährliche Reise, Sahin, seine Frau, wurde von irgendjemandem angeschossen, er trug sie kilometerweit durchs Gebirge, nahe der Grenze begegneten sie einem Esel, dem ein Bein fehlte. Sie schliefen unter einem Baum ohne Blätter, in der Nacht schleppten sie sich weiter, der Mond war heiß wie die Sonne und auf den Wegen hockten Schildkröten mit blau schimmernden Augen. Manchmal kommen die Geräusche vom Krieg, sie kommen wann sie wollen, dann singt der Mann. – stop
ein brennender vogel
echo : 0.10 UTC — Ich bin noch immer leicht verwirrt von dem, was vor wenigen Minuten passierte. Ein Blitz ist möglicherweise in nächster Nähe eingeschlagen. Ich erinnere mich, ich hatte meine Fenster geöffnet, es begann heftig zu regnen, dann wurde es plötzlich still. Ich lehnte noch an der Wand meines Arbeitzimmers. Es roch ein wenig nach Metall, meine Zunge schmeckte nach einem Löffel von Zinn, wie früher, sobald ich ein Frühstücksei öffnete. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich mit meinem linken Ohr ein leises Summen vernehmen, das eventuell nicht außen, sondern innen in meinem Kopf sich ereignet. Rechts ist wirkliche Stille. Aber ich kann sehen, mit beiden Augen sehen. Ein Vogel sitzt auf meinem Sofa, er scheint zu brennen, weswegen ich mich sofort auf den Weg machen werde, ein Glas Wasser zu holen. Es ist seltsam, tatsächlich ist die Erfahrung der Gehörlosigkeit in dieser Nacht, die Erfahrung vollständiger Abwesenheit eines Teiles meines Kopfes. – Ein junger Mann erzählte im Radio, er habe in der Stadt Mariupol eine Wohnung besucht. Er sagt: Auf dem Boden lag eine tote Katze in der Nähe zwei alter Menschen, die auf einem Sofa hockten tot wie die Katze. — stop
im warenhaus
ginkgo : 0.02 UTC — An einem Abend im Warenhaus vor langer Zeit beobachtete ich einen kleinen Jungen. Er sprang in einer Warteschlange vor einer Kasse herum und lachte und verdrehte die Augen. Weil sich auf dem Förderband vor der Kasse Milchflaschen, Cornflakesschachteln, Reistüten sowie zwei Honigmelonen befanden, konnte der Junge den Mann, der an der Kasse seine Arbeit verrichtete, zunächst nicht sehen. Bei dem Mann handelte es sich um Javuz Aylin, er war mittels eines Namensschildchens, das in der Nähe seines Herzens angebracht worden war, zu identifizieren. In diesem Moment der Geschichte erhob sich Herr Aylin ein wenig von seinem Stuhl, um neugierig über die Waren hinweg zu spähen, vermutlich deshalb, weil der Haarschopf des Jungen mehrfach in sein Blickfeld hüpfte. Da war noch ein zweiter Haarschopf an diesem Abend im Warenhaus in nächster Nähe, schwarzes, lockiges Haar, der jüngere Bruder des Jungen, der in wenigen Sekunden zu dem Kassierer sprechen würde, beide Kinder sind sich so ähnlich als seien sie Zwillinge, ein großer und ein kleiner Zwilling. Gleich hinter den Buben wartete die Mutter, sie lächelte wie sie ihre Kinder so fröhlich herumtollen sah. Die junge Frau trug ein sehr schön buntes Kopftuch, ich stellte mir vor, sie könnte in Marokko geboren worden sein, kräftig geschminkter Mund, herrliche Augen. Plötzlich waren die Waren auf dem Förderband verschwunden, der ältere der beiden Jungs betrachtete aufmerksam das Gesicht des Kassierers Aylin, der müde zu sein schien. Er hielt dem Jungen ein Päckchen mit Sammelbildern zur Europameisterschaft entgegen, außerdem ein zweites Päckchen für den kleineren Bruder, der immer noch hüpfte, weil er gerade eben doch noch zu klein war, um über das Band selbst hinweg spähen zu können. Oh, danke, sagte der Junge zu Herrn Aylin. Er schaute kurz zur Mutter hinauf, die nickte. Ich habe schon fast alle Karten, fuhr er fort, die deutsche Mannschaft ist komplett. Er machte eine kurze Pause. Ich bin nämlich Deutscher, sagte der Junge mit kräftiger Stimme, auch mein Bruder ist Deutscher. Wieder schaute er zu Mutter hin, und wieder nickte die junge Frau und lachte. Bist Du auch Deutscher, fragt der Junge Herrn Aylin. Der schüttelte den Kopf und schnitt eine freundliche Grimasse. Der Junge setzte nach: Ach so! Warum nicht? Aber das war gewesen, ehe Herr Aylin antworten konnte, er war mit seinem kleinen Bruder und seinen Sammelbildern bereits irgendwo hinter der Kasse verschwunden, so dass sich ihre Mutter beeilen musste, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. — Das Radio erzählt, man habe, in dem man Menschen neben Strassen der Stadt Mariupol beerdigte, zur gleichen Zeit ein Fläschchen zu den Toten gelegt. Dort, im Fläschchen, wurden auf einem Zettel verzeichnet der Name des verstorbenen Menschen und der Tag sein Geburt und der Tag seines gewaltsamen Todes. — stop
mensch auf einem fahrrad
romeo : 15.12 UTC — Vielfach bekannt: Ein Kriegsschiff sank im vergangenen Jahr in einem Sturm, der nicht existierte. Gegen 22 Uhr die Nachricht, das Schliff seit tatsächlich untergegangen. Die russische Nachrichtenagentur Tass bestätigte den Untergang des Schiffes, dessen Ende von ukrainischen Nachrichten bereits Stunden zuvor angekündigt worden war. Wirklichkeit existiert als Summe von Nachrichtenereignissen. Und da war eine Strasse, auf der sich dicht an dicht Panzerfahrzeuge reihten. Von weit oben her, aus dem Weltraum betrachtet, mochte man meinen, jene Panzerameisen, die sich über eine Strasse hin bewegen, würden doch nicht sehr gefährlich sein. Aber jene Gegenstände oder Wesen, auf die die Panzerammeisen schiessen, sind noch kleiner, sie wären auf Weltraumbildern kaum noch sichtbar. Es ist sehr schwer Größenverhältnisse zu verstehen in kriegerischen Wirklichkeiten. Und Feuerbälle. Und überhaupt die Zeit. In einem Dorf schoss ein Panzer auf einen Radfahrer. Auch dies wurde von oben her betrachtet, aus geringerer Höhe. Der Radfahrer hörte vollständig auf zu existieren in Bruchteilen einer Sekunde. — stop
am tiber
nordpol : 10.15 UTC — An einem späten Abend beobachtete ich von einer Brücke aus einen Mann, der am Ufer des Tiberflusses kauerte. Der Mann fütterte größere und kleinere Tiere mit seiner linken Hand, in der rechten Hand hielt er eine Angel fest. Das war nicht sofort zu erkennen gewesen, weil sich im Fluss und auch in der Luft über dem Fluss nichts bewegte, nicht einmal das Wasser zeigte Strömung. Die Flussoberfläche schimmerte im Mondlicht wie ein See, und das Schilf des Ufers schien von Winden, nicht von wildem Wasser gebeugt. Da waren Schatten im Gras der kleinen Insel, hunderte vorwärts oder rückwärts springende Schemen. Noch nie zuvor habe ich so viele Ratten auf einen Blick gesehen. Wie Eisenspäne einer physikalischen Anordnung zur Untersuchung magnetischer Felder waren sie zu dem Mann hin ausgerichtet, wirbelten durcheinander, sobald der Mann Futterware unter die Tiere schleuderte. Dann wieder stilles Warten. Eine Bisamratte, scheuer Herrscher, enterte das Land. — Am folgenden Tag kehrte ich morgens zur Nachtbrücke zurück. Der Mann kauerte noch immer nah der kleinen Insel und angelte im Fluss. Möwen hatten sich genähert. Ratten waren nur wenige zu sehen, aber Tauben. Wenn der Mann einen Fisch erbeutete, warf er ihn seinen Freunden vor die Füße. An den steilen Wänden der künstlichen Tiberfassung da und dort blühende Büsche. Eidechsen züngelten gegen die Sonne. — Das Radio erzählte von einer Frau, die nachts um 3 Uhr im 5. Stock eines Hauses der Stadt Mariupol in ihrer Küche stand und kochte, als die Stadt vom Krieg überfallen wurde. — stop
kapriole
tango : 6.15 UTC — Einmal erwachte ich, weil ich Schritte hörte, tanzende Füße in Tanzschuhen auf Parkett. Unmöglich, dachte ich, so etwas geht doch nicht. Ich machte Licht und hüpfte aus dem Bett. Wie ich so im geräumigen Hotelzimmer stand, bemerkte ich, die Geräusche der Schuhe kamen nicht von oben, sondern von unten her, weshalb ich eine Treppe abwärts vor verdächtiger Türe energisch klopfte, weshalb mir geöffnet wurde, weshalb ich unverzüglich in ein höchst seltsames Zimmer trat. Tisch und Stühle und Bett und weitere kommode Dinge befanden sich dort an der Decke. Ein Mann, sehr fein gekleidet, ein Tänzer im dunklen Anzug grüsste kopfüber zu mir herunter. Er sagte, angenehme Stimme: “Guten Morgen, mein Herr! Sie sind wohl Einer, der an der Decke zu gehen vermag.” — Das Radio erzählt, ein kleiner Junge in der Stadt Mariupol habe mit eigenen Augen gesehen wie eine ihm bekannte alte Dame in einem Hinterhof von einem Schrapnell in den Bauch getroffen wurde. Er habe, erzählt der kleine Junge, seine Hände vor seine Augen gehalten, es war aber zu spät gewesen. — stop
ein mann mit buch
nordpol : 16.05 UTC — In einer Filmdokumentation, die den Schriftsteller Jonathan Franzen fünf Tage lang während einer Lesereise begleitet, folgende berührende Szene, die sich im New Yorker Arbeitszimmer des Autors ereignet. Jonathan Franzen hält seine Schreibmaschine, ein preiswertes Dell – Notebook, vor das Objektiv der Kamera. Er deutet auf eine Stelle an der Rückseite des Gerätes, dort soll früher einmal ein Fortsatz, eine Erhebung zu sehen gewesen sein. Er habe diesen Fortsatz eigenhändig abgesägt. Es handelte sich um eine Buchse für einen Stecker. Man konnte dort das Internet einführen, also eine Verbindung herstellen zwischen der Schreibmaschine des Schriftstellers und der Welt tausender Computer da draußen irgendwo. Jonathan Franzen erklärt, er habe seinen Computer bearbeitet, um der Versuchung, sich mit dem Internet verbinden zu wollen, aus dem Weg zu gehen. Eine überzeugende Tat. Im Moment, da ich diese Szene beobachte, bemerke ich, dass die Verfügbarkeit von Information zu jeder Zeit auch in meinem Leben ein Gefühl von Gefahr, Zerstreuung, Beliebigkeit erzeugen kann. Ich scheine in den Zeichen, Bildern, Filmen, die hereinkommen, flüssig zu werden. Dagegen angenehme Gefühle, wenn ich die abgeschlossene Welt eines Buches in Händen halte. — In Mariupol, so erzählt das Radio, soll ein alter Mann von einem Scharfschützen getötet worden sein, als er in einem Hinterhof in einem Buch lesend auf einer Bank sass. — stop