lima : 16.28 UTC — vielleicht ist er im Wald spazierend gestolpert. Eine Wurzel, sagen wir, seine eigenen Füße, eine Libelle? In diesem Augenblick leichten Schreckens hatte er sich vielleicht an mich erinnert, jener gemütliche Herr, mit dem ich vor der Zeit der Pandemie bekannt gewesen war. Er wünscht jetzt wieder, oder weiterhin, mit mir in der digitalen Sphäre befreundet zu sein, sendet eine Anfrage, die mich zur persönlichen Timeline führt. Seltsame Botschaften dort wie folgende in Form gepresst: Ein Tag im August des Jahres 1975 soll bereits so heiß gewesen sein wie der August in diesem gegenwärtigen Sommer. Die Löschung von Beiträgen im Internet sei die moderne Methode der Bücherverbrennung. Bürgergeld für geflüchtete Menschen übertreffe um ein Vielfaches das Einkommen arbeitender nicht geflüchteter Menschen. Er notiert weiterhin, dass er sein Land zurückhaben wolle. Er sei gegen jede Art des Krieges, er sei wirklicher Friedensstifter, einer, der sich Erich Maria Remarques Merksatz „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen“ zu eigen machte. Er wünscht die Zeitumstellung abzuschaffen und ist der festen Überzeugung, dass Alex Soros Kamala Harris unterstütze, weswegen Kamala Harris 25 Milliarden Dollar besitzen würde. Er liebt Burgen und Schlösser sowie nicht verhüllte Frauen. 92000 Araber lebten in Dortmund, er hat sie gezählt. Er ist bei guter Gesundheit, mein Freund, der seltsam gewordene Mann zitiert Schopenhauer: Natürlicher Verstand könne fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand. stop – Die Beobachtung eines Gewebes, eines Teppichs, eines Mantels. Oder eines Unterholzes, eines Dickichts. — stop
Aus der Wörtersammlung: dollar
in der nacht
echo : 0.28 UTC — Ein Mann sitzt im Halbdunkeln eines Zimmers nahe der Stadt Kigali in Ruanda in einem Sessel und wartet. Er wartet darauf, dass Mücken, die ihn mit dem Malariaerreger infizieren könnten, zu ihm kommen. Sobald er eine Mücke hört, schaltet er das Licht einer Taschenlampe an, sucht in der Luft, um die Mücke zu fangen, ehe sie ihn erreichen kann. 3 Dollar verdient er pro Nachtstunde. Er dürfe, erzählt der Mann, nicht einschlafen: Ich möchte nicht krank werden. Sobald er eine Mücke mittels einer Luftsaugpumpe einfangen konnte, transferiert er den noch lebenden Körper in ein Glasröhrchen, das er mit einem Wattebausch verschließt. Seltsame Geschichte. — stop
capote No 2
echo : 1.22 — Einmal, vor etwa 10 Jahren gegen sechs Uhr am Abend, rief ich bei Lions Writers Support Services an. Guten Tag, sagte ich, ich benötige dringend einen Capote zum Spazieren am kommenden Samstag. Haben Sie vielleicht einen für mich frei, den Sie mir leihen könnten von 3 Uhr am Nachmittag bis in die Nacht irgendwann? Das Fräulein am anderen Ende der Leitung antwortete: Einen Capote? Bitte warten Sie einen Moment. Also wartete ich. Ich wartete ungefähr fünf Minuten, hörte, wie sie mit Leuten diskutierte. Ich glaube, sie bedeckte, während sie sprach, mit einer Hand die Mikrofonmuschel ihres Telefonhörers zu. Nach einigen Minuten kehrte sie zurück: Ja, sagte sie, wir haben einen Capote frei am kommenden Samstag. Wo wollen sie ihn treffen? Ich antwortete, dass ich unbedingt am Strand von Coney Island spazieren müsse, Treibgut sammeln, Sturmzeichen notieren, das Meer betrachten, mit Truman über das Wasser sprechen, über digitale Schreibmaschinen, Funkbücher und alle diese Dinge. Treffpunkt also Brighton Beach Avenue Ecke 3th Street! Wird gemacht, bestätigte das Fräulein, Sie wissen schon, Capotes sind nicht ganz billig? Oh, ja, sagte ich, das will ich gerne glauben. Wie viel, fragte ich, was habe ich zu erwarten? — 150 Dollar die Stunde, antwortete das Fräulein. Sie machte eine kurze Pause, um bald hinzuzusetzen, dass sie etwas weniger berechnen würde, weil jener Capote, der für mich reserviert war, bereits für eine Freitagsparty gebucht worden sei. Er wird nicht ganz frisch am Samstag vor Ihnen erscheinen, sagen wir 120 Dollar, wäre das in Ordnung? — Aber natürlich wäre das in Ordnung, ich jubilierte, ein verkaterter Capote, eventuell leicht betrunken, wundervoll! Ich quittierte 1200 Dollar für zehn Stunden und notierte: Spaziergespräch mit Truman Capote. Samstag, 18. Mai, 15 Uhr. Das war also vor bald 10 Jahren gewesen. Minuten später wurde mir per Kurier eine Gebrauchsanweisung für Herrn Truman Capote übermittelt. Ein Handbuch. 15 Seiten. — In einem Hauseingang auf einer Bank in der Nähe des Hafens der Stadt Mariupol soll eine alte Frau drei Wochen lang gewartet haben. Sie war von einem Splitter in den Bauch getroffen worden und starb vermutlich langsam in einer Nacht des frühen März. — stop
jenseits
tango : 20.55 UTC — Einmal, vor Jahren, war ich in der digitalen Sphäre auf der Suche nach Propellerflugmaschinen gewesen, die von Hand zu bedienen sind. Ich entdeckte eine Leihstation für Drohnenvögel nahe des St. George Ferry Terminals, und zwar in der Bay Street, Hausnummer 54. Obwohl ich mich in Mitteleuropa befand, musste ich, um Kunde werden zu können, keine weiteren Angaben zur Person hinterlegen als meine Kreditkartennummer, nicht also begründen, weshalb ich den kleinen Metallvogel, sechs Propeller, für drei Stunden nahe der Stadt New York ausleihen wollte. Auch erkundigte sich niemand, ob ich überhaupt in der Lage wäre, eine Drohne zu steuern, seltsame Sache. Ich bezahlte 24 Dollar und startete unverzüglich mithilfe meiner Computertastatur vom Dach eines flachen Gebäudes aus. Ich flog zunächst vorsichtig auf und ab, um nach wenigen Minuten bereits einen Flug entlang der Metrogeleise zu wagen, die in einem sanften Bogen in Richtung des offenen Atlantiks nach Tottenville führen. Ich bewegte mich sehr langsam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die ferne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bildschirm war gut zu erkennen, ich vermochte selbst Gesichter von Reisenden hinter staubigen Fensterscheiben passierender Züge zu entdecken. Nach einer halben Stunde erreichte ich Clifton, niedrige Häuser dort, dicht an dicht, in den Gärten mächtige, alte Bäume, um nach einer weiteren Viertelstunde Flugzeit unter der Verranzano-Narrows Bridge hindurchzufliegen. Nahe der Station Jefferson Avenue wurde gerade ein Feuer gelöscht, eine Rauchsäule ragte senkrecht hoch in die Luft, als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steuerte in derselben Höhe wie zuvor, der Lower Bay entgegen. Am Strand spazierten Menschen, die winkten, als sie meinen Drohnenvogel oder mich entdeckten. Als ich etwas tiefer ging, bemerkte ich in der Krone eines Baumes in Ufernähe ein Fahrrad, des Weiteren einen Stuhl und eine Puppe, auch Tang war zu erkennen und vereinzelt Vogelnester. Es war später Nachmittag geworden jenseits des Atlantiks, es wurde langsam dunkel. — Das Radio berichtet von einem schwerhörigen Opa, der in Kyjiw vor einem Fernsehgerät sitzt, mit dem Ton so laut, dass seine Enkelkinder im Nebenzimmer die Einschläge von Raketensprengköpfen nicht hören. — stop
brooklyn : february house
nordpol : 23.56 UTC — Wenige Wochen vor einer Reise nach New York brach ich mir den rechten Arm. Das ist jetzt bereits einige Jahre her, der komplizierte Bruch ist gut verheilt, ich kann ohne Beschwerden wieder mit der Hand notieren. Damals aber waren meine Bewegungen ungelenk, ich schrieb wie ein Kind mit großen Buchstaben. Einige dieser Zeichen entdeckte ich am späten Abend in Carson McCullers seltsamer Erzählung Die Ballade vom traurigen Café. Auf der Seite 52 des Buches hatte ich zwei Wörter vermerkt: February House. Ich erinnerte mich, dass ich damals den Entschluss fasste, einer Spur der Dichterin in New York zu folgen. Ich schrieb um Wochen verzögert und noch immer unter Schmerzen: Weil ich nur sehr schwerfällig mit der Hand in mein Notizbuch schreiben kann, notiere ich während des Lesens, indem ich in Gedanken wiederhole, was zu tun ist in den kommenden Stunden. Nachforschen in der digitalen Sphäre. Wo genau, in welcher Straße, in welchem Haus wohnte Carson McCullers in Brooklyn? Ist denkbar, dass die junge Dichterin tatsächlich drei Wochen benötigte, um das Subway-System der Stadt New York verlassen zu können? Oder suchte sie in ebendiesem Raum der Zeit nach ihrer Wohnung, die sie nicht wieder finden konnte, weil sie mittellos und ohne genauere Ortskenntnis in einem U‑Bahnwagon zurückgelassen worden war. Wie viele Dollar kostete eine Flasche Whiskey im Jahr 1934? Wie viel ein Taxi? – Wenn ich in Gedanken notiere, wiederhole ich dreifach, was ich mir zu merken wünsche. Verlorenes, das könnte sein, bemerke ich nicht. Oder nur einen Schatten ohne Wörter. — stop
eine wiederholung
romeo : 0.22 — In wenigen Stunden werde ich den Versuch unternehmen, einen Tiefflug über Staten Island hin, den ich mittels einer Drohne im Januar 2015 unternommen hatte, zu wiederholen, und zwar möglichst präzise auf den Spuren Samuels, der noch immer nicht verschwunden ist. Ob das möglich sein wird? Ich notierte: Während der Recherche im Internet nach Propellerflugmaschinen, die von Hand zu bedienen sind, entdeckte ich eine Leihstation für Drohnenvögel nahe des St. George Ferry Terminals, und zwar in der Bay Street, Hausnummer 54. Obwohl ich mich in Mitteleuropa befand, musste ich, um Kunde werden zu können, keine weiteren Angaben zur Person hinterlegen als meine Kreditkartennummer, nicht also begründen, weshalb ich den kleinen Metallvogel, sechs Propeller, für drei Stunden nahe der Stadt New York ausleihen wollte. Auch erkundigte sich niemand, ob ich überhaupt in der Lage wäre, eine Drohne zu steuern, seltsame Sache. Ich bezahlte 24 Dollar und startete unverzüglich mithilfe meiner Computertastatur vom Dach eines flachen Gebäudes aus. Ich flog zunächst vorsichtig auf und ab, um nach wenigen Minuten bereits einen Flug entlang der Metrogeleise zu wagen, die in einem sanften Bogen in Richtung des offenen Atlantiks nach Tottenville führen. Ich bewegte mich sehr langsam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die ferne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bildschirm war gut zu erkennen, ich vermochte selbst Gesichter von Reisenden hinter staubigen Fensterscheiben passierender Züge zu entdecken. Nach einer halben Stunde erreichte ich Clifton, niedrige Häuser dort, dicht an dicht, in den Gärten mächtige, alte Bäume, um nach einer weiteren Viertelstunde Flugzeit unter der Verranzano-Narrows Bridge hindurchzufliegen. Nahe der Station Jefferson Avenue wurde gerade ein Feuer gelöscht, eine Rauchsäule ragte senkrecht hoch in die Luft, als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steuerte in derselben Höhe wie zuvor, der Lower Bay entgegen. Am Strand spazierten Menschen, die winkten, als sie meinen Drohnenvogel oder mich entdeckten. Als ich etwas tiefer ging, bemerkte ich in der Krone eines Baumes in Ufernähe ein Fahrrad, des Weiteren einen Stuhl und eine Puppe, auch Tang war zu erkennen und vereinzelt Vogelnester. Es war später Nachmittag geworden jenseits des Atlantiks, es wurde langsam dunkel. — stop
8 cent
delta : 4.18 — Vor wenigen Stunden, es hatte gerade aufgehört zu regnen, beobachtete ich ein Rudel Eichhörnchen, das über das Dach eines nahen Hauses tollte. Ich meinte bisweilen ihre Augen durch die Dunkelheit blitzen zu sehen. Wie, dachte ich, könnten sie auf das Dach gekommen sein? Was haben sie dort zu suchen? Sind sie wirklich auf dem Dach, oder vielleicht nur eine Vorstellung, die sich nicht verwirklichen lässt? Als ich das Fenster öffnete, saßen sie plötzlich ganz still, und schauten zu mir herüber. Gegen drei Uhr notierte ich einen Brief an Mr. Ben Lauritzen: Sehr geehrter Ben Lauritzen, mit großer Freude lese ich von Ihrem Angebot, weitere Texte meiner particles – Arbeit von Ihrem Büro in Brooklyn übersetzen zu lassen. Ich bin versucht, Ihren Vorschlag zu prüfen, leider erscheint mir Ihr Angebot von 8 Cent je Wort noch deutlich zu hoch, da eine Forderung von insgesamt 31.200 Dollar auf mich zukommen würde. Wäre es für Sie vorstellbar, anstatt wortweise, zeilenweise mit mir zu verhandeln? Dass es sich bei meinen Texten nicht immer um leicht zu übersetzte Texte handelt, will ich nicht bestreiten, ich freue mich über ihre Bewertung. In diesem Sinne, lieber Ben, warte ich gespannt auf eine Antwort. Hochachtungsvoll. Ihr Louis – stop
brighton beach ave
~ : louis
to : mrs. valentina zeiler
brooklyn translation services
23 brighton beach ave,
Brooklyn
subject : BRYANT PARK
Sehr geehrte Frau Zeiler, ich danke Ihnen herzlich für Ihre rasche Antwort. Ich will nun abschließend den Auftrag erteilen, mein unten folgendes Schreiben in die englische Sprache zu übersetzen. Ich bitte um sorgfältigste Arbeit, Sie werden erkennen, in diesem Text ist von einem Reisetunnel nach Amerika die Rede, der in meiner Vorstellung von äußerster Bedeutung ist, ein poetischer Entwurf, jedes Wort scheint mir für seine Verwirklichung von hoher Bedeutung zu sein. Mit vereinbarter Vergütung bin ich einverstanden, der Betrag von 82 Dollar wurde bereits angewiesen. Weitere Aufträge werde ich mit Ihnen in Kürze bei einem Besuch in ihrem Büro persönlich besprechen. Darf ich an dieser Stelle meiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, dass die Übersetzung desselben Textes in die chinesische Sprache 122 Dollar kosten würde? Ich frage mich, worin die erhebliche Differenz von 40 Dollar begründet sein könnte. Mit allerbesten Grüßen – Ihr Louis
BRYANT PARK — 570 WÖRTER > GO /// Es hatte Stunden lang geregnet, jetzt dampfte der Boden im südwärts vorrückenden Nordlicht, und das Laub, das alles bedeckte, die steinernen Bänke, Brunnen und Skulpturen, die Büsche und Sommerstühle der Cafés, bewegte sich trocknend wie eine abgeworfene Haut, die nicht zur Ruhe kommen konnte. Boulespieler waren vom Himmel gefallen, fegten ihr Spielfeld, schon war das Klicken der Kugeln zu hören, Schritte, Rufe. Wie ich so zu den Spielern schlenderte, kreuzte eine junge Frau meinen Weg. Sie tastete sich langsam vorwärts an einem weißen, sehr langen Stock, den ich eingehend beobachtete, rasche, den Boden abklopfende Bewegungen. Als sie in meine Nähe gekommen war, vielleicht hatte sie das Geräusch meiner Schritte gehört, sprach sie mich an, fragte, ob es bald wieder regnen würde. Ich erinnere mich noch gut, zunächst sehr unsicher gewesen zu sein, aber dann ging ich ein Stück an ihrer Seite und berichtete vom Oktoberlicht, das ich so liebte, von den Farben der Blätter, die unter unseren Füßen raschelten. Bald saßen wir auf einer nassen Bank, und die junge Frau erzählte, dass sie ein kleines Problem haben würde, dass sie einen Brief erhalten habe, einen lang erwarteten, einen ersehnten Brief, und dass sie diesen Brief nicht lesen könne, ein Mann mit Augenlicht hätte ihn geschrieben, ob ich ihr den Brief bitte vorlesen würde, sie sei so sehr glücklich, diesen Brief endlich in Händen zu halten. Ich öffnete also den Brief, einen Luftpostbrief, aber da standen nur wenige, sehr harte Worte, ein Ende in sechs Zeilen, Druckbuchstaben, eine schlampige Arbeit, rasch hingeworfen, und obwohl ich wusste, dass ich etwas tat, das ich nicht tun durfte, erzählte meine Stimme, die vorgab zu lesen, eine ganz andere Geschichte. Liebste Marlen, hörte ich mich sagen, liebste Marlen, wie sehr ich Dich doch vermisse. Konnte so lange Zeit nicht schreiben, weil ich Deine Adresse verloren hatte, aber nun schreibe ich Dir, schreibe Dir aus unserem Café am Bryant Park. Es ist gerade Abend geworden in New York und sicher wirst Du schon schlafen. Erinnerst Du Dich an die Nacht, als wir hier in unserem Café Deinen Geburtstag feierten? Ich erzählte Dir von einer kleinen, dunklen Stelle hinter der Tapete, die so rot ist, dass ich Dir nicht erklären konnte, was das bedeutet, dieses Rot für sehende Menschen? Erinnerst Du Dich, wie Du mit Deinen Händen nach jener Stelle suchtest, wie ich Deine Finger führte, wie ich Dir erzählte, dass dort hinter der Tapete, ein Tunnel endet, der Europa mit Amerika verbindet? Und wie Du ein Ohr an die Wand legtest, wie Du lauschtest, erinnerst Du Dich? Lange Zeit hast Du gelauscht. Ich höre etwas, sagtest Du, und wolltest wissen, wie lange Zeit die Stimmen wohl unter dem atlantischen Boden reisten, bis sie Dich erreichen konnten. – An dieser Stelle meiner kleinen Erzählung unterbrach mich die junge Frau. Sie hatte ihren Kopf zur Seite geneigt, lächelte mich an und flüsterte, dass das eine schöne Geschichte gewesen sei, eine tröstliche Geschichte, ich sollte den Brief ruhig behalten und mit ihm machen, was immer ich wollte. Und da war nun das aus dem Boden kommende Nordlicht, das Knistern der Blätter, die Stimmen der spielenden Menschen. Wir gingen noch eine kleine Strecke nebeneinander her, ohne zu sprechen. Ich sehe gerade ihren über das Laub tastenden Stock und ein Eichhörnchen mit einer Nuss im Maul, das an einem Baumstamm kauerte. Beinahe kommt es mir in dieser Sekunde so vor, als hätte ich dieses Eichhörnchen und seine Nuss nur erfunden. /// END
transfer
echo : 3.05 – Vor fünf oder sechs Jahren schrieb ich einen Brief an einen verschollenen Freund. Ich erzählte ihm von der Welt der Fährschiffe, wie ich sie erkundet hatte auf der Upper New York Bay. Ich bat ihn, er möge sich um Himmelswillen melden. Vermutlich war ich nicht wirklich überzeugt gewesen, dass meine E‑Mail den verschwundenen Freund erreichen würde, er war zuletzt doch schon sehr verrückt gewesen, er hielt sich für einen anderen, und war seit bereits zwei Jahrzehnten vermisst. Ich notierte also eine Botschaft für einen auch von mir selbst verehrten Schriftsteller, die ihn unmöglich oder sehr wahrscheinlich nicht erreichen würde. Ich sendete mein Schreiben an einen E‑Mail-Dienst im finnischen Turku, der versprach, Schriftsätze an Menschen weiterzuleiten, die verschwunden waren, vielleicht gegen ihren Willen wie vom Erdboden verschluckt oder weil sie sich versteckten. Einige Stunden später wurde der Eingang meiner E‑Mail bestätigt mit dem Versprechen einer Nachricht, sobald die E‑Mail weitergegeben werden konnte. In diesem glücklichen Falle sollte ich 85 Dollar überweisen an ein Postamt eben der Stadt Turku, ein ganz angemessener Betrag, wie ich finde. Vor wenigen Minuten nun erhielt ich meine E‑Mail mit dem Vermerk zurück: Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihre E‑Mail an Mr. John Dos Passos nicht zustellen konnten. Mit freundlichen Grüßen — stop
bahnsteig 24
ginkgo : 2.32 — Zentralbahnhof kurz nach 3 Uhr in der Nacht. Vier Stunden in der Zeit zurück sind zuletzt flüchtende Menschen mit einem Intercity-Zug auf Bahnsteig 7 angekommen. Einige junge Männer sitzen nun im Kreis in der Nähe der Aufnahmezone auf dem Boden. Zwei Familien mit Kindern ruhen nicht weit entfernt auf Matten, unter goldenen Isolierdecken geborgen, die schimmern, indem sich die Menschen bewegen. Sie sind erschöpft, schlafen, ein Junge aber ist noch wach. Er liegt auf dem Rücken, Hände und Arme auf die knisternde Decke abgelegt, ganz still und schaut zum Dach der Halle hinauf. Vielleicht beobachtet er Vögel, die zu dieser Stunde noch immer hin und her springen von Strebe zu Strebe, als wäre nicht Nacht, sondern Tag. Unweit hocken Frauen und Männer der städtischen Berufsfeuerwehr auf Bänken. Sie haben die Flüchtenden, an diesem Abend sind es nicht so viele Menschen gewesen wie an den Abenden zuvor, empfangen. In einem Moment, da die Flüchtenden ihre Namen in die Ohren der Übersetzer sprachen, wurden sie zu Angekommenen, viele zu Überlebenden. Ich höre, eine der Familien, die über Geldmittel in Dollar verfügen soll, habe ihre Flucht von der Stadt Homs bis hierher nach Mitteleuropa in nur fünf Tagen geschafft. Sie sind jetzt in meiner Gegenwart, wirklich geworden. Menschen, die ich möglicherweise auf einem Fernsehbildschirm beobachtet hatte, wie sie durch zerstörte, höllische Straßen rennen, staubig, voller Schrecken, wie flüchtende Menschen in den Straßen Lower Manhattans kurz nach Einsturz der Twin Towers. Wenn nur für einen Moment in dieser nächtlichen Stille eines Bahnhofes hörbar oder sichtbar werden würde, welcher Art die Geräusche und Bilder sind, die sie vermutlich in ihrer Erinnerung tragen. — stop