echo : 6.08 — Ich beobachte meinen Fernsehbildschirm. Er ist so flach, dass ich meine, das bewegte Bild, welches er empfängt, müsste transparent sein wie ein Schmetterlingsflügel. Ich könnte in dieser Vorstellung durch das Zimmer laufen, um jene Sequenzen, die von Kriegsvorbereitungen, von chirurgischen, begrenzten Luftschlägen erzählen, von der anderen Seite her zu betrachten. Erinnerte mich an Bohumil Hrabal, von dem berichtet wird, er würde bevorzugt hinter seinem Fernsehgerät Platz genommen haben. Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als Bildschirme in den Rahmen monströser Apparaturen hockten, Röhrenbildschirme genauer, die noch explodieren konnten. Indem Hrabal seinen Bildempfänger von hinten betrachtete, handelte er mit dem Ausdruck äußerster Verweigerung, er saß dort und konnte sich darauf verlassen, keines der empfangenen Bilder sehen zu können, er war genau dort hinter jener Maschine, die die Bilder erzeugte, vor den Bildern sicher. Vielleicht hatte er überdies das Fernsehgerät ausgeschaltet, ich weiß es nicht, gern würde ich ihn fragen, ihm erzählen, wie ich das mache in diesen Tagen, da ich mir zunehmend sicher bin, Lüge von Halbwahrheit oder Wahrheit unterscheiden zu können. Wirklich, wahrhaftig ist dieses seltsame, schmerzende Gefühl, das ich bei dem Gedanken empfinde, man sollte Herrn Putin unverzüglich verhaften. Es ist ein zufriedenes, zustimmendes Gefühl, ein Reflex, wie ich so in meiner friedlichen, sicheren Wohnung sitze, eine Tasse Kaffee in der Hand. Bald wandere ich in die Küche und brate mir einen Fisch, eine kleine Dorade. Ich höre die Stimmen der Kommentatoren vom Arbeitszimmer her, die weiter sprechen, obwohl ich nicht da bin. Und ich höre den Regen, es regnet tatsächlich, dann hört es wieder auf. Vögel fliegen vorüber. Auf der Scheibe eines Fensters sitzt ein Marienkäfer und nascht von den Resten einer Wespe, die ich einen Tag zuvor tötete, weil sie sich in der Dunkelheit meinem Bett näherte. — Das Radio erzählt, die Künstlerin Sasha Skochilenko sei in St. Petersburg inhaftiert, weil sie auf Preisschilder Nachrichten vom Krieg in der Ukraine notierte. — stop
Schlagwort: scheibe
jenseits
tango : 20.55 UTC — Einmal, vor Jahren, war ich in der digitalen Sphäre auf der Suche nach Propellerflugmaschinen gewesen, die von Hand zu bedienen sind. Ich entdeckte eine Leihstation für Drohnenvögel nahe des St. George Ferry Terminals, und zwar in der Bay Street, Hausnummer 54. Obwohl ich mich in Mitteleuropa befand, musste ich, um Kunde werden zu können, keine weiteren Angaben zur Person hinterlegen als meine Kreditkartennummer, nicht also begründen, weshalb ich den kleinen Metallvogel, sechs Propeller, für drei Stunden nahe der Stadt New York ausleihen wollte. Auch erkundigte sich niemand, ob ich überhaupt in der Lage wäre, eine Drohne zu steuern, seltsame Sache. Ich bezahlte 24 Dollar und startete unverzüglich mit Hilfe meiner Computertastatur vom Dach eines flachen Gebäudes aus. Ich flog zunächst vorsichtig auf und ab, um nach wenigen Minuten bereits einen Flug entlang der Metrogeleise zu wagen, die in einem sanften Bogen in Richtung des offenen Atlantiks nach Tottenville führen. Ich bewegte mich sehr langsam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die ferne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bildschirm war sehr gut zu erkennen, ich vermochte selbst Gesichter von Reisenden hinter staubigen Fensterscheiben passierender Züge zu entdecken. Nach einer halben Stunde erreichte ich Clifton, niedrige Häuser dort, dicht an dicht, in den Gärten mächtige, alte Bäume, um nach einer weiteren Viertelstunde Flugzeit unter der Verranzano-Narrows Bridge hindurchzufliegen. Nahe der Station Jefferson Avenue wurde gerade ein Feuer gelöscht, eine Rauchsäule ragte senkrecht hoch in die Luft als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steuerte in derselben Höhe wie zuvor, der Lower Bay entgegen. Am Strand spazierten Menschen, die winkten, als sie meinen Drohnenvogel oder mich entdeckten. Als ich etwas tiefer ging, bemerkte ich in der Krone eines Baumes in Ufernähe ein Fahrrad, des Weiteren einen Stuhl und eine Puppe, auch Tang war zu erkennen und vereinzelt Vogelnester. Es war später Nachmittag geworden jenseits des Atlantiks, es wurde langsam dunkel. — Das Radio berichtet von einem schwerhörigen Opa, der in Kyiv vor einem Fernsehgerät sitzt mit dem Ton so laut, dass seine Enkelkinder im Nebenzimmer die Einschläge von Raketensprengköpfen nicht hören. — stop
zeitoun
whiskey : 9.35 UTC — In den letzten 10 Tagen des Oktobermonats lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Abstandsignale . Aquarelia . Bangsein . Birdy . Brieftaubenwörter . Camar . Carecon . Clustersuche . Contagion . Coronasimulation . Drohnenauge . Drohnensichtung . Drohnenvogel . Drollbirne . Ebolavirus . Eichhörnchenschatten . Fingercurser . Inari. Inzidenz. Jennifer.five . Kolibriwesen . Krokodilmodell . Kürbissuppe . Libellenlarven . Looters . luren . Meeresgewächse . Meereswesen . Monroe . Mundschutzalgorithmus . Nachtschifftag . neuronal . Palanca . Pandemietote . Pandemiezeit . Particleszeichen . Pfuhlschnepfe . Plexiglasscheiben . Resilienz . Rotkopfschildkröten . Sars-Cov‑2 . Sarslämpchen . Schiffpendelbewegung . Schlafdurcheinanderzeit . Seeanemonenblüte . Seetangklumpen . Spätabendmenschen . Spelling . Superdomehalle . Süßwasseranemone . Tänzerraver . Teillockdown . Tresspassangers . Vakzin . Warlogs . Wortkernbilder . Zattere . Zeitoun . Zeppelinwerkstatt . Zeppelinwolken. — stop
hamstern
india : 21.20 UTC — In einer Abendsekunde, da ich Kontakt zu ihm aufnehme, hebt er seinen müden Blick von dem Scanner, der unter einer rötlich schimmernden Scheibe von Glas verborgen liegt, über die er Waren zieht, die er selbst noch von eigener Hand in Regale räumte, die er selbst noch von Staub befreite, den er selbst nicht in diesen Supermarktladen eingeführt haben konnte in dieser Menge, dieser Staub muss an Füßen der Kunden hereingekommen sein, ein Staub der immerhin sichtbar ist, bei Gott, ist das doch gut, dass noch Wesen existieren, die sichtbar sind, sichtbar für menschliche Augen, nicht unsichtbar wie jene kleinsten Partikel, die Menschenwesen auf diesem Erdball hinter Maskentücher zwingen, sodass sie sich ähnlich werden, diese Menschenwesen überall sich ähnlich werden in ihrer Schutzbedürftigkeit, ähnlich, ob sie nun hinter roten, gelben, blauen oder schneeweißen Masken sich zu verbergen haben, um nicht vielleicht sterben zu müssen, bei Gott, Menschen eben. Er hebt den Kopf in diesem Moment, da ich Kontakt zu ihm aufnehme, da ich sage, sie hamstern wieder, nicht wahr, es wird Herbst und sie hamstern wieder, Teigwaren, Taschentücher, und diese Dinge, hamstern und streiten vor den Regalen, nicht wahr. Und da sagt er, dass das ein Krieg sei, dass eigentlich das Militär hier auf diesem seinem Platz zu sitzen habe, der Katastrophenschutz, weil diese Scheibe von künstlichem Glas, ihn doch niemals schützen könne, weil hier das Unsichtbare herumfliege, all diese Sachen, die das Fieber bringen, da kann man nur warten, warten, warten. — stop
gewebe
lima : 2.26 — Gedanken, Atem, Minuten, Gefühle, Texturen, Bewegungen, Träume, Geräusche, Gespräche, Telefonhörer, Mattscheiben, Radiowellen, auch Eichhörnchenfelle, Blicke, Licht und Dunkelheit, die Stäube der Bäume, Parkbankflechtenwälder, Schuhwerk und Handläufe, alles vom Virustextschatten durchwirkt. — stop
hinter glas
tango : 17.38 UTC — Während eines Besuches in einem Aquarium begegnete ich vor Jahren einmal einem Fetzenfisch. Diese Begegnung war vielleicht der ersten Begegnung eines Kindes mit einer Weihnachtskugel vergleichbar. Ich konnte meinen Blick nicht von dem filigranen Wesen wenden, das hinter etwas Glas vor mir lautlos im Wasser schwebte. Ich war ganz sicher nicht der erste Mensch gewesen, den dieses feine Wesen im Aquarium wahrgenommen haben könnte, hunderttausende Augenpaare, Nasen, Finger, Menschen eben da draussen hinter den Scheiben, ungefährlich, manchmal kleine Menschen, die auf den Armen oder Schultern der großen Menschen hockten. Vor einigen Monaten nun bemerkte ich in einem Filmdokument eine Meerwalnuss, wunderbare Bezeichnung, ihr Leuchten, und wieder konnte ich mich nicht abwenden, habe mehrere Stunden über Meerwalnüsse geforscht in der digitalen Sphäre. Die Scheibe des Aquariums war nun ein Bildschirm, Blick nur in eine Richtung, keine Begegnung, vielmehr eine Beobachtung. Ich werde bald einmal den Versuch unternehmen, Meerwalnüsse tatsächlich leibhaftig zu besuchen wo sie leben. — stop
logik
india : 18.08 UTC — Morgens im Pendlerzug skizzierte ich einen Flugdrachen, wie ich sie der Form nach von meiner Kinderzeit kenne. Neben mir hockte zufällig ein Mädchen, das meine Hände beobachtete, auch meinen kleinen Computer auf dessen Glasscheibe ich zeichnete mit einem Stift, der für dieses digitale Zeichnen ausgedacht worden ist. Ich habe so einen Drachen, sagte das Mädchen plötzlich, er ist viel größer als dieser da. Ich fragte, welche Farbe ihr Drache denn haben würde. Das Mädchen antwortete: Rot und blau. Warum ist Deiner nicht bunt, fragte das Mädchen. Ich sagte: Weisst Du, ich überlege, ob man einen Drachen bauen könnte, der aus Eis gemacht ist, aus Schnee, ein Schneedrachen, der fliegen kann? — Bestimmt, sagte das Mädchen, das geht! Das Mädchen schwieg kurz, dann verdrehte es die Augen. Verrückt, sagte es, das ist schon verrückt, er kann aber nicht fliegen, weil wir im Winter keine Drachen steigen lassen. Da machen wir andere Sachen, aber weil es sowieso nicht schneit, könnten wir doch mal einen Schneedrachen bauen. Claro! — stop
ein eichhörnchen
himalaya : 16.02 UTC — Vom Fenster meines Hauses aus ist das seltsame Hotel, von dem ich kurz erzählen möchte, nicht zu sehen. Ich muss schon meine Schuhe anziehen, Schuhbänder verknoten, Türe schliessen und die Treppe abwärts steigen, um das Hotel in meinen Kasten zu bekommen zur Beschreibung. Auf der Straße biege ich ab nach links. Kurz halte ich an, weil ich unter einem parkenden Automobil ein Eichhörnchen entdecke. Es sitzt ganz still, ich gehe in die Knie, und auch das Eichhörchen scheint sich jetzt auf seine Hinterbeine vollständig niederzulassen. Eine Nuss hält es in seinen vordernen Pfoten, vermutlich eine Eichel, die nass geworden sein muss. Plötzlich springt das Eichhörnchen auf und davon, und sitzt bald an einem Stamm mit weit gespreizten Armen und Beinen. Das Tier schaut mich an, als würde es mich kennen. Und weiter gehts von Baum zu Baum rechts um das Schulgebäude herum, dann wieder zurück und links um das Gebäude herum in den Hinterhof. Immer wieder hält das Eichhörnchen inne, als würde es sich sorgen, ob ich ihm tatsächlich folge. Dann sind wir also im Hinterhof, wo ein ein paar junge Männer sitzen und rauchen. Sie kümmern sich nicht weiter um mich, ich scheine doch viel zu alt zu sein, als dass ich noch ihre moderne Sprache verstehen würde. Plötzlich ist das Eichhörnchen verschwunden in der Krone einer Platane, deren Blätter im Winter nicht von den Ästen gefallen sind. Wie ich so stehe und in den Himmel schaue, fällt mir ein, dass ich nach dem seltsamen Hotel sehen wollte, ob es noch da ist. Nun ist es aber doch sehr spät geworden, Dämmerung, so ein Licht. Ich werde das seltsame Hotel morgen besuchen, nur soviel sei verraten. Es handelt sich um ein Hotel, das deshalb seltsam zu sein scheint, weil in seinem Restaurant von feinster Küche, — Taubenbrüste und Seeteufel in Scheiben‑, nie je ein Gast zu sehen gewesen ist, obwohl doch zahlreiche Kellner Tische und Stühle pflegen. Sie tragen dunkle Anzüge und Fliegenkrawatten. Wie die unsichtbaren Gäste des Hotels gekleidet sind, kann ich leider zu diesem Zeitpunkt nicht beschreiben. — stop
st. elena
sierra : 22.12 UTC — Am Bug sitzen bei schwerem Seegang. Das gischtige Meerwasser fliegt durchs neblige Licht wie Milch. Menschen, die das Vaporetto betreten, dampfen, dass die Scheiben beschlagen. Eine junge Frau dreht pfeifend einen roten Regenschirm im Wind. Ich denk mir die Geräusche des Regens aus, die unter dem Dröhnen der Vaporettomotoren unhörbar sind. Aber das Quietschen der Gummistiefel. Trug Schwarze oder Gelbe als Kind. Heutzutage existieren sie in allen möglichen Farben. Auch Malerei ist aufgetragen, alte Meister, der Frühling, Punktzeichnungen der Marienkäfer, Muster in allen möglichen Farben. Ein Mann zeigt seiner Geliebten einen fingerlangen Nashornkäfer von Glas, er hält das schimmernde Wesen in die Luft, eine Vorstellung in diesem Moment, da wir uns wieder dem Land nähern, die Vorstellung auch eines Glasbläsers, irgendwo müssen diese wahren Künstler glühenden, schmelzenden Sandes noch heimlich ihre Backen plustern wie Trompetenspieler. Genau dort scheint eine Verbindung zu existieren von der Musik zu den Nashornkäfern, die in Sammlungen weltweit genadelt sitzen. — stop
ein nilpferd auf dem dach
sierra : 12.42 UTC — Auf das Telefon, das im Wohnzimmer des Hauses der alten Menschen zu beobachten ist, tropft Wasser. Die alte Dame, die seit einigen Jahren vor diesem Telefon sitzt und telefoniert, obwohl das Telefon niemals mit der Welt da Draußen in Verbindung gesetzt wurde, scheint sich nicht zu wundern. Sie wählt eine um die andere Nummer. Das Telefon verfügt über eine Wählscheibe wie von längerer Zeit üblich bei Telefonen. Die alte Hand, die die Wählscheibe bedient, ist ganz feucht vom Wasser, das von der Decke tropft, weil das Haus der alten Menschen zur Zeit über kein Dach verfügt, weil man das Dach abgerissen hat, weil man neue Zimmer an der Stelle des Daches errichten möchte. Niemand scheint daran gedacht zu haben, dass Regen fallen könnte, deshalb liegen in den Fluren nun auch Stoffe herum, die das Wasser anziehen und in sich aufnehmen sollen, Stoffwarane, über die man stürzen könnte. Aber daran denkt die alte Dame nicht, sie telefoniert und erzählt, dass es seltsamerweise regnet in dem Zimmer in dem sie sitzt von früh bis spät. Könnte gut sein, dass ihr niemand glauben wird, dass man so etwas tut, das Dach über einem Wohnzimmer entfernen, wo die alten Menschen wohnen, und auch das Dach über den Zimmern, wo die alten Menschen schlafen, so dass es auch nachts in den Betten regnet, weil niemand daran dachte, dass es bei Nacht regnen könnte. Und dieser Lärm der Bohrmaschinen und der Presslufthämmer, davon ganz zu schweigen, da möchte man für immer die Augen schließen lang vor der eigentlichen Zeit. — stop