nordpol : 0.05 UTC — “Aleksandra Skochilenko ist eine Songwriterin und Künstlerin aus Sankt Petersburg. Ihr wird vorgeworfen, Preisschilder in örtlichen Supermärkten durch Antikriegsinformationen ersetzt zu haben, darunter Informationen über die Toten durch die Bombardierung des Theaters von Mariupol. / Der Sankt Petersburgerin wird die “öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation und die Ausübung der Befugnisse der staatlichen Organe der Russischen Föderation” gemäß dem kürzlich hinzugefügten Paragrafen 207.3 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorgeworfen. / Aleksandra Skochilenko ist in der Kunstszene bekannt: Sie schreibt Lieder, verfasst Comic-Bücher und Cartoons, organisiert Konzerte und Jamsessions. Außerdem hat sie das bekannte “Buch über Depressionen” geschrieben, das dazu beiträgt, das Stigma psychischer Erkrankungen zu verringern. Das Buch ist äußerst beliebt. Es wurde mehrfach neu aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt und hat vielen Menschen innerhalb und außerhalb Russlands geholfen. Viele Videos und Ausstellungen wurden durch das Buch inspiriert.” Aleksandra Skochilenko ist noch immer in Haft. Schreiben Sie einen Brief! — stop
Schlagwort: künstlerin
ai : RUSSISCHE FÖDERATION
MENSCH IN GEFAHR : ““Am 11. April durchsuchte die Polizei die Wohnung von Aleksandra Skochilenko, nahm sie fest und verhörte sie bis 3 Uhr des 12. April. Am 13. April verhängte das Bezirksgericht Vasileostrovsky in Sankt Petersburg Untersuchungshaft bis zum 1. Juni 2022 gegen sie. Es ist wahrscheinlich, dass die Untersuchungshaft verlängert wird. / Aleksandra Skochilenko leidet an Zöliakie, einer genetischen Glutenintoleranz. Wenn sie glutenhaltige Nahrung zu sich nimmt, kann das den Beginn eines Organversagens, Krebs oder Autoimmunerkrankungen verursachen. Amnesty International hat erfahren, dass Aleksandra Skochilenko in der Untersuchungshafteinrichtung keine glutenfreien Nahrungsmittel erhält und ihrer Familie nicht gestattet wird, ihr diese zu schicken. / Aleksandra Skochilenko ist eine Songwriterin und Künstlerin aus Sankt Petersburg. Ihr wird vorgeworfen, Preisschilder in örtlichen Supermärkten durch Antikriegsinformationen ersetzt zu haben, darunter Informationen über die Toten durch die Bombardierung des Theaters von Mariupol. / Der Sankt Petersburgerin wird die “öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation und die Ausübung der Befugnisse der staatlichen Organe der Russischen Föderation” gemäß dem kürzlich hinzugefügten Paragrafen 207.3 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorgeworfen. / Aleksandra Skochilenko ist in der Kunstszene bekannt: Sie schreibt Lieder, verfasst Comic-Bücher und Cartoons, organisiert Konzerte und Jamsessions. Außerdem hat sie das bekannte “Buch über Depressionen” geschrieben, das dazu beiträgt, das Stigma psychischer Erkrankungen zu verringern. Das Buch ist äußerst beliebt. Es wurde mehrfach neu aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt und hat vielen Menschen innerhalb und außerhalb Russlands geholfen. Viele Videos und Ausstellungen wurden durch das Buch inspiriert. / Am 20. April hieß es, dass sich Aleksandra Skochilenkos Gesundheitszustand durch das Fehlen glutenfreier Nahrungsmittel verschlechtert habe. Am 21. April teilte ihr Rechtsbeistand Amnesty International mit, dass die Haftanstalt ihr schließlich erlaubt habe, ein Lebensmittelpaket ihrer Familie zu erhalten, das ihrer glutenfreien Ernährung entsprach./ Am 23. April wurde sie von einer provisorischen Haftanstalt in ein Untersuchungsgefängnis gebracht./ Nach einem Besuch bei Aleksandra Skochilenko in der Untersuchungshaftanstalt am 25. April berichtete einer der Rechtsbeistände, dass sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert habe. Sie kann nichts essen, da sie nicht das für sie erforderliche glutenfreie Essen erhält und ihre Familie ihr auch kein Essen schicken darf. Sie fühlt sich die meiste Zeit über schwach. Sie erzählte auch, dass sie von den Wärter_innen der Haftanstalt und ihren Zellengenoss_innen unter Druck gesetzt wurde. — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen unter »> ai : urgent action
sequenz
echo : 6.08 — Ich beobachte meinen Fernsehbildschirm. Er ist so flach, dass ich meine, das bewegte Bild, welches er empfängt, müsste transparent sein wie ein Schmetterlingsflügel. Ich könnte in dieser Vorstellung durch das Zimmer laufen, um jene Sequenzen, die von Kriegsvorbereitungen, von chirurgischen, begrenzten Luftschlägen erzählen, von der anderen Seite her zu betrachten. Erinnerte mich an Bohumil Hrabal, von dem berichtet wird, er würde bevorzugt hinter seinem Fernsehgerät Platz genommen haben. Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als Bildschirme in den Rahmen monströser Apparaturen hockten, Röhrenbildschirme genauer, die noch explodieren konnten. Indem Hrabal seinen Bildempfänger von hinten betrachtete, handelte er mit dem Ausdruck äußerster Verweigerung, er saß dort und konnte sich darauf verlassen, keines der empfangenen Bilder sehen zu können, er war genau dort hinter jener Maschine, die die Bilder erzeugte, vor den Bildern sicher. Vielleicht hatte er überdies das Fernsehgerät ausgeschaltet, ich weiß es nicht, gern würde ich ihn fragen, ihm erzählen, wie ich das mache in diesen Tagen, da ich mir zunehmend sicher bin, Lüge von Halbwahrheit oder Wahrheit unterscheiden zu können. Wirklich, wahrhaftig ist dieses seltsame, schmerzende Gefühl, das ich bei dem Gedanken empfinde, man sollte Herrn Putin unverzüglich verhaften. Es ist ein zufriedenes, zustimmendes Gefühl, ein Reflex, wie ich so in meiner friedlichen, sicheren Wohnung sitze, eine Tasse Kaffee in der Hand. Bald wandere ich in die Küche und brate mir einen Fisch, eine kleine Dorade. Ich höre die Stimmen der Kommentatoren vom Arbeitszimmer her, die weiter sprechen, obwohl ich nicht da bin. Und ich höre den Regen, es regnet tatsächlich, dann hört es wieder auf. Vögel fliegen vorüber. Auf der Scheibe eines Fensters sitzt ein Marienkäfer und nascht von den Resten einer Wespe, die ich einen Tag zuvor tötete, weil sie sich in der Dunkelheit meinem Bett näherte. — Das Radio erzählt, die Künstlerin Sasha Skochilenko sei in St. Petersburg inhaftiert, weil sie auf Preisschilder Nachrichten vom Krieg in der Ukraine notierte. — stop
von blüten
india : 5.08 — In einer experimentellen Abteilung der Akademie bildender Künste zu Manaus wurde gestern Abend gegen 18 Uhr eine Hautzwergtulpe auf die linke Schulter einer jungen Künstlerin verpflanzt. Dorthin wurden bereits am Sonntag während einer mehrstündigen Operation weitere Hautgewächse transportiert, ein Leberblümchen, eine Nachtschatteniris, sowie zwei Silberdisteln, die unverzüglich blühten. Ein Wunder, möchte man meinen. — stop
ein junge und seine lehrerin
sierra : 5.14 — In dem Dokumentarfilm Selbstportrait Syrien von Ossama Mohammed und Wiam Simav Bedirxan spaziert die kurdische Künstlerin Wiam Simav Bedirxan mit einem Jungen, den sie filmt, durch die belagerte Stadt Homs. Der Junge hüpft herum, wie es Kinder tun, entdeckt Blätter, die seine Mutter vielleicht kochen könnte, und vor einer Häuserwand eine rote Blume, die der Junge pflückt. Im Hintergrund sind Detonationen zu hören, auch Vogelstimmen. Als der Junge einen Platz erreicht, an welchen sich eine breitere Straße anschließt, fragt er die Lehrerin, wie sie weitergehen werden. Die Lehrerin sagt: Wie Du willst. Und der Junge hüpft voran, er nimmt eine Treppe, er sagt: Da vorne ist ein Heckenschütze. Also will er dort nicht gehen, weil er weiß, was ein Heckenschütze ist. Wenige Minuten später erreichen die Lehrerin und der Junge eine weitere Straße, die sie überqueren wollen. Es ist vielleicht ein Ort, an dem schon viele Menschen zuvor erschossen wurden. Die Lehrerin ruft: Lauf! Ich sehe wie der Junge sehr schnell über die Straße springt, bis er den Schutz eines gegenüberliegenden Hauses erreicht, kurz darauf beschleunigt auch die Lehrerin ihre Schritte, das Bild hüpft auf und ab. Ich schloss in diesem Moment die Augen, als ich sie wieder öffnete war eine Fotografie zweier Mädchen zu sehen, die in einen Fotoapparat lachten, auf einer weiteren Fotografie, die wenige Tage später aufgenommen wurde, liegen sie in smaragdgrünen Kleidchen nebeneinander auf den Boden und sind tot. Ich bin müde, ich muss bald prüfen, ob ich erinnert habe wie es war. — stop
20 Gramm : eine Künstlerin erzählt
zoulou : 18.25 — Inés, die mehrere Jahre lang in einem zentralen Madrider Postamt arbeitete, erzählt, sie habe in der Stunde etwa 3200 Kurzbriefe mit der Hand sortiert. Jeder ihrer Arbeitstage dauerte 6 Stunden reiner Arbeitszeit, das heißt, Stundenzeit ohne Pause, da ihre Hände ruhten. Manchmal, wenn ihre rechte Hand schmerzte, habe sie mit der linken Hand sortiert, da sei sie aber nicht so schnell gewesen. Einmal habe sie errechnet, pro Nacht oder Schicht mit ihren Händen aus dem Sitzen heraus 385 Kilogramm angehoben und durch die Luft transportiert zu haben. Sie lebte damals in der Calle José Abascal in einem kleinen Atelier unter dem Dach, nun, im Alter von bald 40 Jahren, könne sie Grund der Bilder, die sie zeichne, hervorragend leben. Einmal wohne sie in London, dann wieder in Berlin, München, Paris. Manchmal träume sie noch von Briefen, die sie in ihrer postalischen Zeit gerne betrachtet habe, Kuverts, die selbst Kunstwerke gewesen seien, liebevoll gestaltet. Aber das genaue Betrachten der Briefe war natürlich nicht gestattet, da das Betrachten eines Briefes viel zu lange dauere. Dass ich nun Zeit habe, niemals hetzen muss, sogar selbst entscheiden kann, wie schnell ich mein Abendbrot zu mir nehme, ist mein größtes Glück. — stop
ai : IRAN
MENSCH IN GEFAHR : “Die gewaltlose politische Gefangene Atena Farghadani befindet sich seit dem 9. Februar im Iran im Hungerstreik, um gegen ihre Haft zu protestieren. Nun schwebt sie in Lebensgefahr. Die Künstlerin befindet sich wegen ihrer friedlichen Aktivitäten in Haft, unter anderem hatte sie in einer Karikatur Parlamentsabgeordnete kritisiert. Die iranische Malerin Atena Farghadani trat am 9. Februar in einen Hungerstreik. Sie nahm fortan nur noch Wasser, jedoch keine Nahrung mehr zu sich. Hiermit will sie gegen die Fortdauer ihrer Haft im Gharchak-Gefängnis in der Stadt Varamin protestieren, in dem es keinen Trakt für politische Gefangene gibt und in dem die Haftbedingungen äußerst schlecht sind. Am 25. Februar gab ihr Rechtsbeistand an, dass Atena Farghadani als Folge ihres Hungerstreiks einen Herzinfarkt erlitten und kurzzeitig das Bewusstsein verloren habe. Sie gab an, ihren Hungerstreik solange nicht zu beenden, bis die Behörden ihrem Antrag nachkommen, sie in das Evin-Gefängnis in Teheran zu verlegen. Am 26. Februar wurde sie in ein Krankenhaus außerhalb des Gefängnisses gebracht. Atena Farghadani wurde zum ersten Mal am 23. August 2014 wegen ihrer friedlichen Aktivitäten festgenommen. Sie hatte Familien von politischen Gefangenen besucht und in einer Karikatur Parlamentsabgeordnete kritisiert, die einen Gesetzentwurf eingebracht hatten, der freiwillig durchgeführte Sterilisationen unter Strafe gestellt hätte und der Teil eines groß angelegten Plans ist, den Zugang zu Verhütungsmitteln und Dienstleistungen bezüglich der Familienplanung zu beschränken. Sie wurde fast zwei Monate lang im Trakt 2A des Evin-Gefängnisses festgehalten, davon 15 Tage in Einzelhaft. Zu ihrer Familie und ihrem Rechtsbeistand durfte sie keinen Kontakt aufnehmen. Am 6. November 2014 wurde sie gegen Zahlung einer Kaution freigelassen. Ihre neuerliche Festnahme am 10. Januar erfolgte nach der Vorladung eines Revolutionsgerichts, möglicherweise als Vergeltungsmaßnahme für ein Video, das sie nach ihrer Haftentlassung veröffentlicht und in dem sie erklärt hatte, wie Gefängnisaufseherinnen sie geschlagen und erniedrigenden Leibesvisitationen unterzogen sowie anderen Misshandlungen ausgesetzt hatten. Ihre Eltern gaben in Interviews an, dass Atena Farghadani vor ihrer Überführung ins Gharchak-Gefängnis noch im Gerichtssaal geschlagen wurde. Die Anklagen gegen sie lauteten auf “Verbreitung von Propaganda gegen das System”, “Beleidigung von Parlamentsabgeordneten durch Zeichnungen” und “Beleidigung des Religionsführers”.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und bis spätestens 10. April, unter »> ai : urgent action
emilia nabokov no2
himalaya : 5.15 — Vor längerer Zeit hatte ich von einem Freund erzählt, der den fotografischen Schatten einer Künstlerin via Internet verfolgte. Er arbeitet selbst seit vielen Jahren in digitalen Räumen, beinahe könnte ich sagen, dass er seit vielen Jahren in digitalen Räumen zu existieren scheint. Zahlreiche seiner Arbeiten verbinden sich mit Arbeiten anderer Menschen, weil man auf ihn verweist, weil man auf ihn wartet, auf Texte, auch auf Bilder, Filme, Geräusche, die er aufnimmt, sobald er etwas Interessantes zu hören meint. Mit jeder Minute der vergehenden Zeit wächst sein elektrischer Schatten. Er macht das ähnlich wie eine New Yorker Fotografin, die stundenlang durch die Stadt spaziert und mit einem iPhone all das fotografiert, was ihr ins Auge fällt. Manchmal sind es hunderte Fotografien an einem einzigen Tag, die nur Sekunden nach Aufnahme von ihrem Fotoapparat, mit dem sie gleichwohl telefonieren kann, an das Flickr – Medium gesendet werden. Mein Freund erzählte, dass er den Eindruck habe, die junge fotografierende Frau in Echtzeit zu beobachten, ihr im Grunde so nah gekommen zu sein, dass er kurz vor Weihnachten fürchtete, etwas Ernsthaftes könnte ihr widerfahren sein, weil drei Tage in Folge keine Fotografie gesendet wurde. Am vierten Tag erkundigte er sich mittels einer E‑Mail, die er an Flickr sendete, ob es der schweigsamen Fotografin gut gehe, er mache sich Gedanken oder Sorgen. Man muss das wissen, mein Freund hatte der Fotografin nie zuvor geschrieben, kannte nicht einmal ihren wirklichen Namen, sondern nur ein Pseudonym: Emilia Nabokov No2. Ein halbe Stunde, nachdem die E‑Mail gesendet worden war, erschien, als habe ihm die spazierende Künstlerin zur Beruhigung geantwortet, eine Fotografie ohne Titel. Diese Fotografie erzählte davon, dass sich Emilia Nabokov No2 vermutlich nicht in New York aufhielt, sondern in Montauk, weil auf der Fotografie ein Leuchtturm auf einem verschneiten Hügel zu sehen war, der eindeutig zur kleinen Stadt Montauk an der nordöstlichen Spitze Long Islands gehörte. Im Hintergrund das Meer, und vorne, ob nun mit Absicht oder nicht, ein Fuß in einem Gummistiefel von knallroter Farbe. stop Es ist jetzt April 2014 geworden. Nach Erscheinen der Fotografie, die den roten Gummistiefel zeigt, wurden von der Künstlerin Emilia Nabokov No 2 weitere 2756 Fotografien gesendet, im Oktober des vergangenen Jahres dann die letzte Aufnahme, seither Stille. — stop
kairo
india : 7.00 — Weder darf ich ihren Namen verraten, noch in welcher Stadt sie wohnt oder für wen sie arbeitet. Alles andere darf ich erwähnen, dass sie wirkt, als sei sie einem Fellini-Film entkommen, zum Beispiel. Sie trägt blaue Turnschuhe, helle Seidenstrümpfe und einen grauen, kurzen Mantel mit einem Pelzkragen, der nicht echt ist oder doch, ich kann es nicht sagen. Wenn sie auf ihren langen, äußerst dünnen Beinen vor mir steht, überragt sie mich um einen halben Kopf, kann somit meinen Scheitel betrachten, was nie geschieht, weil sie mir stets auf oder in die Augen schaut, wenn wir miteinander sprechen. Auch dann nämlich schaut sie mir in die Augen, wenn ich ihren Blick nicht erwidere, weil ich gerade irgendeinen anderen Ort ihrer Erscheinung besichtige. An ihrem Hals sitzt ein grüngelber Schmetterling, der zu einem Tattoo gehört, das längst ihren halben Körper bedecken soll. Ich habe einmal einen flüchtigen Eindruck des Hautgemäldes erhalten, als sie mir ihren Bauch zeigte. Ich war begeistert, aber auch ein wenig erschrocken gewesen, ich konnte ihre Rippen sehen, so dünn ist sie, so zerbrechlich, dass man sie als eine Hungerkünstlerin bezeichnen könnte, eine, die gerade so wenig isst, dass sie daran nicht stirbt. Überhaupt, ja, überhaupt das Leben, es ist nicht leicht, das sagt sie mit einer Stimme, die tief ist. Ihr Mund ist ein kleiner Mund, ihre Augen sind grau, ihr Haar reicht bis fast zu den Kniekehlen herab. Jeder Mann, aber auch alle Frauen drehen sich nach ihr um, wenn sie erscheint und wieder verschwindet. Unlängst hatte sie einen sehr kleinen Koffer gepackt und war mit ihm nach Kairo geflogen. Ich fragte, ob sie sich nicht gefürchtet habe. Nein, antwortete sie, es sei ihr nicht so wichtig am Leben zu bleiben, weil sie eigentlich nicht sehr gerne lebe, das sei schon immer so gewesen, weswegen sie nur ungern trinken und essen würde. Um ein Schälchen Haferflocken zu sich nehmen zu können, muss ein halber Tag vergehen. Das ist für ein Schälchen Haferflocken eine lange Zeit. Sie lacht jetzt. Wenn doch die Männer nicht immer dasselbe wollten, na, Du weißt! Der Künstler, der ihr das Hautgemälde fertigte, habe ihr gesagt, dass er sich fürchtet über ihren blanken Rippen mit der Nadel zu arbeiten. Wieder lacht sie, ein wärmendes Geräusch. — stop
emilia nabokov no2
delta : 6.36 — Ich hatte ein Gespräch mit einem Freund, der seit vielen Jahren in digitalen Räumen arbeitet, beinahe könnte ich sagen, ich hatte ein Gespräch mit einem Freund, der seit vielen Jahren in digitalen Räumen zu existieren scheint. Zahlreiche seiner Arbeiten verbinden sich mit Arbeiten anderer Menschen, weil man auf ihn verweist, weil man auf ihn wartet, auf Texte, auch auf Bilder, Filme, Geräusche, die er aufnimmt, sobald er etwas Interessantes zu hören meint. Mit jeder Minute der vergehenden Zeit wächst sein elektrischer Schatten. Er macht das ähnlich wie eine New Yorker Fotografin, die stundenlang durch die Stadt spaziert und mit einem iPhone all das fotografiert, was ihr ins Auge fällt. Manchmal sind es hunderte Fotografien an einem einzigen Tag, die nur Sekunden nach Aufnahme von ihrem Fotoapparat, mit dem sie gleichwohl telefonieren kann, an das Flickr — Medium gesendet werden. Mein Freund erzählte, dass er den Eindruck habe, die junge fotografierende Frau in Echtzeit zu beobachten, ihr im Grunde so nah gekommen zu sein, dass er kurz vor Weihnachten fürchtete, etwas Ernsthaftes könnte ihr widerfahren sein, weil drei Tage in Folge keine Fotografie gesendet wurde. Am vierten Tag erkundigte er sich mittels einer E‑Mail, die er an Flickr sendete, ob es der schweigsamen Fotografin gut gehe, er mache sich Gedanken oder Sorgen. Man muss das wissen, mein Freund hatte der Fotografin nie zuvor geschrieben, kannte nicht einmal ihren wirklichen Namen, sondern nur ein Pseudonym: Emilia Nabokov No2. Ein halbe Stunde, nachdem die E‑Mail gesendet worden war, erschien, als habe ihm die spazierende Künstlerin zur Beruhigung geantwortet, eine Fotografie ohne Titel. Diese Fotografie erzählte davon, dass sich Emilia Nabokov No2 vermutlich nicht in New York aufhielt, sondern in Montauk, weil auf der Fotografie ein Leuchtturm auf einem verschneiten Hügel zu sehen war, der eindeutig zur kleinen Stadt Montauk an der nordöstlichen Spitze Long Islands gehörte. Im Hintergrund das Meer, und vorne, ob nun mit Absicht oder nicht, ein Fuß in einem Gummistiefel von knallroter Farbe. — stop