Aus der Wörtersammlung: vorn

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bienengeschichte

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lima : 18.12 UTC — Die fol­gen­de Geschich­te ist natür­lich eine erfun­de­ne Geschich­te. Ich habe sie vor Jah­ren bereits schon ein­mal erfun­den. Und wie­der wer­de ich so tun, als wäre sie nicht erfun­den. Am bes­ten begin­ne ich in die­ser ein­ge­üb­ten Wei­se: Seit zwei Wochen hal­te ich mich stun­den­lang unter frei­em Him­mel auf. Das ist des­halb so gekom­men, weil ich eine Auf­ga­be über­nom­men habe, die mir nach wie vor sehr inter­es­sant zu sein scheint. Ich beob­ach­te Bie­nen wie sie sich über eine Wie­se fort­be­we­gen. Des­halb lie­ge oder knie ich oder lau­fe gebückt dahin, den Kopf dicht über dem Boden, was nicht immer ganz leicht ist, weil Bie­nen doch sehr schnel­le Flie­ger sind. Jene Bie­nen­tie­re, die ich beob­ach­te, woh­nen in nächs­ter Nähe am Saum eines Wal­des, des­sen prä­zi­se Posi­ti­on ich nicht ver­ra­ten darf. Sie tra­gen Num­mern von 1 – 100 auf ihren Rücken, was für mei­ne Arbeit sehr bedeu­tend ist, da ich Bie­nen, die ohne eine Num­mer sind, nie­mals beach­te. So lau­tet mei­ne Instruk­ti­on, Bie­nen ohne Num­mer ist nicht zu fol­gen, viel­mehr ist solan­ge Zeit am Ran­de der Wie­se zu war­ten, bis eine Bie­ne mit Kenn­zeich­nung auf der Wie­se erscheint. Ich tra­ge eine Schirm­müt­ze gegen die Blend­wir­kung der Son­ne und eine Mon­okel­lu­pe, die vor mei­nem rech­ten Auge sitzt und mir einen prä­zi­sen Blick in die klei­ne Welt der Bie­nen in der Nähe des Bodens ermög­licht. Genau­ge­nom­men ist es mei­ne vor­neh­me Auf­ga­be, eine Bie­ne, die ich ein­mal in den Blick genom­men habe, solan­ge wie mög­lich zu beglei­ten auf ihrem Flug von Blü­te zu Blü­te. Ich bin indes­sen nicht ein­mal stumm. Ich sage zum Bei­spiel: Hier spricht Lou­is. Es ist 15 Uhr und 12 Minu­ten. Ich fol­ge Bie­ne No. 58. Wir nähern uns einer But­ter­blu­men­blü­te. Ja, das genau sage ich laut und deut­lich. Ich spre­che in ein Funk­ge­rät, von dem ich weiß, dass mir in der Fer­ne im See­bad Brigh­ton an der eng­li­schen Küs­te irgend­je­mand an einem ande­ren Funk­ge­rät zuhört. Ich sage: Hier spricht Lou­is. Bie­ne No 58: Lan­dung But­ter­blu­me. OVER! Dann betrach­te ich die Bie­ne wie sie in der Blü­te arbei­tet und war­te. Bald fliegt die Bie­ne wei­ter und ich sage kurz dar­auf: Bie­ne No 58: Lan­dung Feu­er­nel­ke. OVER! Ja, so mache ich das. Ich wer­de immer bes­ser dar­in. Ich glau­be, die Bie­nen mögen mich. Ich bin ihnen ver­traut gewor­den. In eini­gen Tagen wer­de ich viel­leicht etwas genau­er erzäh­len, war­um ich Bie­nen beob­ach­te. — Das Radio erzählt von Men­schen, die die rus­si­sche Höl­len­ma­schi­ne der Stadt Mariu­pol über­leb­ten. Man­che wür­den nun in der Frem­de lebend, Schlüs­sel ihrer ver­las­se­nen oder zer­stör­ten Woh­nun­gen in Taschen von Hosen und Män­teln und Klei­dern mit sich füh­ren. — stop

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tonbandspule

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romeo : 16.01 UTC — Vor 11 Jah­ren hat­te ich von der Ent­de­ckung eines Muse­ums der Nacht­häu­ser erzählt, das sich am Shore Bou­le­vard nörd­lich der Hell Gates Bridge befin­det, die den Stadt­teil Queens über den East River hin­weg mit Ran­di­lis Island ver­bin­det. Es ist noch immer ein recht klei­nes Haus, rote Back­stei­ne, ein Schorn­stein, der an einen Fabrik­schlot erin­nert, ein Gar­ten, in dem ver­wit­ter­te Apfel­bäu­me ste­hen, der Fluss so nah, dass man ihn rie­chen kann. Heu­te liegt der Gar­ten tief ver­schneit. Ich ste­he unter einem der Apfel­bäu­me, die ohne Blät­ter sind. Die­ser Baum trägt sei­ne Som­mer­früch­te so, als ob er sie fest­hal­ten wür­de, sie sind etwas klei­ner gewor­den, vol­ler Fal­ten, aber sie leuch­ten rot und sie duf­ten. Der jun­ge Mann, der mich bereits ein­mal durch das Muse­um geführt hat­te, kommt in die­sem Moment auf mich zu. Er freut sich, dass ich wie­der­ge­kom­men bin. Eine Wei­le ste­hen wir uns gegen­über, es ist zum Erbar­men kalt, wir tre­ten von einem Bein aufs ande­re, wäh­rend der jun­ge Mann eine Ziga­ret­te raucht, dann ist es fast dun­kel und wir tre­ten wie­der in das Muse­um ein. Er will mir eine klei­ne Maschi­ne zei­gen, die im ers­ten Stock seit vie­len Jah­ren in einer wei­te­ren Vitri­ne sitzt. Auf den ers­ten Blick scheint es sich um eine ähn­li­che Appa­ra­tur zu han­deln, wie jene von der ich berich­te­te. Ein Gecko von Metall, der in der Lage ist, sich zum Zwe­cke pro­tes­tie­ren­der Kom­mu­ni­ka­ti­on Wän­de hin­auf an die Decke eines Zim­mers zu bege­ben, um sich dort fest­zu­sau­gen. Aber anstatt eines oder meh­re­rer Schlag­in­stru­men­te, mit wel­chen gegen die Decke getrom­melt wer­den könn­te, ver­fügt die­ses klei­ne Wesen über einen Laut­spre­cher, der wie ein Mund gestal­tet ist, und des­halb her­vor­ra­gend geeig­net zu sein scheint, hef­ti­ge Geräu­sche des Spre­chens zu erzeu­gen. Bei die­ser Appa­ra­tur, sagt der jun­ge Ange­stell­te, han­delt es sich um den ers­ten Decken­spre­cher der Geschich­te, ein äußerst sinn­vol­les Gerät. Er for­dert mich auf, näher zu tre­ten. Sehen Sie genau hin, sehen Sie, er ist ver­beult! Tat­säch­lich war der klei­ne eiser­ne Gecko von zahl­rei­chen Schlä­gen so ver­letzt, dass er viel­leicht kaum noch in der Lage gewe­sen war, sei­ner Auf­ga­be nach­zu­kom­men. Denk­bar ist, dass er in einer Nacht der Tag­men­schen der­art wir­kungs­voll gear­bei­tet haben könn­te, dass man ihn fan­gen woll­te, wes­halb man in die Woh­nung des Nacht­men­schen ein­ge­bro­chen war, um ihn zum Schwei­gen zu brin­gen. Als man das ram­po­nier­te Gerät vie­le Jah­re spä­ter öff­ne­te, ent­deck­te man eine Ton­band­spu­le, auf wel­cher Lite­ra­tur von Bedeu­tung fest­ge­hal­ten war. Ein Bruch­stück der his­to­ri­schen Auf­nah­me war noch vor­han­den gewe­sen, und jetzt, in die­ser Nacht, spielt mir der jun­ge Mann vor, was der Appa­rat gespro­chen hat­te. Eine äußerst lau­te schep­pern­de Stim­me ist zu ver­neh­men: Zuerst woll­te er mit dem unte­ren Teil sei­nes Kör­pers aus dem Bett hin­aus­kom­men, aber die­ser unte­re Teil, den er übri­gens noch nicht gese­hen hat­te und von dem er sich kei­ne rech­te Vor­stel­lung machen konn­te, erwies sich als zu schwer beweg­lich; es ging so lang­sam; und als er schließ­lich, fast wild gewor­den, mit gesam­mel­ter Kraft, ohne Rück­sicht sich vor­wärts stieß, hat­te er die Rich­tung falsch gewählt, schlug an dem unte­ren Bett­pfos­ten hef­tig an, und der bren­nen­de Schmerz, den er emp­fand, belehr­te ihn, dass gera­de der unte­re Teil augen­blick­lich viel­leicht der emp­find­lichs­te war. — Hier endet die Spu­le, ums sofort wie­der von vor­ne zu begin­nen. — Das Radio erzähl­te von einem Jun­gen, der in einem Luft­schutz­kel­ler im Licht der Tele­fon­lam­pen sei­nen Geburts­tag fei­er­te. Er trug eine rote Papp­na­se im Gesicht und einen wei­ßen Papier­hut, einen run­den, spitz zulau­fen­den Zylin­der auf dem Kopf. — stop

ping

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zwergdrache

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sier­ra : 2.28 – Ort: Upper Bay von New York. Zeit: Som­mer 1958. Auf einem Fähr­schiff, des­sen Name ich nicht ermit­teln konn­te, steht am Heck ein Jun­ge im Alter von unge­fähr 12 Jah­ren. Es ist frü­her Nach­mit­tag, die Schu­le ver­mut­lich gera­de vor­über, der Jun­ge fährt mit dem Schiff von Man­hat­tan nach Hau­se. Er trägt Halb­schu­he, ein hel­les Hemd, eine Kra­wat­te und ein dunk­les Jackett, sei­ne Schul­ta­sche lehnt an einem Pfei­ler, der für schwe­re Schiffstaue vor­ge­se­hen ist. Im Hin­ter­grund, am Hori­zont, sind Krä­ne zu erken­nen, die wie eiser­ne Vögel auf stel­zen­ar­ti­gen Füs­sen ste­hend, zu war­ten schei­nen. Eini­ge Meter über dem Jun­gen schwebt eine Möwe, auch sie ist, wie der Jun­ge selbst, reg­los in einer Schwarz­weiß­fo­to­gra­fie gefan­gen. Zwei älte­re Per­so­nen, eine Frau in einem hel­len Kleid, und ein Mann, der einen dunk­len Anzug trägt, lun­gern auf einer Bank. Sie küs­sen sich gera­de auf den Mund, sind viel­leicht eigent­li­che Ursa­che der Foto­gra­fie, der Jun­ge, der gefähr­lich nah an der Kan­te zum Was­ser steht, ist also mög­li­cher­wei­se ver­se­hent­lich mit auf das Bild gera­ten. Eine Hand des Jun­gen ist nach vor­ne hin aus­ge­streckt, es ist sei­ne lin­ke Hand, wäh­rend sei­ne rech­te Hand einen Faden, so fein, dass er kaum noch sicht­bar ist, um die­se lin­ke aus­ge­streck­te Hand wickelt, als wäre sie eine Spu­le. Der Jun­ge scheint im Moment der Auf­nah­me mit sei­ner Arbeit des Wickelns bei­na­he fer­tig gewor­den zu sein, das Ende des Fadens wird bereits sicht­bar, ein klei­ner Dra­che von Papier ist dort befes­tigt, ein Dra­che nicht län­ger als zehn Zen­ti­me­ter und nicht brei­ter als sechs Zen­ti­me­ter, ein Zwerg­dra­che, in der ein­fach gekreuz­ten Form der Kin­der­dra­chen, des­sen Kör­per mit Sei­den­pa­pier bespannt gewe­sen sein könn­te, unbe­kann­te Far­be, viel­leicht blau, viel­leicht gelb. Eine erstaun­li­che Ent­de­ckung. Zwei­ter Blick. – Das Radio erzählt, man habe in der Stadt Mariu­pol einen städ­ti­schen Bus in Bewe­gung gesetzt. — stop

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von fallschirmen

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echo : 20.28 UTC — Hört zu! Fol­gen­des: Flie­gen­de oder Som­mer­fä­den wer­den von jun­gen und alten Spin­nen gespon­nen und zwar vor­nehm­lich von Indi­vi­du­en der Gat­tun­gen Luchs­spin­ne (Lyco­sa), Kreuz­spin­ne (Epei­ra), Krab­ben­spin­ne (Tho­mi­sus) und Weber­spin­ne (Ther­i­di­um). Die­se Spin­nen sind zum Herbst her­an­ge­wach­sen, und ihre Fäden bezeich­nen die Wege, wel­che sie zogen. Da sie aber nur bei gutem Wet­ter spin­nen, so steht die Erschei­nung in der That im Zusam­men­hang mit schö­nen Herbst­ta­gen. Die Fäden wer­den zum Teil vom Wind los­ge­ris­sen und fort­ge­führt, aber auch von den Spin­nen direkt für eine Fahrt durch die Luft erzeugt. Das Tier­chen kriecht auf einen erhöh­ten Punkt, reckt den Hin­ter­leib in die Höhe, schießt einen oder meh­re­re Fäden aus sei­nen Spinn­war­zen empor und über­läßt sich, von die­sen getra­gen, der Luft­strö­mung. Will die Spin­ne auf den Boden zurück­keh­ren, so klet­tert sie an dem Faden hin­auf und wickelt ihn dabei mit den Füßen zu einem Flöck­chen zusam­men, wel­ches sich lang­sam zu Boden senkt.* — Nichts den­ken zur Beru­hi­gung als das Wort l u m u m b a . — stop / gefun­den bei *Peter Hug
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kaja

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echo : 0.28 UTC — Ein­mal spa­zier­te ich durch die Stadt. An einer Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le dach­te ich nach über dies und das, ich mach­te ein Schritt nach vorn und sofort wie­der zurück, eine Tram ras­te dicht an mir vor­bei und stopp­te mit krei­schen­den Rädern. Ein wüten­der Fah­rer stieg aus. Um ein Haar, um ein Haar. Ein ande­res Mal wan­der­te ich in den Ber­gen, es war der Schneib­stein wo ich auf dem Gip­fel­pla­teau eine Pau­se ein­leg­te. Ich dach­te nach über dies und das wäh­rend ich mit etwas Emmen­ta­ler in der Hand über eine Wie­se spa­zier­te. Plötz­lich set­ze ich mich auf den Boden und sah panisch gewor­den in den Abgrund, ein wei­te­rer Schritt hät­te genügt, ich wäre laut­los ver­schwun­den. Ein paar Doh­len äußer­ten sich zur Situa­ti­on: Kaja, kaja, kaja. Ich dach­te noch zur Beru­hi­gung: Ihr habt aber schö­ne koral­len­ro­te Füße. — stop

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agenten

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echo : 22.07 UTC — Da und dort Augen­men­schen hin­ter Segel­tü­chern, deren Gesicht ins­ge­samt ich längst ver­ges­sen habe, ihre Nasen, ihr Kinn, ihren Mund, aber nicht ihre Namen, nicht ihre Stim­men, die etwas ver­wir­belt, wie hei­ser, in mei­nen Ohren erschei­nen. — Sams­tag. Was noch zu tun ist: Nach­den­ken über Agen­ten, wie sie in Simu­la­tio­nen exis­tie­ren, ster­ben­de Agen­ten und wel­che die über­le­ben, Agen­ten, die ein­sam sind und ande­re, die zwei­sam sind an Don­ners­ta­gen, und über jun­ge Tän­zer­ra­ver, die an Sams­ta­gen solan­ge tan­zen, bis ihre Groß­müt­ter und Groß­vä­ter nahe Fried­hö­fe besu­chen bis das Spiel von vorn beginnt. — stop

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auf der intensivstation

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ulys­ses : 8.22 UTC — Am Tele­fon berich­te­te eine Schwes­ter der Inten­siv­me­di­zin: Heu­te Nacht war es ernst, sie hat­te eine Atem­kri­se. Viel­leicht wol­len sie sofort kurz vor­bei­kom­men! Eine Stra­ßen­bahn­halb­stun­de spä­ter trat ich in die Sta­ti­on. Selt­sam hupen­de Geräu­sche von da, von dort. Blin­ken­de Appa­ra­tu­ren, gelb, rot, grün. Eine wei­te­re Schwes­ter erzähl­te, sie habe mor­gens bei der Über­ga­be gehört, es sei knapp gewe­sen: Das Leben ihrer Freun­din hing an einem sei­de­nen Faden. Und ich dach­te, sie wird nicht die­sel­be sein, wenn sie wie­der auf­wa­chen wird. Wer wird sie sein? Und ich dach­te noch dazu: Jedes der Zim­mer an die­sem Ort, jedes Abteil, ist eine Sor­gen­welt. Und schon saß ich auf einem Stuhl vor dem Bett der Schla­fen­den. Sie lag auf dem Bauch, ich konn­te ihr Gesicht nicht sehen, aber ihre Ohren. Eine der tap­fer­fröh­li­chen Schwes­tern schlug vor, ich sol­le doch mög­lichst mit der Schla­fen­den spre­chen: Das mögen sie näm­lich! Und schon waren wir unter uns allein mit den Maschi­nen. Ich ver­such­te also zu spre­chen. Es ist sehr schwer einer schla­fen­den Per­son zu erzäh­len, man hört nur sich selbst, und man glaubt nicht, was man erzählt, obwohl doch alles wahr ist, was man erzählt. Sofort in die­ser Not­la­ge such­te ich in den Maga­zi­nen mei­ner Schreib­ma­schi­ne nach Geschich­ten, die ich vor­le­sen könn­te, vor­le­sen, sagen wir, wie spre­chen, mit mei­ner Stim­me locken. Ich sag­te: Fol­gen­des, hör zu! Da ist ein Muse­um, das Muse­um der Nacht­häu­ser, das sich in New York am Shore Bou­le­vard nörd­lich der Hell Gates Bridge befin­det, ein recht klei­nes Haus, rote Back­stei­ne, ein Schorn­stein, der an einen Fabrik­schlot erin­nert, ein Gar­ten, in dem ver­wit­ter­te Apfel­bäu­me ste­hen, und der Eas­tri­ver — Fluss so nah, dass man ihn rie­chen kann. Wäh­rend eines Spa­zier­gan­ges, zufäl­lig, ent­deck­te ich die­ses Muse­um, von dem ich nie zuvor hör­te. Es war ein spä­ter Nach­mit­tag, ich muss­te etwas war­ten, weil, so war zu lesen, das Muse­um nicht vor Ein­bruch der Däm­me­rung geöff­net wür­de. Es ist eben ein Muse­um für Nacht­men­schen, die in Nacht­häu­sern woh­nen, wel­che erfun­den wor­den waren, um Nacht­men­schen art­ge­rech­tes Woh­nen zu ermög­li­chen. Als das Muse­um dann öff­ne­te, war ich schon etwas müde gewor­den, und weil ich der ein­zi­ge Besu­cher in die­ser Nacht gewe­sen war, führ­te mich ein jun­ger Mann her­um. Er war sehr gedul­dig, war­te­te, wenn ich wie wild in mein Notiz­buch notier­te, weil er über­aus span­nen­de Geschich­ten erzähl­te von jenen merk­wür­di­gen Gegen­stän­den, die in den Vitri­nen des Muse­ums ver­sam­melt waren. Von einem die­ser Gegen­stän­de will ich kurz erzäh­len, von einem metal­le­nen Wesen, das mich an eine Kreu­zung zwi­schen einem Gecko und einer Spin­ne erin­ner­te. Das Ding war ver­ros­tet. Es hat­te die Grö­ße eines Schuh­kar­tons. An je einer Sei­te des Objekts saßen Bei­ne fest, die über Saug­näp­fe ver­füg­ten, eine Kame­ra thron­te oben­auf wie ein Rei­ter. Der jun­ge Mann erzähl­te, dass es sich bei die­sem Gerät um ein Instru­ment der Ver­tei­di­gung han­de­le, aus einer Zeit da Nacht­men­schen mit Tag­men­schen noch unter den Dächern ein und der­sel­ben Häu­ser wohn­ten. Das klei­ne Tier saß in der Vitri­ne, als wür­de er sich ducken, als wür­de es jeder­zeit wie­der eine Wand bestei­gen wol­len. Das war näm­lich sei­ne vor­neh­me Auf­ga­be gewe­sen, Zim­mer­wän­de zu bestei­gen in der Nacht, sich an Zim­mer­de­cken zu hef­ten und mit klei­nen oder grö­ße­ren Ham­mer­werk­zeu­gen Klopf,- oder Schlag­ge­räu­sche zu erzeu­gen, um Tag­men­schen aus dem Schlaf zu holen, die ihrer­seits weni­ge Stun­den zuvor noch durch ihre har­ten Schrit­te den Erfin­der der Geck­oma­schi­ne, einen Nacht­ar­bei­ter, aus sei­nen Träu­men geris­sen hat­ten. Ja, zum Teu­fel, schon zum hun­derts­ten Male war das so gesche­hen, obwohl man aller­freund­lichst um etwas Ruhe, um etwas Vor­sicht gebe­ten hat­te, nein gefleht, nein geflüs­tert. Es war, sag­te der jun­ge Mann, immer so gewe­sen damals in die­ser schreck­li­chen Zeit, dass sich jene Tag­men­schen, die über geräu­mi­gen Zim­mern wohn­ten, sicher fühl­ten vor jenen Nacht­men­schen, die unter ihnen wohn­ten und mit ihren Schrit­ten die Zim­mer­de­cke nie­mals errei­chen konn­ten. Aus und fini! — stop
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ein heller windiger märztag

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oli­mam­bo : 15.55 UTC — Fan­gen wir noch ein­mal von vor­ne an: Ein jun­ger Mann, mit dem ich mich kurz im Zug unter­hielt, erzähl­te, er lade sich im Zug rei­send sehr ger­ne Roma­ne und Erzäh­lun­gen auf sein Kind­le­le­se­ge­rät. Er habe bereits eine Samm­lung meh­re­rer tau­send Bücher, deren Lek­tü­re im Grun­de jeder­zeit mög­lich wäre, weil sie in digi­ta­ler Form exis­tie­ren. Er lese je so weit, wie es die Lese­pro­be ermög­li­che. In die­ser Wei­se habe er schon sehr viel Lite­ra­tur zu sich genom­men, auch ein­füh­ren­de Vor­wor­te, die meis­tens voll­stän­dig aus­ge­lie­fert wer­den. Oder Kurz­ge­schich­ten, eine oder zwei Kurz­ge­schich­ten sei­en bei­na­he immer voll­stän­dig in den Pro­ben ent­hal­ten. Das ist schon irgend­wie eine Sucht, sag­te er. Er habe, seit er lesen lern­te, stun­den­lang in Büchern geblät­tert, da und dort einen Satz oder eine voll­stän­di­ge Buch­sei­te gele­sen, ein kom­plet­tes Buch habe er nie­mals stu­diert. — Heu­te nun, es ist Mitt­woch am Nach­mit­tag, habe ich selbst in einer digi­ta­len Pro­be fol­gen­de Text­pas­sa­ge gele­sen, die mich berühr­te. Chris­toph Rans­mayr hat sie notiert: “Mir war die Tat­sa­che oft unheim­lich, daß sich der Anfang, auch das Ende jeder Geschich­te, die man nur lan­ge genug ver­folgt, irgend­wann in der Weit­läu­fig­keit der Zeit ver­liert – aber weil nie alles gesagt wer­den kann, was zu sagen ist, und weil ein Jahr­hun­dert genü­gen muß, um ein Schick­sal zu erklä­ren, begin­ne ich am Meer und sage: Es war ein hel­ler, win­di­ger März­tag des Jah­res 1872 an der adria­ti­schen Küs­te. Viel­leicht stan­den auch damals die Möwen wie fili­gra­ne Papier­dra­chen im Wind über den Kais, und durch das Blau des Him­mels glit­ten die wei­ßen Fet­zen einer in den Tur­bu­len­zen der Jah­res­zeit zer­ris­se­nen Wol­ken­front – ich weiß es nicht.” aus : Die Schre­cken des Eises und der Fins­ter­nis: Roman von Chris­toph Rans­mayr  — stop
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regen

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bamako : 18.55 UTC Mor­gen oder über­mor­gen wer­de ich eine Geschich­te erzäh­len, die mit Jack Kerouac in einer gewis­sen losen Ver­bin­dung ste­hen wird. Als ich die Geschich­te zu notie­ren begann, erin­ner­te ich mich an einen Text, den ich vor 11 Jah­ren an die­ser Stel­le bereits gesen­det hat­te. Es war gleich­wohl im Sep­tem­ber gewe­sen, es reg­ne­te damals und ich spa­zier­te unter einem Regen­schirm. Zunächst reg­ne­te es Regen­sand, dann Regen­reis, dann reg­ne­te es klei­ne Frö­sche. Für einen kur­zen Moment dach­te ich, in einem Film ange­kom­men zu sein, der von Loui­sia­na han­del­te. Das war ein fei­nes Gefühl gewe­sen unterm klin­gen­den Schirm am Ufer des Mis­sis­sip­pi zu stehn und den Frö­schen zu lau­schen, die auf ihrer letz­ten Rei­se vom Him­mel erstaun­li­che, pfei­fen­de Geräu­sche von sich gaben. Als ich so im Frosch­re­gen am gro­ßen Fluss stand, erin­ner­te ich mich wie­der­um an einen klei­nen Text, den ich ein Jahr zuvor bereits geschrie­ben hat­te. Und sofort wuss­te ich, dass ich die­sen Text, sobald ich wie­der zu Hau­se ange­kom­men sein wür­de, noch ein­mal lesen soll­te. Es ist noch immer, auch heu­te, 12 Jah­re spä­ter, ein beru­hi­gen­der Text, ein Text, der mich berührt. Des­halb will ich die­sen klei­nen Text, eine Anlei­tung zum Glück­lich­sein, noch ein­mal, zum drit­ten Mal, für Sie wie­der­ho­len: Man ver­las­se das Haus. Sorg­fäl­tig alle Bewe­gun­gen des Ver­kehrs beach­tend, gehe man solan­ge durch die Stadt bis man auf eine Buch­hand­lung trifft. Dort kau­fe man  Cor­ta­zar, Julio – Geschich­ten der Cro­nopi­en und Famen. Dann gehe man spa­zie­ren, tra­ge den schma­len Band durch die Stra­ßen, bis man einen Park erreicht, wenn Som­mer, oder ein Cafe, wenn Win­ter ist. Man neh­me Platz und lese. Über den Umgang mit Amei­sen bei­spiels­wei­se oder wie wun­der­bar ange­nehm es ist, ein Spin­nen­bein pos­ta­lisch an einen Außen­mi­nis­ter auf­zu­ge­ben. Oder man las­se sich im Uhren­auf­zie­hen oder im Trep­pen­stei­gen unter­wei­sen. Jetzt bereits wird man eine leich­te Wär­me spü­ren, die aus der Gegend des Bau­ches nach oben und unten in Arme und Bei­ne aus­wan­dert. Also lese man wei­ter, lau­sche jenen ange­neh­men Geräu­schen im Kopf, die­sem sagen wir: Jeder­mann wird schon ein­mal beob­ach­tet haben, dass sich der Boden häu­fig fal­tet, der­ge­stalt, dass ein Teil im rech­ten Win­kel zur Boden­ebe­ne ansteigt und der dar­auf fol­gen­de Teil sich par­al­lel zu die­ser Ebe­ne befin­det, um einer neu­en Senk­rech­te Platz zu machen. Oder jenem: Trep­pen steigt man von vorn, da sie sich von hin­ten oder von der Sei­te her als außer­or­dent­lich unbe­quem erwei­sen. It works. — stopping

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von blüten

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lima : 15.01 UTC — Vor der Ver­kün­dung des Urteils hat sich das Gericht vor­nehm zurück­ge­zo­gen. Der Ange­klag­te sitzt auf sei­nem Platz und war­tet. Links und rechts etwas erhöht haben sich auch die Ver­tei­di­ger, es sind zwei ange­se­he­ne Anwäl­te der Stadt, nicht von ihren Plät­zen erho­ben, man rech­net mit einer raschen Ent­schei­dung. So auch der Staats­an­walt, ein jün­ge­rer Herr, nicht ein­mal sei­ne Robe hat er abge­legt, unter­des­sen er noch den Ange­klag­ten, glei­chen Alters, betrach­tet, als sei er sich nicht sicher, mit sei­nem Plä­doy­er eine aus­rei­chen­de Begründung für die hohe Stra­fe dar­ge­legt zu haben, die er zuletzt über den Ange­stell­ten der städ­ti­schen Biblio­the­ken zu wer­fen for­der­te. Genau so hat­te er noch gespro­chen, wer­fen, nicht ver­hän­gen soll­te man eine Stra­fe über die­sen Mann, der sich so unauf­fäl­lig hier im Saal benom­men hat­te, in eben die­ser unauf­fäl­li­gen Art und Wei­se mit der er Jah­re zuvor die Ord­nung der Stadt zu beschä­di­gen ver­such­te, heim­tü­ckisch, hin­ter­lis­tig. Weil nun der Ange­klag­te kei­ne Anga­ben zur Per­son und auch nicht zur Sache vor­brin­gen woll­te, wird die eigent­li­che Geschich­te die­ses Herrn noch zu schrei­ben sein. Wie das ange­fan­gen hat. Wann hat er die ers­te Blu­me los­ge­las­sen, wann den ers­ten Samen gewor­fen? Ist es ihm denn nicht in den Sinn gekom­men, dass er sich ins Unrecht setz­te, als er mit Vor­satz ver­such­te Urwald in der Stadt aus­zu­set­zen? Ja wie konn­te er denn glau­ben, dass man ihn ohne Stra­fe davon kom­men las­sen wür­de, nach­dem sei­ne Laren­tiae Sinen­si­os vor dem Opern­haus das Pflas­ter spreng­ten, nach­dem man im schöns­ten der zen­tra­len Parks gera­de noch ver­hin­dern konn­te, dass der gold­ro­te Samen­staub der Lobe­lia Frasen­sis sich des Pal­men­hau­ses bemäch­tig­te? Ja wie konn­te er gestat­ten, dass man ihn rühm­te als einen guten Men­schen, da doch die von ihm vor­nehm­lich unter der Stra­ßen­bahn­fahrt in die Luft gepu­der­ten Kost­bar­kei­ten der Nemuso Lasas­tro in den Lun­gen der städ­ti­schen Bür­ger wun­der­sa­me Blüten zu trei­ben began­nen? Man hat­te Mühe, noch lan­ge seit­dem, sie an ihrem Wachs­tum zu hin­dern, das Wun­der ihrer feu­er­ro­ten Kel­che ent­kam noch den Grä­bern der an den Blüten Erstick­ten. Dort unter den Ulmen und Kas­ta­ni­en foch­ten die Gärt­ner einen unglei­chen Kampf, wie ihre Brüder und Schwes­ter in den hän­gen­den Gär­ten der glä­ser­nen Ban­ken­tür­me, die ver­geb­lich die Tar­a­xa­ca des gefrä­ßi­gen Hir­ten­korb­bau­mes aus dem Hau­se zu kämp­fen ver­such­ten. Wenn mor­gens das schö­ne Son­nen­licht des Okto­bers von Osten her in das gewal­ti­ge Atri­um leuch­te­te, sah man die wohl­ge­form­ten Fall­schir­me die­ser frucht­bars­ten Pflan­zen­ge­schöp­fe in den künstlichen Win­den des Gebäu­des auf und nie­der­ge­hen. Es war dies die Stun­de, da man sich geschla­gen gab, um dann doch wie­der aus­zu­schwär­men und den Not­ru­fen zu fol­gen, die von ver­zwei­fel­ten Ange­stell­ten aus ihren Büros abge­setzt wur­den. Der jun­ge Staats­an­walt sieht durch das kühle Licht des Saa­les zu dem von ihm Beschul­dig­ten hinüber und es ereilt ihn ein Schau­er, wenn er dar­an denkt, dass gera­de jene von der Stadt bezahl­ten Stun­den des Stu­di­ums es dem Biblio­the­ka­ren ermög­lich­ten, in den bio­lo­gi­schen Samm­lun­gen und Archi­ven nach den Gie­rigs­ten unter den Blu­men die­ser Welt zu for­schen. Er sieht die­sen beschei­de­nen Herrn an einem behörd­li­chen Schreib­tisch sit­zen, einem höl­zer­nen, wie er die Fächer sei­ner leder­ne­ren Tasche mit Samen muni­tio­niert. Und dann sieht er ihn spa­zie­ren, da dort lächelnd eine Dosis Blü­ten­sa­men auf den Boden wer­fend, sodass schon bald dar­auf im Wech­sel der Duft von Kamil­le, der Duft der blau­en Anden­hya­zin­ten vom Schot­ter der Stra­ßen­bahn­ge­lei­se auf­zu­stei­gen begann. Aus der Regen­rin­ne des Poli­zei­prä­si­di­ums wuchert noch heu­te eine Com­mel­ine Cest­re him­mel­hoch über die Anten­nen hin­aus, das Bers­ten ihrer Nüsse im Okto­ber ist noch über hun­der­te Meter hin deut­lich zu hören, es sind Schüsse, es ist die reins­te Gefahr, die dort über den Dächern der Stadt auf den Win­ter lau­ert. So sit­zen sie also da, ein jun­ger Herr, ein Samen­wer­fer, und ein jun­ger Staats­an­walt und erwar­ten das Urteil, das eine gerech­te Stra­fe aus­wer­fen möge. – stop