bamako : 20.12 UTC — Schneeblind geworden. Schneeblinde 24 Jahre alte Oksana, uralt und blind von Eis, vom Licht der Sonne, vom Sehen selbst bewirkt. Ein Mobiltelefon, Сніговий телефон, das die junge Frau in Händen hält. Dort Schneeflimmerlicht. Sie fuhr eine halbe Stundenzeit mit ihrem Telefon in der Straßenbahn, eine halbe Stunde lang ist sie halb träumend unterwegs gewesen, irgendwohin, starrte auf den Bildschirm in ihrer Hand, suchte Filme, die von Toten im Osten erzählen, erschossen, von Splittern getroffen, Erfrorene. Jetzt sitzt sie auf der Bank einer Haltestelle, es geht nicht weiter, es ist Januar, Schnee fällt leise auf und abwärts. Die junge Frau lächelt, wärmt Hände und Augen an der Stille. — stop
Aus der Wörtersammlung: straßenbahn
kabinenlicht
romeo : 5.32 UTC — Wenn ich schlafe, wache ich immer wieder einmal auf, während meine Hände weiterschlafen. Das ist seltsam, meine Hände erwachen zurzeit ein wenig später als ich selbst. Ich trete ans Fenster. Manchmal ist früher Morgen. Es ist noch dunkel. Straßenbahnen queren den Platz weit da unten. In ihrem Kabinenlicht sitzen Menschen, nun wieder ohne Masken vor Mund und Nase. Es sind dieselben Personen, wie mir scheint, die ich gestern am Abend bereits durch mein Opernglas beobachtet habe. Sie werden vermutlich für das Umherfahren bezahlt. Zwei Tauben sitzen tief unter mir auf einer Straßenlaterne, sie schlafen wie meine Hände, die nun langsam wach werden, weil ich mit ihnen schreibe. — Das Radio erzählt, in Mariupol würden Menschen Schlüssel ihrer Wohnungen weiterreichen, vertraute Schlüssel jener Wohnungen, die nicht länger existieren. — Guten Morgen! — stop
linie 16
india : 4.32 UTC — Mit der ersten Fahrt der Straßenbahn morgens kommt der Tag in die Nacht, Vögel steigen aus, hocken sich in Bäume und singen, während Fliegen und Falter aus meiner Wohnung flüchten, um einzusteigen und schnell auf und davonzufahren. Ich sollte einmal morgens auf die Straße treten und zur Haltestelle gehen. Wenn nun die erste Fahrt der Linie 16 eintreffen wird, der Fahrer von Nachtfaltern bedeckt, Sitze und Lampen und auch die Arbeiter und Arbeiterinnen der Frühschicht. Dichte, bittere, staubige Luft, ein sonores Summen tausender Flügel. Kleine, harte Käferkörper, Verirrte, stürmen durch den weichen, fliegenden Falterwald. Abends kommt man dann wieder zurück, steigt aus, mit der letzten Fahrt, hellgraue Geister. Bald Herbst. Das Radio erzählt von Ludmilla N., die am 12. März in Mariupol vor ihrem Haus am Meeresboulevard durch ein Schrapnell getötet worden sein. Ihr Herz wurde unmittelbar getroffen. — stop
geräusche
ginkgo : 17.15 UTC — Es ist Nachmittag. Ich sitze vor dem Fenster nach Süden, ich sitze derart vor dem Fenster auf dem warmen Boden, dass ich den Himmel sehe, Wolken, nichts weiter, nicht, was darunter sich versammelt, Häuser, Türme, Kronen zahlreicher Bäume, Eichhörnchen, Automobile, Menschen. Ich höre eine Straßenbahn kommen, ich höre, wie sie anhält, ich höre Stimmen, ich höre, wie sich die Straßenbahn langsam in Bewegung setzt, wie sie beschleunigt, wie sie eine Weiche nimmt. Die Straßenbahn scheppert und ächzt. Ungezählte Male schepperte und ächzte eine Straßenbahn an diesem Ort. Kinderrufen. Eine Hupe, ein Martinshorn. Ich höre nicht sichtbaren Ereignissen zu. Vögel singen in diesem Augenblick, singen in meiner Vorstellung, das ist denkbar. Ich hatte vor, spazieren zu gehen. Es ist Nachmittag. Ein Telefon klingelt. — stop
kaja
echo : 0.28 UTC — Einmal spazierte ich durch die Stadt. An einer Straßenbahnhaltestelle dachte ich nach über dies und das, ich machte ein Schritt nach vorn und sofort wieder zurück, eine Tram raste dicht an mir vorbei und stoppte mit kreischenden Rädern. Ein wütender Fahrer stieg aus. Um ein Haar, um ein Haar. Ein anderes Mal wanderte ich in den Bergen, es war der Schneibstein, wo ich auf dem Gipfelplateau eine Pause einlegte. Ich dachte nach über dies und das, während ich mit etwas Emmentaler in der Hand über eine Wiese spazierte. Plötzlich setze ich mich auf den Boden und sah panisch geworden in den Abgrund, ein weiterer Schritt hätte genügt, ich wäre lautlos verschwunden. Ein paar Dohlen äußerten sich zur Situation: Kaja, kaja, kaja. Ich dachte noch zur Beruhigung: Ihr habt aber schöne korallenrote Füße. — stop
kabinenlicht
romeo : 6.08 UTC — Wenn ich schlafe, wache ich immer wieder einmal auf, während meine Hände weiterschlafen. Das ist seltsam, meine Hände wachen zurzeit ein wenig später auf als ich selbst. Ich trete ans Fenster. Manchmal ist früher Morgen. Es ist noch dunkel. Straßenbahnen queren den Platz weit da unten. In ihrem Kabinenlicht sitzen Menschen mit Masken vor Mund und Nase. Es sind dieselben Personen, wie mir scheint, die ich gestern am Abend bereits durch mein Opernglas beobachtet habe. Sie werden vermutlich für das Umherfahren bezahlt. Zwei Tauben sitzen tief unter mir auf einer Straßenlaterne, sie schlafen wie meine Hände, die nun langsam wach werden, weil ich mit ihnen schreibe. Guten Morgen! — stop
tram
echo : 8.16 UTC — Seit einem Jahr nun sehe ich Straßenbahnen zu, wie sie mich passieren in der einen oder anderen Richtung, ohne sie je betreten zu haben. Straßenbahnen sind anwesend, aber nicht verfügbar, weil ich das so entschieden habe. Das hat es in meinem städtischen Leben noch nie zuvor gegeben. Einmal wartete ich vor einer Ampel, als ein Waggon der Linie 16 neben mir hielt. Ich dachte, sie wartet wie ich. Im Waggon saß eine junge Frau. Sie schaute mich an und lächelte. Die junge Frau trug keine Maske, ihr Mund war knallrot geschminkt. Sie schien begeistert zu sein. Ihre Augen strahlten. Sie hatte etwas Verrücktes an sich, etwas Triumphierendes. — stop
auf der intensivstation
ulysses : 8.22 UTC — Am Telefon berichtete eine Schwester der Intensivmedizin: Heute Nacht war es ernst, sie hatte eine Atemkrise. Vielleicht wollen sie kurz vorbeikommen? Eine Straßenbahnhalbstunde später trat ich in die Station. Seltsam hupende Geräusche von da, von dort. Blinkende Apparaturen, gelb, rot, grün. Eine weitere Schwester erzählte, sie habe morgens bei der Übergabe gehört, es sei knapp gewesen: Das Leben ihrer Freundin hing an einem seidenen Faden. Und ich dachte, sie wird nicht dieselbe sein, wenn sie wieder aufwachen wird. Wer wird sie sein? Und ich dachte noch dazu: Jedes der Zimmer an diesem Ort, jedes Abteil, ist eine Sorgenwelt. Und schon saß ich auf einem Stuhl vor dem Bett der Schlafenden. Sie lag auf dem Bauch, ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihre Ohren. Eine der tapfer fröhlichen Schwestern schlug vor, ich solle doch möglichst mit der Schlafenden sprechen: Das mögen sie nämlich! Und schon waren wir unter uns allein mit den Maschinen. Ich versuchte also zu sprechen. Es ist schwer, einer schlafenden Person zu erzählen, man hört nur sich selbst, und man glaubt nicht, was man erzählt, obwohl doch alles wahr ist, was man erzählt. Sofort in dieser Notlage suchte ich in den Magazinen meiner Schreibmaschine nach Geschichten, die ich vorlesen könnte, vorlesen, sagen wir, wie sprechen, mit meiner Stimme locken. Ich sagte: Folgendes, hör zu! Da ist ein Museum, das Museum der Nachthäuser, das sich in New York am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge befindet, ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, und der East River so nah, dass man ihn riechen kann. Während eines Spazierganges, zufällig, entdeckte ich dieses Museum, von dem ich nie zuvor hörte. Es war ein später Nachmittag, ich musste etwas warten, weil, so war zu lesen, das Museum nicht vor Einbruch der Dämmerung geöffnet würde. Es ist eben ein Museum für Nachtmenschen, die in Nachthäusern wohnen, welche erfunden worden waren, um Nachtmenschen artgerechtes Wohnen zu ermöglichen. Als das Museum dann öffnete, war ich schon etwas müde geworden, und weil ich der einzige Besucher in dieser Nacht gewesen war, führte mich ein junger Mann herum. Er war sehr geduldig, wartete, wenn ich wie wild in mein Notizbuch notierte, weil er überaus spannende Geschichten erzählte von jenen merkwürdigen Gegenständen, die in den Vitrinen des Museums versammelt waren. Von einem dieser Gegenstände will ich kurz erzählen, von einem metallenen Wesen, das mich an eine Kreuzung zwischen einem Gecko und einer Spinne erinnerte. Das Ding war verrostet. Es hatte die Größe eines Schuhkartons. An je einer Seite des Objekts saßen Beine fest, die über Saugnäpfe verfügten, eine Kamera thronte obenauf wie ein Reiter. Der junge Mann erzählte, dass es sich bei diesem Gerät um ein Instrument der Verteidigung handele, aus einer Zeit da Nachtmenschen mit Tagmenschen noch unter den Dächern ein und derselben Häuser wohnten. Das kleine Tier saß in der Vitrine, als würde er sich ducken, als würde es jederzeit wieder eine Wand besteigen wollen. Das war nämlich seine vornehme Aufgabe gewesen, Zimmerwände zu besteigen in der Nacht, sich an Zimmerdecken zu heften und mit kleinen oder größeren Hammerwerkzeugen Klopf,- oder Schlaggeräusche zu erzeugen, um Tagmenschen aus dem Schlaf zu holen, die ihrerseits wenige Stunden zuvor noch durch ihre harten Schritte den Erfinder der Geckomaschine, einen Nachtarbeiter, aus seinen Träumen gerissen hatten. Ja, zum Teufel, schon zum hundertsten Male war das so geschehen, obwohl man aller freundlichst um etwas Ruhe, um etwas Vorsicht gebeten hatte, nein gefleht, nein geflüstert. Es war, sagte der junge Mann, immer so gewesen damals in dieser schrecklichen Zeit, dass sich jene Tagmenschen, die über geräumigen Zimmern wohnten, sicher fühlten vor jenen Nachtmenschen, die unter ihnen wohnten und mit ihren Schritten die Zimmerdecke niemals erreichen konnten. Aus und fini! — stop
luftwellen
tango : 17.11 UTC — Traf ahnungslose Personen, traf sorglose Bürger, die unbeschwert sind oder nur vorgeben, unbeschwert zu sein. Morgen werde ich sie wieder treffen in der Straßenbahn, in einem Café, am Flughafen. Sie werden mich kaum ansehen, mich, der eine Maske trägt. Noch immer, das ist denkbar, denken sie sich, scheint Gefahr in der Luft zu liegen, unsichtbare, staubige Wölkchen. Der Mann hier trägt noch immer eine Maske, vermutlich ist er hysterisch. Vermutlich deshalb fürchten sie meinen Anblick, weil ich, indem ich spreche, sie mit meinen Augen, mit meiner unsichtbaren Nase, meinem unsichtbaren Mund, meinen Gedanken, die sich mittels Wellen durch die Luft bewegen, beschweren oder infizieren könnte. — stop
giraffe
ulysses : 6.28 UTC — Ich träumte, meine Mutter würde von einer Straßenbahn überrollt worden sein. Sie hatte den schweren Unfall im Traum überlebt, aber ihr Hals war nun lang wie der Hals einer Giraffe. Weil ihr dort, wo Giraffen am Hals über erhebliche Muskelpakete verfügen, jede Stützung fehlt, wurde ein Gerüst von feinem Kirschbaumholz gezimmert, eine Röhre, durch welche zur Säuberung Wasser eingeleitet werden könnte. Getragen wird die Konstruktion von einem fahrbaren elektrischen Stuhl, den meine Mutter bewohnt, in welchem sie sitzen, aber auch zum Spazieren fahren kann. In einem weiteren Traumsegment hatte sich der Kopf meiner Mutter tatsächlich in den Kopf einer Giraffe verwandelt. Sie lebte an einem Ort weiterer Giraffenmenschen. Ich sah diese wunderbaren Wesen majestätisch durch die Parks der Umgebung streifen. Da und dort führten Leitern in die Kronen der Kastanienbäume. — stop