Aus der Wörtersammlung: strecke

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lichtbild

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gink­go : 0.24 UTC — Man möch­te nach lan­ger Zeit noch immer glau­ben, die fol­gen­de Bege­ben­heit könn­te rei­ne Erfin­dung gewe­sen sein, weil in unse­rer Zeit kaum vor­stell­bar ist, was ich in weni­gen Sät­ze erzäh­le. Ich hat­te mein Fern­seh­ge­rät beob­ach­tet, dort waren auf dem Bild­schirm Men­schen zu erken­nen, die auf Wagon­dä­chern eines Güter­zu­ges von Mit­tel­ame­ri­ka aus durch Mexi­ko nach Nord­ame­ri­ka reis­ten. Eine gefähr­li­che Fahrt, jun­ge Män­ner, aber auch jun­ge Frau­en, immer wie­der, so erzählt man, wur­den sie beraubt oder fie­len auf die Gelei­se und wür­den vom Zug über­rollt oder von Blit­zen hef­ti­ger Gewit­ter getrof­fen. Lang waren die Über­le­ben­den bereits unter­wegs gewe­sen, hat­ten nach eini­ger Zeit kaum noch zu essen oder zu trin­ken. Hun­ger und Durst wür­den sie ganz sicher gezwun­gen haben, vom Zug zu sprin­gen, wenn da nicht Men­schen gewe­sen wären, arme Men­schen, die ent­lang der Zug­stre­cke stan­den, um den Zug­rei­sen­den Was­ser und Nah­rungs­mit­tel in Tüten zuzu­wer­fen. Eine Frau, Maria, erzähl­te, sie und ihre Fami­lie wür­den immer wie­der hier­her kom­men zu den Zügen mit ihren Bro­ten, dabei hät­ten sie selbst nur sehr wenig zum Leben, aber das Weni­ge wür­den sie ger­ne tei­len, immer­zu habe sie das Gefühl, es sei viel zu gering, was sie unter­neh­men, um den Flüch­ten­den zu hel­fen. Bald ver­schwand sie aus dem Bild, trat in den dich­ten Wald zurück, auch der Zug ent­fern­te sich lang­sam. — Eine wei­te­re Frau, so erzählt das Radio, habe sich an die Bela­ge­rung der Stadt Lenin­grad erin­nert gefühlt nach wochen­lan­ger Bela­ge­rung der Stadt Mariu­pol, die sie erleb­te. Ich war damals noch ein Kind, sag­te sie, und jetzt bin ich alt. — stop

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flugstunde

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romeo : 2.03 UTC — Fol­gen­des habe ich mir vor­ge­stellt in einem Abend­zug sit­zend von einer Minu­te zur ande­ren, Vögel näm­lich, die über einen som­mer­li­chen Him­mel ras­ten, ein­an­der locken­de, Haken schla­gen­de Künst­ler, man­che flo­gen wei­te Stre­cken auf dem Rücken dicht über den Boden hin. Das war ein Vogel­him­mel wild blü­hen­der Wie­sen, Bie­nen­ge­schos­se, schwe­ben­de Brumm­krei­sel­pil­ze. Unter einem Baum kau­er­ten ein paar Kin­der, die schraub­ten an fau­chen­den Tau­ben­köp­fen her­um, eine Geschich­te feins­ter Werk­zeu­ge, jawohl, eine Geschich­te auch elek­trisch knis­tern­der Pla­ti­nen, die unter jener vor­ge­stell­ten Wie­se ver­bor­gen lagen. Ich ruh­te dann bald selbst auf dem fun­ken­den Boden und mein­te noch das Sin­gen der Kno­chen­sä­gen hin­ter mei­nen Ohren zu hören. Dann auf und davon, senk­recht in Spi­ra­len eines Unge­üb­ten gegen die Wol­ken. — Heu­te, so sehr ich auch mei­ne Ohren bemü­he, ist aus dem Radio nichts zu ver­neh­men. — stop

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saharaschwefel

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tan­go : 0.12 — Herr Lud­wig, den ich im Janu­ar besuch­te, erzähl­te mir, dass er sich vor Jah­ren wünsch­te, ein Schiffs­mo­dell aus Streich­höl­zern zu bau­en. Unver­züg­lich kauf­te er damals eini­ge Tau­send der höl­zer­nen Stäb­chen, weil er sie auf die­sem Wege ins­ge­samt bil­li­ger erste­hen konn­te. Außer­dem such­te er nach einem geeig­ne­ten Schiff, des­sen Kör­per sehr gut doku­men­tiert sein soll­te. Sei­ne Wahl fiel auf die RMS Queen Mary 1. Er lud Plä­ne aus dem Inter­net, Grund­ris­se, Blau­pau­sen, Hun­der­te von Foto­gra­fien sowie Let­ter­cards, die an Bord des luxu­riö­sen Schif­fes von Pas­sa­gie­ren wäh­rend ihrer Rei­se notiert wor­den waren. Herr Lud­wig erwähn­te, dass er sich bald in ein Aben­teu­er ver­wi­ckelt fühl­te, sei­ne Tage, die zuvor schwe­re und lee­re Tage gewe­sen sei­en, wären plötz­lich leicht gewor­den und die Zeit ging nur so in Eil­schrit­ten dahin, dass es eine wah­re Freu­de war, kaum auf­ge­stan­den sei schon wie­der Abend gewe­sen. Im Dezem­ber vor zwei Jah­ren, kurz vor Weih­nach­ten, war Herr Lud­wig sei­nen Anga­ben zur Fol­ge mit der Vor­be­rei­tung sei­ner Rekon­struk­ti­ons­ar­bei­ten fer­tig gewor­den, und so öff­ne­te er eine Schach­tel Streich­höl­zer und füg­te, nach­dem er mit einem Mes­ser­chen Schwe­fel­köp­fe bei­der Stäb­chen sorg­sam abge­trennt hat­te, mit einem Kleb­stoff, der wun­der­voll nach Wal­nuss­li­kör duf­te­te, zwei der Zünd­höl­zer seit­wärts anein­an­der. Nach einer Wei­le, er hat­te mehr­fach sei­nen Arbeits­tisch umrun­det, prüf­te er die Fes­tig­keit der Ver­bin­dung und war zufrie­den. Er bau­te, in die­ser Wei­se der Kle­bung fort­fah­rend, zunächst einen Schorn­stein des rie­si­gen Schif­fes, dann einen zwei­ten Schorn­stein, drei Wochen ver­gin­gen, bis bei­de Schorn­stei­ne fer­tig gewor­den waren, und auf den Tisch gestellt, so dass sie nun mit­ein­an­der ver­bun­den wer­den konn­ten. Die Hän­de des alten Man­nes rochen in jenen Wochen sei­ner fili­gra­nen Arbeit nach Schwe­fel, und die Luft duf­te­te nach Wal­nüs­sen und Ace­ton, und irgend­wann in die­ser Zeit muss sich Herr Lud­wig, ver­se­hent­lich oder mit Vor­satz, von sei­nen Schiff­bau­plä­nen ent­fernt haben. Als Janu­ar wur­de, waren auf dem Tisch deut­li­che Kon­tu­ren eines Dro­me­dars zu erken­nen, des­sen Kör­per auf vier Schorn­stei­nen ruh­te, eine wun­der­ba­re Wand­lung sei­ner Vor­ha­bens, das Schiff baue er spä­ter, sag­te Herr Lud­wig, in dem er mit einer bewähr­ten Bewe­gung einen Schwe­fel­kopf von einem Streich­holz trenn­te. Der Kopf hüpf­te über den Tisch, und als er von der Kan­te des Tisches stürz­te, war nicht das Min­des­te zu hören gewe­sen. — Das Radio erzählt, in Mariu­pol sol­len Men­schen im März für weni­ge Minu­ten auf eine Stras­sen­kreu­zung getre­ten sein, um dort ihr Mobil­te­le­fo­ne gegen den Him­mels zu stre­cken. Indes­sen tob­te um sie her­um der Kampf um die Stadt. — stop
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metamorphosen

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tan­go : 15.38 UTC — Eine Frau sitzt an einem Tisch, Sie notiert Ovids Meta­mor­pho­sen auf eine Papier­luft­schlan­ge. Wie behut­sam sie vor­geht, um das Papier nicht zu zer­rei­ßen. Kaum ist sie mit der Beschrif­tung einer der papie­re­nen Stre­cken zu Ende gekom­men, ver­bin­det sie mit einem Tröpf­chen Kleb­stoff eine wei­te­re noch unbe­schrif­te­te Schlan­ge. Kurz dar­auf notiert sie wei­ter, sehr fei­ner Pin­sel. Vor drei Jah­ren war ich die­ser Frau zum ers­ten Mal begeg­net. Heut ist sie noch immer frisch, eine Blü­te, viel­leicht des­halb, weil ihre Auf­ga­be, ihr Pro­jekt, unend­lich zu sein scheint. Vic­tor Klem­pe­rers Tage­bü­cher bereits seit Mai, dem 5. — stop

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im zug

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vic­to­ry : 22.02 – Ich hab mich auf den Weg gemacht durch mei­ne Stadt. Ich dach­te noch, Du wirst die­se Stadt spa­zie­ren, ohne sie zu berüh­ren mit Dei­nen Hän­den, kei­nen Men­schen berüh­ren, kei­ne Stra­ßen­bahn, kei­ne Häu­ser­wand, kei­ne Kaf­fee­tas­se, kei­nen Knopf, kei­ne Gelän­der. Mit die­ser Vor­stel­lung im Kopf ging ich los, Hän­de in den Hosen­ta­schen. Schon ein­mal hab ich so etwas ver­sucht, da wars nur ein Spiel, in einem New Yor­ker Sub­way­zug mit geschlos­se­nen Augen frei­hän­dig zu ste­hen und zu balan­cie­ren, sagen wir eine zwei­stün­di­ge Fahrt mit der Linie D von Coney Island rauf zum Bedford Park Bou­le­vard. Das Rei­ten auf einem wil­den Tier. Viel­leicht könn­te ich sagen, dass das Erler­nen einer Sub­waystre­cke, das neu­ro­na­le Ver­zeich­nen ihrer Stei­gun­gen, ihrer Gefäl­le, ihrer Kur­ven, auch ihrer feins­ten Uneben­hei­ten, dem wort­ge­treu­en Stu­di­um eines Roman­tex­tes ver­gleich­bar ist. Aber dann die Zufäl­le des All­ta­ges, das nicht Bere­chen­ba­re, ein Tun­nel­vo­gel, eine schmut­zi­ge Möwe, Höhe 135. Stra­ße, die den Zug zur Brem­sung zwingt, Eigen­ar­ten des Zuges selbst, das unvor­her­seh­ba­re Ver­hal­ten zustei­gen­der Fahr­gast­per­so­nen, eine Jazz­band, wie ich drin­gend dar­um bit­te, man möge nicht näher kom­men. — stop
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lichtbild

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alpha : 20.22 UTC — Ein­mal, vor zwei Jah­ren, notier­te ich eine Geschich­te, von der ich damals dach­te, sie wür­de für rei­ne Erfin­dung gehal­ten, weil kaum vor­stell­bar gewe­sen war, was ich in weni­gen Sät­ze erzähl­te. Ich hat­te mein Fern­seh­ge­rät beob­ach­tet, dort waren auf dem Bild­schirm Men­schen zu erken­nen gewe­sen, die auf Wagon­dä­chern eines Güter­zu­ges von Mit­tel­ame­ri­ka aus durch Mexi­ko nach Nord­ame­ri­ka reis­ten. Eine gefähr­li­che Fahrt, jun­ge Män­ner, aber auch jun­ge Frau­en, immer wie­der, so erzählt man, wur­den sie beraubt oder fie­len auf die Gelei­se und wur­den vom Zug über­rollt oder von Blit­zen hef­ti­ger Gewit­ter getrof­fen. Lang waren die Über­le­ben­den bereits unter­wegs gewe­sen, hat­ten nach eini­ger Zeit kaum noch zu essen oder zu trin­ken. Hun­ger und Durst wür­den sie ganz sicher gezwun­gen haben, vom Zug zu sprin­gen, wenn da nicht wei­te­re Men­schen gewe­sen wären, arme Men­schen, die ent­lang der Zug­stre­cke war­te­ten, um den Zug­rei­sen­den Was­ser und Nah­rungs­mit­tel in Tüten zuzu­wer­fen. Eine Frau, Maria, erzähl­te, sie und ihre Fami­lie wür­den immer wie­der hier­her kom­men zu den Zügen mit ihren Bro­ten, dabei hät­ten sie selbst nur sehr wenig zum Leben, aber das Weni­ge wür­den sie ger­ne tei­len, immer­zu habe sie das Gefühl, es sei viel zu gering, was sie unter­neh­men, um den Flüch­ten­den zu hel­fen. Bald ver­schwand sie aus dem Bild, trat in den dich­ten Wald zurück, auch der Zug ent­fern­te sich lang­sam. — Licht­bil­der, das ist denk­bar, die erin­nert wer­den, ver­dich­ten sich, wer­den zu Nach­bil­dern, die wie von selbst zurück­keh­ren. Es scheint so wie mit Lügen zu sein, die X Male wie­der­holt, nach und nach schein­bar zu Wahr­heit wer­den. — stop

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joyce carol oates

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ulys­ses : 15.08 UTC — Neh­men wir ein­mal an, dem ursprüng­li­chen Code einer Seeane­mone wür­de ein wei­te­rer Code hinzu­ge­fügt, eine sehr kur­ze Stre­cke nur, sagen wir Joy­ce Carol Oates Erzäh­lung Nackt mit­tels Nukleo­ba­sen­paaren notiert. Was wür­de gesche­hen? Inwie­fern wür­de Joy­ce Carol Oates Text Wesen oder Gestalt einer Seeane­mone berüh­ren? Wür­de der Text von Seeane­mone zu Seeane­mone weiter­ge­reicht, wür­de ihr Text sich nach und nach verän­dern, wür­de er viel­leicht ent­lang der Küsten­li­nien wan­dern? Seit Dezem­ber 2014, ich hat­te wie­der ein­mal geträumt, sind mensch­liche Per­so­nen denk­bar, die nur zu dem einem Zweck exis­tieren, näm­lich Ohren, ein gutes Dut­zend wahl­weise auf ihren Armen oder Schul­tern zu tra­gen, um sie gut durch­blutet solan­ge zu konser­vieren, bis man sie von ihnen abneh­men wird, um sie auf eine wei­te­re Per­son zu ver­pflan­zen, die eine gewis­se Zeit oder schon immer ohne Ohren gewe­sen ist. Unheim­liche Sache. Unheim­lich nach wie vor. – stop

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patagonien

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nord­pol : 22.08 UTC – Schnee liegt sehr fein wie gepu­dert, die Luft klirrt von der Käl­te, Eich­hörn­chen het­zen über die Stra­ße. Das Haus, in dem die alten Men­schen woh­nen dampft aus den Schorn­stei­nen wie ein gro­ßes Schiff, das gera­de Anlauf nimmt, um in See zu ste­chen. Der Boden auf dem ich gehe unter Bäu­men, an deren blatt­lo­sen Ästen sich fros­ti­ge Äpfel hal­ten, zit­tert. Und auch der lan­ge Flur im Haus, über den ich spa­zie­re, scheint unter mei­nen Füßen zu schlin­gern. An einem Tisch sitzt eine alte Leh­re­rin, sie sitzt immer nur so da und schaut zum Fens­ter hin­aus, sie spricht nicht, nie­mals. Eine ande­re alte Dame han­gelt sich in ihrem Roll­stuhl sit­zend durch die Flu­re von mor­gens bis abends, sie lächelt, wenn man ihr begeg­net. Klein ist sie, zier­lich, trai­niert wie eine Tur­ne­rin, mage­re und doch kräf­ti­ge Arme. Bei­na­he mei­ne ich, dass sie sich an mich viel­leicht erin­nert, sie lächelt mich an, ver­mut­lich des­halb, weil ich ihr schon häu­fig begeg­ne­te. Längst könn­te sie eine Stre­cke bis nach Mexi­ko in die­ser han­geln­den Wei­se zurück­ge­legt haben. Oder bis nach Pata­go­ni­en. — stop

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elefanten in der schnellbahn

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fox­trott : 10.28 — In einem Schnell­bahn­zug beob­ach­te­te ich einen Mann, wie er von Abteil zu Abteil wan­der­te, um auf Stre­cken­plä­ne des Ver­kehrs­ver­bun­des die Sil­hou­et­te je eines Ele­fan­ten auf­zu­brin­gen. Er führ­te des­halb Bögen selbst­kle­ben­der Foli­en mit sich, in wel­che For­men hun­der­ter klei­ner Ele­fan­ten­kör­per ein­ge­stanzt wor­den waren. Ich frag­te den Mann, wer ihn beauf­tragt habe. Er ant­wor­te­te, dass er selbst sich den Auf­trag erteilt habe, dass er schon sehr lan­ge Zeit den Wunsch ver­spür­te, Wohn­or­te der Ele­fan­ten in der Stadt zu ver­mer­ken. Er habe gespart, jetzt schrei­te er zur Tat. Eini­ge Straf­an­zei­gen habe er bereits ent­ge­gen­ge­nom­men wegen Sach­be­schä­di­gung, das war des­halb gewe­sen, weil Ele­fan­ten zwar im Zoo­lo­gi­schen Gar­ten, aber nicht im Nym­phen­bur­ger Schloß­park wohn­haft sein sol­len. Genau dort habe er indes­sen nicht sel­ten Ele­fan­ten beob­ach­tet, wie sie fürst­li­che Wäl­der durch­streif­ten. Nun, sag­te der Mann, ich bin doch nicht ver­rückt. — stop

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luftpapiere

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alpha : 15.32 UTC — Über­all schwe­ben im Som­mer Fäden in der Luft her­um, Spin­nen­ge­we­be, auf wel­chem Roma­ne notiert sein könn­ten mit­tels sehr klei­ner Zei­chen. Eine Frau sitzt an einem Tisch und notiert Ovids Meta­mor­pho­sen auf eine Papier­luft­schlan­ge. Wie behut­sam sie vor­geht, um das Papier nicht zu zer­rei­ßen. Kaum ist sie mit der Beschrif­tung einer der papie­re­nen Stre­cken zu Ende gekom­men, ver­bin­det sie mit einem Tröpf­chen Kleb­stoff eine wei­te­re noch unbe­schrif­te­te Schlan­ge. Kurz dar­auf notiert sie wei­ter. Sehr fei­ner Pin­sel. Das ist kei­ne erfun­de­ne Geschich­te. — stop

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