Aus der Wörtersammlung: spazieren

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von handvögeln

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romeo : 14.25 UTC — Die New York Times erzähl­te nach mona­te­lan­ger Recher­che von Ver­bre­chen, die rus­si­sche Streit­kräf­te in der Stadt Bucha ver­üb­ten. Über­all, das wird nun sicht­bar, waren Vögel zuge­gen gewe­sen. Sie flo­gen über der Stadt in Schwär­men, sie hock­ten hin­ter Vor­hän­gen und in den Man­tel­ta­schen Spa­zie­ren­der, auch in den Hän­den getö­te­ter Men­schen, sie zeich­ne­ten das Licht, das durch ihre Augen fiel auf ihre Spei­cher­kar­ten. Sie ver­zeich­ne­ten Geräu­sche, Stim­men. Sie dien­ten als Tele­fo­ne, waren gedul­di­ge Agen­ten in den Hän­den der Mör­der, die nicht ahn­ten, dass auf­ge­zeich­net wur­de was sie ihrer Hei­mat erzähl­ten. Die Vögel bemerk­ten Num­mern, die gewählt wor­den waren, Num­mer, die zu den mor­den­den Per­so­nen führ­ten in das bür­ger­li­che Leben. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schreib­zim­mer
Mittags
15 Uhr

 

 

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meine hände : sars cov 2

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zou­lou : 15.58 UTC — Hän­de, mei­ne Hän­de, die sich beneh­men, als wären sie Lebe­we­sen für sich, dahin tas­ten, dort­hin tas­ten, über Hand­läu­fe glei­ten, Klin­gel­knöp­fe berüh­ren, Äpfel und Bir­nen, ein Päck­chen, ein Buch, ein Tele­fon, mei­ne Schreib­ma­schi­ne, auch plötz­lich, ich bemer­ke es zu spät, über mei­ne Stirn spa­zie­ren, über Nase und Mund, weil sie sich Jahr­zehn­te lang unge­straft in die­ser Wei­se bewe­gen durf­ten. Wie nur soll ich sie kon­trol­lie­ren? Ich dach­te an Glöck­chen, die an mei­nen Fin­gern befes­tigt, mich war­nen wür­den, sobald ich mei­ne Hän­de bewe­ge, damit ich sie nie­mals ver­ges­se, oder an elek­tri­sche Kon­takt­blätt­chen, die mich per Funk­si­gnal unver­züg­lich infor­mie­ren wür­den, sobald ich mich mit mei­nen Hän­den eben Mund, Nase Wan­gen, Stirn und Augen, zu nähern droh­te. Selt­sa­me Sache. — stop
ping

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stimmen

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india : 20.12 UTC — Ges­tern hat­te ich mich plötz­lich an Vaters Stim­me erin­nert. Die Stim­me sag­te: Aber das ist doch Koko­lo­res. Dann lach­te die Stim­me. Und ich dach­te noch dar­an, wie ich vor Jah­ren ein­mal bemerk­te, dass ich mich für einen Moment nicht mehr an die Stim­me mei­nes Vaters erin­nern konn­te. Wie ich auch such­te, ich fand sie nicht. Ich war natür­lich sehr erschro­cken gewe­sen. Anstatt der Stim­me mei­nes Vaters, hör­te ich die Stim­me des gro­ßen Erzäh­lers Isaak B. Sin­ger, eine hel­le und zugleich raue Stim­me, die der Stim­me mei­nes Vaters sicher ähnel­te. Ich hat­te vor ein oder zwei Jah­ren Sin­gers Stim­me in einem Film­in­ter­view gehört. Foto­gra­fien zei­gen den alten Mann spa­zie­rend am Atlan­tik. Auch mein Vater war mehr­fach in Brigh­ton Beach gewe­sen, wenn ich nicht irre. Plötz­lich kehr­te die Erin­ne­rung an die Stim­me mei­nes Vaters zurück. Isaac B. Sin­gers Geschich­te im übri­gen geht so: Kurz nach mei­ner Ankunft ( in Ame­ri­ka ) betrat ich zum ers­ten mal eine Cafe­te­ria, ohne zu wis­sen was das ist. Ich hielt es für ein Restau­rant. Ich sah lau­ter Leu­te mit Tabletts und frag­te mich, war­um man in so einem klei­nen Restau­rant so vie­le Kell­ner brauch­te. Ich gab jedem, der mit einem Tablett vor­bei­kam, ein Zei­chen. Ich hielt sie alle für Kell­ner und woll­te etwas bestel­len. Aber sie igno­rier­ten mich, man­che lächel­ten auch. Und ich dach­te, was für ein unwirk­li­cher Ort! Es war wie in einem Traum. Ein klei­nes Café mit so vie­len Kell­nern, und nie­mand beach­tet mich! Irgend­wann begriff ich dann, was eine Cafe­te­ria ist. Sie wur­de mein zwei­tes Zuhau­se. Die Cafe­te­ri­en wur­den eine Art Zuhau­se für Flücht­lin­ge aus Polen, Russ­land und ande­ren Län­dern. Vie­le mei­ner Geschich­ten spie­len in Cafe­te­ri­en, wo all die­se Men­schen auf­ein­an­der­tra­fen: die Nor­ma­len, die weni­ger Nor­ma­len und die Ver­rück­ten. Das ist also der Hin­ter­grund mei­ner Geschich­ten, die in Cafe­te­ri­en spie­len. – stop

 

 

 

 

 

 

 

 

Spu­ren einer Zeit
da mein Vater
das Wort
Kokolores
sagte 

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von vögeln

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sier­ra : 22.08 UTC — Klei­ne oder hand­li­che flie­gen­de Foto­ap­pa­ra­te sind zunächst zu klei­nen flie­gen­den Film­ka­me­ras gewor­den. Man kann sie mit Hil­fe eines Mobil­te­le­fons und zwei­er Dau­men steu­ern. Die­se flie­gen­den, fil­men­den auf­merk­sa­men Augen schei­nen Objek­te der Vogel­welt gewor­den zu sein. Man könn­te nun wei­te­ren durch­blu­te­ten Vögeln in der Luft begeg­nen. Man könn­te ihnen fol­gen. Man könn­te gleich­wohl Men­schen besu­chen, die in höhe­ren Eta­gen städ­ti­scher Wohn­häu­ser leben. Man könn­te Men­schen betrach­ten aus dem Dun­kel her­aus, ohne viel­leicht selbst gese­hen zur wer­den. Man kann, das ist beob­ach­tet, nun seit bald zwei Jah­ren Spreng­stof­fe laden und aus grö­ße­rer Höhe zur Erde hin stür­zen. Beob­ach­ten­de Vögel sind zu Raub­vö­geln gewor­den, sie rau­ben Bil­der und töten. Die Vor­stel­lung heu­te, spa­zie­rend im Pal­men­gar­ten, die Vor­stel­lung sehr klei­ner zier­li­cher Droh­nen, die her­um­flie­gen, um da und dort in den Städ­ten und in den Wäl­dern, Pro­ben zu neh­men von Kot, aus Abfall­stof­fen der Müll­hal­den, Gewäs­sern, auch unmit­tel­bar aus den Blut­kreis­läu­fen leben­der Orga­nis­men, von Kühen und von Men­schen, denk­ba­re Wel­ten. — stop

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im warenhaus

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nord­pol : 5.04 UTC — Denk­bar wie­der­um, dass irgend­wann ein­mal Waren­häu­ser exis­tie­ren wer­den für Ohren, Nasen, Augen, Läden also für Kop­fes Zube­hör. Auch Geschäf­te für Nie­ren, Kno­chen, Seh­nen, Haut und wei­te­re Mate­ria­li­en eines mensch­li­chen Kör­pers sind wahr­schein­lich gewor­den. Man wird, sofern man über aus­rei­chend finan­zi­el­le Mit­tel ver­fügt, wesent­li­che ana­to­mi­sche Sub­stan­zen der eige­nen Exis­tenz in zen­tra­len Maga­zi­nen voll aus­ge­wach­sen vor­rä­tig hal­ten, um in der Not ohne Ver­zö­ge­rung han­deln zu kön­nen. Fern­rei­sen­de füh­ren dann Behäl­ter mit sich, in wel­chen sich tief­ge­kühl­te Lun­gen und Her­zen befin­den. Ein ana­to­mi­scher Eis­schat­ten könn­te unse­re Lebens­zeit beglei­ten, solan­ge man noch nicht in der Lage ist, eine kom­plet­te, eine durch­blu­te­te, wil­len­lo­se Gestalt, eine Kopie der eige­nen Per­son in nächs­ter Nähe in Bereit­schaft zu hal­ten. Die­se Per­son könn­te über Rei­se­pa­pie­re ver­fü­gen, über per­sön­li­che  Klei­dung, über einen Schrank­kof­fer zum Schla­fen, über einen Stuhl zum Sit­zen, über etwas Per­so­nal, wel­ches das dop­pel­te Wesen füt­tern und baden und spa­zie­ren füh­ren wird im Gar­ten. Jedes fünf­te Jahr wür­de das Wesen erneu­ert wer­den. In den Papie­ren mei­nes Schat­tens könn­te fol­gen­de Signa­tur zu ent­de­cken sein: Lou­is / XD5878682-NOE06 24.11.18~24.11.2023. − stop
polaroidbus

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zerzaust

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zou­lou : 12.28 UTC — L. erzäh­le vor lan­ger Zeit, sie habe ein­mal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zei­tun­gen. Trotz­dem sei die­se Frau, deren Namen sie nicht in Erin­ne­rung habe, Wör­tern sehr eng ver­bun­den gewe­sen, da sie pau­sen­los Wör­ter notier­te. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafes, U‑Bahnen, auf Bän­ken sit­zend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie ver­las­sen haben soll. Sie schrieb an einem ein­zi­gen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer wei­te­ren Vari­an­te mit sich führ­te, im Grun­de an einem Buch einer­seits, das sie bereits auf­ge­schrie­ben hat­te, und einem Buch ande­rer­seits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrie­ben wor­den war, wie­der­hol­te, aber natür­lich nicht, ohne das Buch im Pro­zess des Abschrei­bens zu ergän­zen. Jede Ergän­zung wur­de sorg­fäl­tig über­legt, manch­mal wur­den Wör­ter ersetzt, gan­ze Sät­ze oder ein Gedan­ke hin­zu­ge­fügt, sehr sel­ten eine Pas­sa­ge gestri­chen. In die­ser Wei­se ver­än­der­te sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wur­de lang­sam schwe­rer. Immer dann, wenn ein Buch abge­schrie­ben wor­den war, ver­schwand das abge­schrie­be­ne Buch. Und wie­der­um begann die Frau eine wei­te­re Kopie anzu­fer­ti­gen, die sich im Pro­zess der Ver­dopp­lung schein­bar nur unwe­sent­lich von ihrem Ori­gi­nal unter­schei­den wür­de. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spa­zie­ren und war stets sorg­fäl­tig geklei­det. Sie soll schon ein biss­chen wild aus­ge­se­hen haben, irgend­wie zer­saust, aber glück­lich, sagen wir, zer­zaust und immer beschäf­tigt und irgend­wie fröh­lich. Sie notier­te zier­li­che, äußerst exak­te Zei­chen. — Das Radio erzählt von einer Repor­te­rin der Besat­zungs­ar­mee, sie habe Men­schen, wel­che vor Last­kraft­wa­gen war­te­ten, um Brot zu erhal­ten, gera­ten, dank­bar zu sein. — stop

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in den wolken spazieren

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echo : 11.28 UTC — Das war schon selt­sam, wie die alte Dame zum ers­ten Mal in ihrem Leben vor­sich­tig hin­ter einem Leicht­ge­wicht­roll­a­tor spa­zier­te. Sie trug Leder­hand­schu­he, ver­mut­lich weil sie zur Maschi­ne, die hel­fen soll, ihren Gang zu sta­bi­li­sie­ren, einen gewis­sen stoff­li­chen Abstand ein­zu­hal­ten wünsch­te. Sie schien sich zu fürch­ten, ernst schau­te sie gegen den Boden. Mög­li­cher­wei­se fürch­te­te sie, mit den Räd­chen und Gestän­gen aus Car­bon in ihrer nächs­ten Nähe ver­wach­sen zu müs­sen. Gern wür­de sie wei­ter­hin auf ihren eige­nen Bei­nen allein, die sie schon so lan­ge Zeit kann­te, Schritt für Schritt Wege bestrei­ten, die ihr ver­traut waren, das Laub der Buchen, der Kas­ta­ni­en auf der Stra­ße, wie schön, ein Tep­pich, Schne­cken da und dort, die sich herbst­lich lang­sam fort­be­weg­ten schein­bar ohne Ziel. Es war feucht an jenem Mor­gen, Wol­ken berühr­ten den Boden, auf den die alte Dame weni­ge Tage zuvor noch gestürzt war, ein­fach so, ohne einen Grund und ohne wie­der auf­ste­hen zu kön­nen, uner­hört, so ein Schla­mas­sel. Hun­dert Meter weit war sie nun schon gelau­fen, da ent­deck­te sie eine Klin­gel an ihrem Gefährt, das so leicht war, dass sie es mit einer Hand anhe­ben und für eine Wei­le in der Luft fest­hal­ten konn­te. Ja, Kraft in den Armen, aber die Bei­ne, waren unsi­cher gewor­den, viel­leicht des­halb, weil sie hin­ter die­ser Maschi­ne her­lau­fen muss­te. Für einen Moment blieb die alte Dame ste­hen. Es wur­de ganz still. Sie beug­te sich zur Klin­gel her­ab, und schon war ein hel­les Geräusch zu hören, ein ange­neh­mes Geräusch, zwei­fach war das Geräusch zu hören gewe­sen. — Das Fern­se­hen erzählt, in der Stadt Mariu­pol war kein Radio zu ver­neh­men gewe­sen in der Zeit der Blo­cka­de, nur das Radio der Pro­pa­gan­da von Osten her, und das Radio der mensch­li­chen Stim­men in den Kel­lern und auf den Stras­sen. — stop

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von der existenz der schneckenkäfer

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bamako : 10.02 UTC — Wie, frag­te ich, soll­te ein Wesen gestal­tet sein, von dem nie­mand sagen könn­te, ob es sich tat­säch­lich um einen Käfer oder doch eher um eine Schne­cke han­del­te? Wie schwer wöge in einer defi­nie­ren­den Glei­chung das Vor­kom­men eines Schne­cken­hau­ses? Wäre nicht viel­leicht ein Käfer, des­sen geschlos­se­ne Pan­ze­rung die Form eines Schne­cken­hau­ses nach­emp­fin­det, bereits als eine Schne­cke anzu­se­hen, die gera­de noch miss­lun­gen ist? Dür­fen Schne­cken flie­gen? — Das Radio erzähl­te, Scharf­schüt­zen wür­den zur Übung auf Möwen sowie spa­zie­ren­de Men­schen geschos­sen haben. — stop

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ja bitte

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ulys­ses : 15.02 UTC — In den Archi­ven mei­ner fla­chen Glas­schreib­ma­schi­ne sind letz­te Gesprä­che gebor­gen, die ich vor 6 Jah­ren im Som­mer mit mei­ner Mut­ter führ­te. Sie war im Haus der alten Men­schen plötz­lich wie­der wach gewor­den, so wach, dass sie in ihrem Bett sit­zen und erzäh­len woll­te. Sie trug, ich erin­ne­re mich noch gut, eine rosa­far­be­ne Blu­se, und wäh­rend sie erzähl­te, fass­te sie immer wie­der nach mei­ner Schreib­ma­schi­ne, woll­te sie in Hän­den hal­ten, sah die Bewe­gung ihrer Stim­me auf dem Bild­schirm, Ampli­tu­den. Plötz­lich schlief sie ein. Und ich ließ das Ton­band­pro­gramm lau­fen, leg­te mei­ne Schreib­ma­schi­ne neben Mut­ter ins Bett und ging ein wenig über die Flu­re spa­zie­ren. Als ich zurück­kehr­te, war mei­ne Mut­ter wach gewor­den. Ich hör­te, noch war ich auf dem Flur, wie sie sprach, wie sie der Maschi­ne erzähl­te, die sie gleich neben sich lie­gen sah. Sie lach­te als sie mich ent­deck­te und erzähl­te wei­ter, ohne eine Pau­se zu machen. Ich habe die­se Gesprä­che mit mei­ner Mut­ter, ihre Erzäh­lun­gen, seit­her nicht wie­der gehört, habe sie jedoch sorg­fäl­tig gesi­chert. Es fällt nicht leicht ihre Stim­me zu erin­nern so ein­fach so. Aber wenn ich mir vor­stel­le, ich wür­de sie anru­fen, dann geht es: Sie sagt: Ja bit­te? — Das Radio erzählt von einem jun­gen Mann, der sich in Mariu­pol schüt­zend vor sei­ne Mut­ter stell­te. Er wur­de in der Küche eines Hau­ses im Stadt­teil Sta­ryj Krym erschos­sen. Das war bereits im März gewe­sen. Sei­ne Mut­ter über­leb­te. Sie erzählt im Gespräch, sich kön­ne das Gesicht des Schüt­zen sehr gut erin­nern. — stop
ping