Aus der Wörtersammlung: nase

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meine hände : sars cov 2

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zou­lou : 15.58 UTC — Hän­de, mei­ne Hän­de, die sich beneh­men, als wären sie Lebe­we­sen für sich, dahin tas­ten, dort­hin tas­ten, über Hand­läu­fe glei­ten, Klin­gel­knöp­fe berüh­ren, Äpfel und Bir­nen, ein Päck­chen, ein Buch, ein Tele­fon, mei­ne Schreib­ma­schi­ne, auch plötz­lich, ich bemer­ke es zu spät, über mei­ne Stirn spa­zie­ren, über Nase und Mund, weil sie sich Jahr­zehn­te lang unge­straft in die­ser Wei­se bewe­gen durf­ten. Wie nur soll ich sie kon­trol­lie­ren? Ich dach­te an Glöck­chen, die an mei­nen Fin­gern befes­tigt, mich war­nen wür­den, sobald ich mei­ne Hän­de bewe­ge, damit ich sie nie­mals ver­ges­se, oder an elek­tri­sche Kon­takt­blätt­chen, die mich per Funk­si­gnal unver­züg­lich infor­mie­ren wür­den, sobald ich mich mit mei­nen Hän­den eben Mund, Nase Wan­gen, Stirn und Augen, zu nähern droh­te. Selt­sa­me Sache. — stop
ping

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im warenhaus

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nord­pol : 5.04 UTC — Denk­bar wie­der­um, dass irgend­wann ein­mal Waren­häu­ser exis­tie­ren wer­den für Ohren, Nasen, Augen, Läden also für Kop­fes Zube­hör. Auch Geschäf­te für Nie­ren, Kno­chen, Seh­nen, Haut und wei­te­re Mate­ria­li­en eines mensch­li­chen Kör­pers sind wahr­schein­lich gewor­den. Man wird, sofern man über aus­rei­chend finan­zi­el­le Mit­tel ver­fügt, wesent­li­che ana­to­mi­sche Sub­stan­zen der eige­nen Exis­tenz in zen­tra­len Maga­zi­nen voll aus­ge­wach­sen vor­rä­tig hal­ten, um in der Not ohne Ver­zö­ge­rung han­deln zu kön­nen. Fern­rei­sen­de füh­ren dann Behäl­ter mit sich, in wel­chen sich tief­ge­kühl­te Lun­gen und Her­zen befin­den. Ein ana­to­mi­scher Eis­schat­ten könn­te unse­re Lebens­zeit beglei­ten, solan­ge man noch nicht in der Lage ist, eine kom­plet­te, eine durch­blu­te­te, wil­len­lo­se Gestalt, eine Kopie der eige­nen Per­son in nächs­ter Nähe in Bereit­schaft zu hal­ten. Die­se Per­son könn­te über Rei­se­pa­pie­re ver­fü­gen, über per­sön­li­che  Klei­dung, über einen Schrank­kof­fer zum Schla­fen, über einen Stuhl zum Sit­zen, über etwas Per­so­nal, wel­ches das dop­pel­te Wesen füt­tern und baden und spa­zie­ren füh­ren wird im Gar­ten. Jedes fünf­te Jahr wür­de das Wesen erneu­ert wer­den. In den Papie­ren mei­nes Schat­tens könn­te fol­gen­de Signa­tur zu ent­de­cken sein: Lou­is / XD5878682-NOE06 24.11.18~24.11.2023. − stop
polaroidbus

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nachtkäfer

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lima : 2.28 UTC — Für einen Moment dach­te ich heu­te Nacht an eine Geschich­te, die ich vor lan­ger Zeit ein­mal erzähl­te. Das war gegen 2 Uhr gewe­sen. Ich beob­ach­te­te aus meh­re­ren Metern Ent­fer­nung wie ein Käfer, der einem Zep­pel­in­kä­fer ähn­lich war, sehr lang­sam durch mein Zim­mer schweb­te, um auf einer Tisch­lam­pe zu lan­den. Dort blieb er für eini­ge Minu­ten sit­zen. Sofort such­te ich nach jener Geschich­te, die von einem Zep­pel­in­kä­fer han­delt. Sobald ich sie gefun­den hat­te, segel­te der Käfer, der mich an mei­ne Notiz erin­nert hat­te, in die Dun­kel­heit davon, sodass ich ihn bei­na­he für die per­so­ni­fi­zier­te Erin­ne­rung die­ser einen Geschich­te hal­ten möch­te. Sie geht so: Ein selt­sa­mes Wesen schweb­te kurz nach 1 Uhr in der Nacht schnur­ge­ra­de eine unsicht­ba­re Linie über den höl­zer­nen Fuß­bo­den mei­nes Arbeits­zim­mers ent­lang, wur­de in der Mit­te des Zim­mers von einer Luft­strö­mung erfasst, etwas ange­ho­ben, dann wie­der zurück­ge­wor­fen, ohne aller­dings mit dem Boden in Berüh­rung zu kom­men. — Ein merk­wür­di­ger Auf­tritt. – Und die­ser groß­ar­ti­ge Bal­lon von opa­k­em Weiß! Ein Licht, das kaum noch merk­lich fla­cker­te, als ob eine offe­ne Flam­me in ihm bren­nen wür­de. Ich habe mich zunächst gefürch­tet, dann aber vor­sich­tig auf Knien genä­hert, um den Käfer von allen Sei­ten her auf das Genau­es­te zu betrach­ten. — Fol­gen­des ist nun zu sagen. Sobald man einen Zep­pel­in­kä­fer von unten her besich­tigt, wird man sofort erken­nen, dass es sich bei einem Wesen die­ser Gat­tung eigent­lich um eine fili­gra­ne, flü­gel­lo­se Käfer­ge­stalt han­delt, um eine zer­brech­li­che Per­sön­lich­keit gera­de­zu, nicht grö­ßer als ein Streich­holz­kopf, aber schlan­ker, mit acht recht lan­gen Ruder­bei­nen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebra­pfer­de. Fünf Augen in grau­blau­er Far­be, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erd­bo­den gerich­tet. Als ich bis auf eine Nasen­län­ge Ent­fer­nung an den Käfer her­an­ge­kom­men war, habe ich einen leich­ten Duft von Schwe­fel wahr­ge­nom­men, auch, dass der Käfer flüch­tet, sobald man ihn mit einem Fin­ger berüh­ren möch­te. Ein Wesen ohne Laut. – Das Radio erzählt, im Kel­ler eines ver­schüt­te­ten Hau­ses der Stadt Mariu­pol wür­de seit zwei Tagen ein Tran­sis­tor­ra­dio selt­sa­me Geräu­sche machen, pfei­fen, piep­sen, ver­mut­lich des­halb, weil der Strom zurück­ge­kom­men ist. — stop

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tonbandspule

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romeo : 16.01 UTC — Vor 11 Jah­ren hat­te ich von der Ent­de­ckung eines Muse­ums der Nacht­häu­ser erzählt, das sich am Shore Bou­le­vard nörd­lich der Hell Gates Bridge befin­det, die den Stadt­teil Queens über den East River hin­weg mit Ran­di­lis Island ver­bin­det. Es ist noch immer ein recht klei­nes Haus, rote Back­stei­ne, ein Schorn­stein, der an einen Fabrik­schlot erin­nert, ein Gar­ten, in dem ver­wit­ter­te Apfel­bäu­me ste­hen, der Fluss so nah, dass man ihn rie­chen kann. Heu­te liegt der Gar­ten tief ver­schneit. Ich ste­he unter einem der Apfel­bäu­me, die ohne Blät­ter sind. Die­ser Baum trägt sei­ne Som­mer­früch­te so, als ob er sie fest­hal­ten wür­de, sie sind etwas klei­ner gewor­den, vol­ler Fal­ten, aber sie leuch­ten rot und sie duf­ten. Der jun­ge Mann, der mich bereits ein­mal durch das Muse­um geführt hat­te, kommt in die­sem Moment auf mich zu. Er freut sich, dass ich wie­der­ge­kom­men bin. Eine Wei­le ste­hen wir uns gegen­über, es ist zum Erbar­men kalt, wir tre­ten von einem Bein aufs ande­re, wäh­rend der jun­ge Mann eine Ziga­ret­te raucht, dann ist es fast dun­kel und wir tre­ten wie­der in das Muse­um ein. Er will mir eine klei­ne Maschi­ne zei­gen, die im ers­ten Stock seit vie­len Jah­ren in einer wei­te­ren Vitri­ne sitzt. Auf den ers­ten Blick scheint es sich um eine ähn­li­che Appa­ra­tur zu han­deln, wie jene von der ich berich­te­te. Ein Gecko von Metall, der in der Lage ist, sich zum Zwe­cke pro­tes­tie­ren­der Kom­mu­ni­ka­ti­on Wän­de hin­auf an die Decke eines Zim­mers zu bege­ben, um sich dort fest­zu­sau­gen. Aber anstatt eines oder meh­re­rer Schlag­in­stru­men­te, mit wel­chen gegen die Decke getrom­melt wer­den könn­te, ver­fügt die­ses klei­ne Wesen über einen Laut­spre­cher, der wie ein Mund gestal­tet ist, und des­halb her­vor­ra­gend geeig­net zu sein scheint, hef­ti­ge Geräu­sche des Spre­chens zu erzeu­gen. Bei die­ser Appa­ra­tur, sagt der jun­ge Ange­stell­te, han­delt es sich um den ers­ten Decken­spre­cher der Geschich­te, ein äußerst sinn­vol­les Gerät. Er for­dert mich auf, näher zu tre­ten. Sehen Sie genau hin, sehen Sie, er ist ver­beult! Tat­säch­lich war der klei­ne eiser­ne Gecko von zahl­rei­chen Schlä­gen so ver­letzt, dass er viel­leicht kaum noch in der Lage gewe­sen war, sei­ner Auf­ga­be nach­zu­kom­men. Denk­bar ist, dass er in einer Nacht der Tag­men­schen der­art wir­kungs­voll gear­bei­tet haben könn­te, dass man ihn fan­gen woll­te, wes­halb man in die Woh­nung des Nacht­men­schen ein­ge­bro­chen war, um ihn zum Schwei­gen zu brin­gen. Als man das ram­po­nier­te Gerät vie­le Jah­re spä­ter öff­ne­te, ent­deck­te man eine Ton­band­spu­le, auf wel­cher Lite­ra­tur von Bedeu­tung fest­ge­hal­ten war. Ein Bruch­stück der his­to­ri­schen Auf­nah­me war noch vor­han­den gewe­sen, und jetzt, in die­ser Nacht, spielt mir der jun­ge Mann vor, was der Appa­rat gespro­chen hat­te. Eine äußerst lau­te schep­pern­de Stim­me ist zu ver­neh­men: Zuerst woll­te er mit dem unte­ren Teil sei­nes Kör­pers aus dem Bett hin­aus­kom­men, aber die­ser unte­re Teil, den er übri­gens noch nicht gese­hen hat­te und von dem er sich kei­ne rech­te Vor­stel­lung machen konn­te, erwies sich als zu schwer beweg­lich; es ging so lang­sam; und als er schließ­lich, fast wild gewor­den, mit gesam­mel­ter Kraft, ohne Rück­sicht sich vor­wärts stieß, hat­te er die Rich­tung falsch gewählt, schlug an dem unte­ren Bett­pfos­ten hef­tig an, und der bren­nen­de Schmerz, den er emp­fand, belehr­te ihn, dass gera­de der unte­re Teil augen­blick­lich viel­leicht der emp­find­lichs­te war. — Hier endet die Spu­le, ums sofort wie­der von vor­ne zu begin­nen. — Das Radio erzähl­te von einem Jun­gen, der in einem Luft­schutz­kel­ler im Licht der Tele­fon­lam­pen sei­nen Geburts­tag fei­er­te. Er trug eine rote Papp­na­se im Gesicht und einen wei­ßen Papier­hut, einen run­den, spitz zulau­fen­den Zylin­der auf dem Kopf. — stop

ping

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kabinenlicht

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romeo : 5.32 UTC — Wenn ich schla­fe, wache ich immer wie­der ein­mal auf, wäh­rend mei­ne Hän­de wei­ter­schla­fen. Das ist selt­sam, mei­ne Hän­de wachen zur Zeit ein wenig spä­ter auf als ich selbst. Ich tre­te ans Fens­ter. Manch­mal ist frü­her Mor­gen. Es ist noch dun­kel. Stra­ßen­bah­nen que­ren den Platz weit da unten. In ihrem Kabi­nen­licht sit­zen Men­schen, nun wie­der ohne Mas­ken vor Mund und Nase. Es sind die­sel­ben Per­so­nen, wie mir scheint, die ich ges­tern am Abend bereits durch mein Opern­glas beob­ach­tet habe. Sie wer­den ver­mut­lich für das Umher­fah­ren bezahlt. Zwei Tau­ben sit­zen tief unter mir auf einer Stra­ßen­la­ter­ne, sie schla­fen wie mei­ne Hän­de, die nun lang­sam wach wer­den, weil ich mit ihnen schrei­be. — Das Radio erzählt, in Mariu­pol wür­den Men­schen Schlüs­sel ihrer Woh­nun­gen wei­ter­rei­chen, ver­trau­te Schlüs­sel jener Woh­nun­gen, die nicht län­ger exis­tie­ren. — Guten Mor­gen! — stop

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ein streichholzkopf

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ulys­ses : 22.02 — Wann war es gewe­sen, dass ich zum ers­ten Mal bemerk­te, wie mei­ne Brie­fe klei­ner und klei­ner wur­den? Wesen von wirk­li­chem Papier, Bögen in Umschlä­gen mit einem Post­wert­zei­chen, das zuletzt die Anschrif­ten­sei­te mei­nes Schrei­bens voll­stän­dig bedeck­te. Im Post­amt wer­de ich seit­her ernst genom­men. Vor eini­gen Wochen kauf­te ich sinn­vol­ler Wei­se ein hand­li­ches Mikro­skop und einen Satz Blei­stif­te von äußers­ter Här­te. Ich spitz­te das Schreib­werk­zeug eine Vier­tel­stun­de lang, dann leg­te ich einen Bogen Papier in das Licht einer Lin­se mitt­le­rer Stär­ke. Ich näher­te mich mit beben­den Fin­gern. Man soll­te mich in die­sem Moment gese­hen haben. Bei jedem Wort, das ich auf das klei­ne Blatt notier­te, hielt ich die Luft an. Tat­säch­lich habe ich in mei­nen Leben noch nie zuvor in einer der­art sorg­fäl­ti­gen Wei­se geschrie­ben. Ich brauch­te drei Stun­den Zeit, um das Papier, das nicht grö­ßer gewe­sen war als eine Brief­mar­ke von 1.5 cm Kan­ten­län­ge, voll­stän­dig zu beschrif­ten. Ich schrieb fol­gen­de Zei­len an einen Freund: Lie­ber Sta­nis­law, Du wirst es nicht glau­ben, nach 1 Uhr heu­te Nacht schweb­te ein Zep­pel­in­kä­fer einer nicht sicht­ba­ren, schnur­ge­ra­den Linie über den höl­zer­nen Fuß­bo­den mei­nes Arbeits­zim­mers ent­lang, wur­de in der Mit­te des Zim­mers von einer Luft­strö­mung erfasst, etwas ange­ho­ben, dann wie­der zurück­ge­wor­fen, ohne aller­dings mit dem Boden in Berüh­rung zu kom­men. – Ein merk­wür­di­ger Auf­tritt. – Und die­ser groß­ar­ti­ge Bal­lon von opa­k­em Weiß! Ein Licht, das kaum noch merk­lich fla­cker­te, als ob eine offe­ne Flam­me in ihm bren­nen wür­de. Ich habe mich zunächst gefürch­tet, dann aber vor­sich­tig auf Knien genä­hert, um den Käfer von allen Sei­ten her auf das Genau­es­te zu betrach­ten. – Fol­gen­des ist nun zu sagen. Sobald man einen Zep­pel­in­kä­fer von unten her besich­tigt, wird man sofort erken­nen, dass es sich bei einem Wesen die­ser Gat­tung eigent­lich um eine fili­gra­ne, flü­gel­lo­se Käfer­ge­stalt han­delt, um eine zer­brech­li­che Per­sön­lich­keit gera­de­zu, nicht grö­ßer als ein Streich­holz­kopf, aber schlan­ker, mit sechs recht lan­gen Ruder­bei­nen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebra­pfer­de. Fünf Augen in grau­blau­er Far­be, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erd­bo­den gerich­tet. Als ich bis auf eine Nasen­län­ge Ent­fer­nung an den Käfer her­an­ge­kom­men war, habe ich einen leich­ten Duft von Schwe­fel wahr­ge­nom­men, auch, dass der Käfer flüch­tet, sobald man ihn mit einem Fin­ger berüh­ren möch­te. Ein Wesen ohne Laut. Dein Lou­is, herz­lichst. — Es war eine wirk­lich har­te Arbeit, all die­se Zei­chen zu notie­ren. Dann fal­te­te ich das Blatt Papier ein­mal kreuz und quer. Ich arbei­te mit zwei Pin­zet­ten wie­der­um unter star­kem Licht, steck­te den Brief in ein Cou­vert, des­sen Her­stel­lung noch mühe­vol­ler gewe­sen war als das Schrei­ben des Brie­fes selbst, und mach­te mich auf den Weg in das nächs­te Post­amt. Dort wur­de ich unver­züg­lich an den Schal­ter für beson­de­re Brief­for­ma­te wei­ter­ge­lei­tet, wo mein Brief, den ich mit einer Pin­zet­te auf den Tre­sen beför­dert hat­te, von einer wei­te­ren Pin­zet­te ent­ge­gen­ge­nom­men wur­de. Ich war sehr glück­lich. Ich beob­ach­te­te, wie der Beam­te eine Brief­mar­ke von der Grö­ße eines Reis­korns behut­sam auf mei­nen Brief leg­te und mit­tels eines Stem­pels, der vor mei­nen blo­ßen Augen kaum noch sicht­bar gewe­sen war, ent­wer­te­te. Dann ging mein Brief auf Rei­sen. Er flog sehr weit durch die Luft, und ich habe ihn für kur­ze Zeit ver­ges­sen. Nun aber, vor weni­gen Stun­den, wur­de mir von einem Son­der­bo­ten der Post ein Brief von der­art leich­ter Gestalt über­ge­ben, dass ich zunächst die Anwei­sung erhielt, alle Fens­ter mei­ner Woh­nung zu schlie­ßen. Die­ser Brief, eine Depe­sche mei­nes Freun­des, ruht vor mir auf dem Tisch. Es ist ein sehr klei­nes Kunst­werk. Auf sei­ner Brief­mar­ke sol­len sich zwei Para­dies­vö­gel befin­den, die ihre Schnä­bel kreu­zen. Ich wer­de das gleich über­prü­fen. — Das Radio erzählt, dem ers­ten Offi­zier einer “Soma­liein­heit” soll in der Stadt Mariu­pol ein Orden über­ge­ben wor­den sein, der nun mit­tels einer Span­gen­na­del für alle Zeit an der Brust des Man­nes mitt­le­ren Alters befes­tigt sei. — stop

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dorsey

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echo : 18.22 UTC — Ein düs­te­res Haus, eine düs­te­re Trep­pe. Ich klin­gel­te vor Jah­ren ein­mal an einer Tür. Ein Mann, der nicht ganz jung gewe­sen war, öff­ne­te. Kräf­ti­ger, bit­te­rer Geruch ström­te aus der Woh­nung. Die Luft war warm, war feucht und dicht, mei­ne Bewe­gun­gen, wie ich durch den Flur der Woh­nung ging, mühe­voll, als wür­de ich unter Was­ser lau­fen. Ich trat in ein Zim­mer, ein Tisch, ein Sofa, zwei Stüh­le, kei­ne Vor­hän­ge vor den Fens­tern, hin­ter den Schei­ben Kas­ta­ni­en­bäu­me, die blüh­ten. An den Wän­den des Zim­mers kleb­te eine Tape­te mit Kirsch­mo­ti­ven. Sie war an der ein oder ande­ren Stel­le von der Wand gefal­len. Auf höl­zer­nen Stan­gen, dicht unter der Decke, hock­ten hun­der­te Vögel ohne Federn. Ihre Haut war von hel­lem Braun, ihre Schnä­bel zitro­nen­gelb. Der Mann, der mich in das Zim­mer geführt hat­te, nahm einen der Vögel in sei­ne Hän­de. Der Vogel lag auf dem Rücken ganz still. Er hat­te sei­ne Augen geschlos­sen, fei­ne hell­blaue Häut­chen wie Schir­me. Ich soll­te an dem Vogel rie­chen, und so nahm ich ihn in die Hand. Der Leib des Vogels war warm. Er zit­ter­te als ich mich mit mei­ner Nase näher­te, als wür­de er frie­ren. Der Mann, der mich an das Zim­mer der Vögel geführt hat­te, sag­te, dass sie noch nicht ganz reif sei­en. Der Vogel duf­te­te nach gebrann­ten Man­deln. In einer Ecke des Zim­mers auf dem Boden ein Schall­plat­ten­spie­ler, ein uraltes Gerät, das Tom­my Dor­sey spiel­te: I’m Get­ting Sen­ti­men­tal Over You. — Das Radio erzählt, Ende März sei in Mariu­pol ein His­to­ri­ker, der zu sei­ner gelieb­ten Stadt ein Leben lang notiert hat­te, in hohem Alter gestor­ben. Kurz zuvor ende­te das Leben sei­ner Frau. Die Todes­ur­sa­che bei­der Men­schen, so das Radio, sei noch unklar. — stop

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von papieren

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char­lie : 16.58 UTC — Wie­der die Fra­ge, ob es viel­leicht mög­lich ist, Papie­re zu erfin­den, die ess­bar sind, nahr­haft und gut ver­dau­lich? Man könn­te sich in einen Park set­zen bei­spiels­wei­se und etwas Chat­win beob­ach­ten oder Lowry oder Cal­vi­no, Bücher, die Sei­te für Sei­te nach bel­gi­schen Waf­feln schmeck­ten, nach Bir­nen, Gin, Petro­le­um oder sehr fei­nen Höl­zern. Einen spe­zi­el­len Duft schon in der Nase, wird die ers­te Sei­te eines Buches gele­sen, und dann blät­tert man die Sei­te um und liest wei­ter bis zur let­zen Zei­le, und dann isst man die Sei­te auf, ohne zu zögern. Oder man könn­te zunächst das ers­te Kapi­tel eines Buches durch­kreu­zen, und wäh­rend man kurz noch die Geschich­te die­ser Abtei­lung reka­pi­tu­liert, wür­de man Stür­me, Per­so­nen, Orte und alle Anzei­chen eines Ver­bre­chens ver­spei­sen, dann bereits das nächs­te Kapi­tel eröff­nen, wäh­rend man noch auf dem Ers­ten kaut. Man könn­te also, eine Biblio­thek auf dem Rücken, für ein paar Wochen eisi­ge Wüs­ten durch­strei­fen oder ein paar sehr hohe Ber­ge bestei­gen und abends unterm Gas­licht in den Zel­ten lie­gen und lesen und kau­en und wür­de von Nacht zu Nacht leich­ter und leich­ter wer­den. – Das Radio erzählt, ein klei­ner Jun­ge habe sein Kin­der­zim­mer in einem U‑Bahnwagon unter der Stadt Char­kiw ein­ge­rich­tet. — stop

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schallbecher

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india : 22.07 UTC — Vor weni­gen Tagen ist im hohen Alter ein Dok­tor gestor­ben, der mein Dok­tor gewe­sen war, als ich noch in kur­zen Hosen im Som­mer her­um­spa­zier­te. Mein Knie, eine Wun­de, war längt ver­sorgt, da hat­te ich noch den Duft des Jods in der Nase. Der Dok­tor kam manch­mal zu mir nach Hau­se, wenn ich Fie­ber hat­te. Er führ­te eine Leder­ta­sche mit sich, in der sei­ne Instru­men­te klim­per­ten. Ich erin­ne­re mich an die Küh­le eines Schall­be­chers, wenn er nach Geräu­schen in mir such­te. Sein Kopf war in die­sen Momen­ten des Lau­schens nah, kaum noch Haar, sehr fein und grau. Sei­ne sanf­te Stim­me. Lei­se. Ein­mal war er als Pri­vat­mann zu Besuch gekom­men. Anstatt eines Blu­men­strau­ßes für Mut­ter, führ­te er eine Glühspar­lam­pe mit sich, die er in der Art und Wei­se über­reich­te, als wäre sie tat­säch­lich eine fri­sche Blu­me, ein blü­hen­der Zier­lauch, sagen wir, oder eine Kugel­dis­tel. — stop
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krim : lichtbild no 3

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romeo : 8.52 UTC — Asso­cia­ted Press ver­öf­fent­lichte vor weni­gen Jah­ren eine bemer­kens­wer­te Foto­gra­fie. Men­schen sind zu sehen, die an der Kas­se eines Ladens dar­auf war­ten, bedient zu wer­den, oder Waren, die sie in Plas­tik­beu­teln mit sich füh­ren, bezah­len zu dür­fen. Es han­delt sich bei die­sem Laden offen­sicht­lich um ein Lebens­mit­tel­ge­schäft, das von künst­li­chem Licht hell aus­ge­leuch­tet wird. Im Hin­ter­grund, rech­ter Hand, sind Rega­le zu erken­nen, in wel­chen sich Sekt– und Wein­fla­schen anein­an­der­rei­hen, gleich dar­un­ter eine Tief­kühl­truhe in der sich Spei­se­eis befin­den könn­te, und lin­ker Hand, an der Wand hin­ter der Kas­se, wei­tere Rega­le, Zeit­schrif­ten, Spi­ri­tuo­sen, Scho­ko­lade, Bon­bon­tü­ten. Es ist alles sehr schön bunt, der Laden könn­te sich, wenn man bereit ist, das ein oder ande­re erkenn­bare kyril­li­sche Schrift­zei­chen zu über­se­hen, in einem Vor­ort der Stadt Paris befin­den oder irgend­wo in einem klei­nen Städt­chen im Nor­den Schwe­dens, nahe der Stadt Rom oder im Zen­trum Lis­sa­bons. Es ist Abend ver­mut­lich oder Nacht, eine küh­le Nacht, weil die Frau, die vor der Kas­se war­tet, einen Ano­rak trägt von hell­blauer Far­be und fei­ne dunk­le Hosen, ihre Schu­he sind nicht zu erken­nen, aber die Schu­he der Män­ner, es sind vier Per­so­nen ver­mut­lich mitt­le­ren Alters. Sie tra­gen schwar­ze, geschmei­dig wir­kende Mili­tär­stie­fel, aus­ser­dem Uni­for­men von dun­kel­grü­ner Far­be, run­de Schutz­helme, über wel­chen sich eben­so dun­kel­grüne Tarn­stoffe span­nen, wei­ter­hin Wes­ten mit aller­lei Kampf­werk­zeu­gen, der ein oder ande­re der Män­ner je eine Sturm­wind­brille, Knie­schüt­zer, Hand­schuhe. Die Gesich­ter der Män­ner sind der­art ver­mummt, dass nur ihre Augen wahr­zu­neh­men sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wan­gen, nicht ihre Mün­der. Sie tra­gen kei­ne Hoheits­zei­chen, aber sie wir­ken kampf­be­reit. Einer der Män­ner schaut miss­trau­isch zur Kame­ra hin, die ihn ins Visier genom­men hat, ein Blick kurz vor Gewalt­tä­tig­keit. Jeder Blick hin­ter eine Mas­ke her­vor ist ein selt­sa­mer Blick. Einer ande­rer der Män­ner hält sei­nen Geld­beu­tel geöff­net. Die Män­ner wir­ken alle so, als hät­ten sie sich gera­de von einem Kriegs­ge­sche­hen ent­fernt oder nur eine Pau­se ein­ge­legt, ehe es wei­ter gehen kann jen­seits die­ses Bil­des, das Erstau­nen oder küh­le Furcht aus­zu­lö­sen ver­mag. Ich stel­le mir vor, ihre Sturm­ge­wehre lehn­ten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich her­aus­tre­ten an die fri­sche Luft, wenn wir den Blick zum Him­mel heben, wür­den wir die Ster­ne über Sim­fe­ro­pol erken­nen, oder über Yal­ta, Luhansk, Mariu­pol. — stop / kof­fer­test : updated — ich habe die­se auf­nah­me mit eige­nen augen gesehen.
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