Aus der Wörtersammlung: eiche

///

louis

9

echo : 20.92 UTC — Seit eini­gen Tagen wohnt eine Flie­ge in mei­nen Zim­mern mit mir unter dem Dach. Ich kann nicht mit Bestimmt­heit sagen, dass jene Flie­ge, die ich zuletzt beob­ach­tet habe, als ich kurz vor dem Schlaf noch ein­mal in die Küche trat, die­sel­be Flie­ge war, die mich mor­gens schon im Flur mit einem Flug­ma­nö­ver begrüß­te. Da ich mei­ne Fens­ter wäh­rend der Nacht geöff­net hat­te, könn­te die Abend­flie­ge mei­ne Woh­nung ver­las­sen haben, indes­sen die Mor­gen­flie­ge irgend­wann in der Nacht her­ein­ge­kom­men war, um zu blei­ben. Ich stel­le fest: Ich ver­mag, nach Beob­ach­tung ihrer Gestalt, eine Flie­ge von einer ande­ren Flie­ge nicht zu unter­schei­den; sie sind groß oder klein und schil­lern und haben eine Flü­gel­stim­me, die mir je ver­traut zu sein scheint. Nun ist jedoch Fol­gen­des zu erzäh­len. Die­se, eine Flie­ge, die ver­mut­lich bereits seit Tagen bei mir wohnt, ver­hält sich, wie noch nie eine Flie­ge zuvor in mei­ner Woh­nung sich ver­hal­ten hat­te. Sie folgt mir näm­lich tag­ein, tag­aus. Sobald ich mich von einem Stuhl erhe­be, beglei­tet mich die Flie­ge in den Flur und wei­ter in mein Arbeits­zim­mer und wie­der zurück. Sie fliegt, weil sie mir im Gehen auf dem Fuß­bo­den, an einer Wand oder einer Decke, nicht fol­gen könn­te, an mei­ner Sei­te, und zwar in der Höhe mei­nes Kop­fes. Ich habe die­se Beob­ach­tung mehr­fach über­prüft, indem ich mei­ne Auf­merk­sam­keit auf die­se eine Flie­ge lenk­te, bevor ich eine Wan­de­rung durch die Woh­nung begann. Die Flie­ge scheint auf mich zu war­ten, dass ich etwas unter­neh­men möge. Ich habe ihr einen Namen gege­ben: Die Flie­ge heißt Lou­is. Lou­is wünscht, so mein Ein­druck, für den Rest sei­nes Lebens bei mir zu blei­ben. — stop

///

inari 5 im Wald

pic

oli­mam­bo : 16.28 — Eigen­ar­tig wie­der­um, das Ver­hal­ten der Papie­re, das Ver­hal­ten mei­ner Hän­de, mei­ner Blei­stif­te. Seit ich wie­der stun­den­wei­se mit ein­fachs­ten Werk­zeu­gen notie­re, mit Werk­zeu­gen, die ohne Elek­tri­zi­tät funk­tio­nie­ren, der Ver­dacht, dass von eigen­sin­ni­ger Natur ist, was ich auf klei­ne­re oder grö­ße­re Zet­tel schrei­be. Mei­ne Wör­ter wol­len sich nicht auf Lini­en legen, sie wol­len flie­gen, wes­halb sie über den Zei­len auf­wärts stei­gen. An einem ande­ren Tag, wie­der einem Tag ohn­mäch­ti­ger Hori­zon­te, sin­ken sie, ohne dass ich prä­zi­se sagen könn­te, war­um es an dem einen Tag auf­wärts und an dem ande­ren Tag abwärts­ge­hen will, immer­hin war jeweils nur ein wenig Schlaf zwi­schen da und dort zu ver­zeich­nen gewe­sen. Auch mit den Buch­sta­ben habe ich Mühe, mal bricht die Blei­stift­spit­ze, dann wie­der ist ein Zei­chen gemalt, das man doch eher für ein ganz ande­res hal­ten möch­te. Die Buch­sta­ben Z und G sind beson­ders wider­spens­ti­ge Gestal­ten, und das S und das A machen schon immer, was sie wol­len. Dage­gen sind das I und das M an jedem mei­ner Arbeits­ta­ge zuver­läs­si­ge Erschei­nun­gen, Wel­le und Giraf­fen­hals, schlicht und weich. Ich neh­me das noch immer, gera­de wie es kommt, in aller Ruhe. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ina­ri 5
Taunus
Flugübungen
zur Zeit der
Abenddämmerung

///

ai : JORDANIEN

aihead2

MENSCH IN GEFAHR :“Dem syri­schen Flücht­ling Ati­ya Moham­mad Abu Salem droht unmit­tel­bar die Abschie­bung aus Jor­da­ni­en. Er lebt seit zwölf Jah­ren in Jor­da­ni­en und ist Jour­na­lis­mus­stu­dent und frei­be­ruf­li­cher Videofilmer./ Am 9. April wur­de Ati­ya Moham­mad Abu Salem in al-Rabieh in Amman von Sicher­heits­kräf­ten fest­ge­nom­men, als er eine pro­pa­läs­ti­nen­si­sche Pro­test­kund­ge­bung in der Nähe der israe­li­schen Bot­schaft fil­men woll­te. Die Sicher­heits­kräf­te infor­mier­ten ihn nicht über die Grün­de für sei­ne Fest­nah­me und ver­hör­ten ihn ohne einen Rechts­bei­stand. Nach Anga­ben sei­nes Rechts­bei­stands droh­ten die Sicher­heits­kräf­te Ati­ya Moham­mad Abu Salem mit Abschie­bung und zwan­gen ihn, sein Tele­fon zur Über­prü­fung zu ent­sper­ren. Er wur­de weder der Jus­tiz über­ge­ben noch wegen einer Straf­tat ange­klagt. Den­noch erhielt sein Rechts­bei­stand die Infor­ma­ti­on, dass ein Abschie­bungs­be­fehl für sei­nen Man­dan­ten aus­ge­stellt wor­den sei. / Eine Rechts­hil­fe­or­ga­ni­sa­ti­on hat im Namen des Flücht­lings vor dem Ver­wal­tungs­ge­richt Rechts­mit­tel ein­ge­legt. In Syri­en wäre Ati­ya Moham­mad Abu Salem nicht sicher. Amnes­ty Inter­na­tio­nal und ande­re Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen haben über die Jah­re hin­weg durch­ge­hend schwe­re Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen gegen Flücht­lin­ge doku­men­tiert, die rechts­wid­rig nach Syri­en abge­scho­ben wur­den. So sind die syri­schen Sicher­heits­kräf­te u. a. für will­kür­li­che Fest­nah­men, Fol­te­run­gen und Ver­schwin­den­las­sen ver­ant­wort­lich. Gemäß den Bestim­mun­gen des Völ­ker­rechts müs­sen die jor­da­ni­schen Behör­den den Abschie­bungs­be­fehl gegen Ati­ya Moham­mad Abu Salem unver­züg­lich auf­he­ben und ihn frei­las­sen, sofern er nicht umge­hend einer inter­na­tio­nal aner­kann­ten Straf­tat ange­klagt wird. Soll­te er ange­klagt wer­den, so muss dies vor einem ordent­li­chen Gericht und unter Ein­hal­tung sei­ner Ver­fah­rens­rech­te gesche­hen” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen unter > ai : urgent action

 

///

lockerbie

9

echo : 22.57 UTC — Eine Frau erzähl­te auf dem Bild­schirm mei­nes Fern­seh­ge­rä­tes, ihr Mann sei über Schott­land in gro­ßer Höhe von einer Bom­be getö­tet wor­den. Sie habe den Kof­fer ihres Man­nes erhal­ten, in dem sich sei­ne sau­be­re Klei­dung befand. Er sei nie mit sau­be­rer Klei­dung von einer Geschäfts­rei­se zurück­ge­kehrt. Sei­ne Klei­dung, erfuhr sie, wur­de von Frau­en der klei­nen Städt­chen nahe Locker­bie gewa­schen und gefal­tet und gebü­gelt. Eine die­ser fal­ten­den Frau­en erzähl­te wie­der­um, ihre Arbeit sei bis­wei­len merk­wür­dig gewe­sen. Sie sei­en 20 bis 30 Leu­te gewe­sen. Das rühr­te ans Herz. Vie­le in die Tie­fe gestürz­te Ted­dy­bä­ren. Da war das rote Kleid eines 2‑dreijährigen Kin­des. Manch­mal sei sie nach Hau­se gekom­men und habe geweint. — stop

///

von papieren

9

marim­ba : 22.12 UTC — Immer wie­der und immer noch die Fra­ge, ob es viel­leicht mög­lich ist, Papie­re zu erfin­den, die ess­bar sind, nahr­haft und gut ver­dau­lich? Man könn­te sich in einen Park set­zen, bei­spiels­wei­se und etwas Chat­win beob­ach­ten oder Lowry oder Cal­vi­no, Bücher, die Sei­te für Sei­te nach bel­gi­schen Waf­feln schmeck­ten, nach Bir­nen, Gin, Petro­le­um oder sehr fei­nen Höl­zern. Einen spe­zi­el­len Duft schon in der Nase, wird die ers­te Sei­te eines Buches gele­sen, und dann blät­tert man die Sei­te um und liest wei­ter bis zur letz­ten Zei­le, und dann isst man die Sei­te auf, ohne zu zögern. Oder man könn­te zunächst das ers­te Kapi­tel eines Buches durch­kreu­zen, und wäh­rend man kurz noch die Geschich­te die­ser Abtei­lung reka­pi­tu­liert, wür­de man Stür­me, Per­so­nen, Orte und alle Anzei­chen eines Ver­bre­chens ver­spei­sen, dann bereits das nächs­te Kapi­tel eröff­nen, wäh­rend man noch auf dem Ers­ten kaut. Man könn­te also, eine Biblio­thek auf dem Rücken, für ein paar Wochen eisi­ge Wüs­ten durch­strei­fen oder ein paar sehr hohe Ber­ge bestei­gen und abends unter dem Gas­licht in den Zel­ten lie­gen und lesen und kau­en und wür­de von Nacht zu Nacht leich­ter und leich­ter wer­den. — stop

///

bei harrods

picping

MELDUNG. Auto­mo­bi­le, fol­gen­de, wur­den nach einem Kauf­haus­be­such zu Lon­don in Mar­tha B., 90, vor­ge­fun­den. Magen ‑1 Stu­de­bak­er Com­man­der Sta­te [ 1967 ] , Dünn­darm — 1 Stuy­ve­sant Four [ 1911 ], Dick­darm — 2 Mer­cu­ry Hp 7 [ 1911 ]. Ein gedul­di­ger Rich­ter hat­te die Durch­su­chung des hoch­be­tag­ten Bau­ches einer­seits, sowie unmit­tel­ba­re Rück­füh­rung der Fahr­zeu­ge in das Waren­haus Har­rods an der Bromp­ton Road ande­rer­seits, drin­gend emp­foh­len. — stop

///

mariupol / 6.

9

vic­to­ry : 22.01 UTC — In einem Zim­mer eines Hau­ses in Mariu­pol im sechs­ten Stock lag eine Foto­gra­fie auf dem Boden. Kin­der sit­zen dort im Bild auf Stüh­len. Ihr ers­ter Schul­tag. Die Foto­gra­fie war ver­staubt und außer­dem ver­letzt von einem Gra­nat­split­ter, der das Bild durch­schla­gen hat­te. Der Kopf eines Mäd­chens war in die­ser Wei­se ver­schwun­den. Das Mäd­chen hat­te einen him­mel­blau­en Rock getra­gen, eine koral­len­far­be­ne Blu­se mit wei­ßen Blü­ten einer Rose, schwar­ze glän­zen­de Schu­he mit gol­de­nen Span­gen und eine Ket­te bun­ter Stei­ne um den Hals. Über das Gesicht des Mäd­chens kann ich natür­lich nichts erzäh­len. Auch nicht über ihr Haar. Ich müss­te, um über das Gesicht des Mäd­chens erzäh­len zu kön­nen, die Kin­der des Bil­des fin­den und befra­gen. Viel­leicht haben sie alle über­lebt, das ist viel­leicht mög­lich. Oder eines oder zwei der Kin­der. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Loko­mo­ti­ve
des Jah­res 1968
auf meinem
Küchentisch
im Win­ter um
kurz nach
Mitternacht

///

3 Uhr 12 nachts

9

india : 3.12 UTC — Das Wort Ver­gess­lich­sein scheint nicht wirk­lich zu exis­tie­ren. Bis zu die­sem Augen­blick jetzt, da ich das Wort Ver­gess­lich­sein, mein Ver­gess­lich­sein, in die digi­ta­le Sphä­re schrei­be. Ich wer­de bald bemer­ken, dass ich irr­te. — stop

///

ein junge

9

lima : 2.33 UTC — Das Radio erzählt von einem klei­nen Jun­gen, der in einem Kran­ken­haus in Ägyp­ten Zuflucht fand. Der Jun­gen ver­lor im Gaza­krieg vor weni­gen Wochen bei­de Bei­ne. Die Bei­ne des Jun­gen wur­den von Split­tern einer Bom­be abge­ris­sen. Sein Onkel, der ihn beglei­te­te, schenk­te ihm eine Pup­pe. Die­se Pup­pe, so der Onkel, sei eine beson­de­re Art von Pup­pe, man kön­ne ihre Bei­ne von den Knien abwärts abneh­men und wie­der anset­zen. Der Jun­ge will die Pup­pe nicht haben. Der Jun­ge sagt, er wün­sche sich, dass sei­ne Bei­ne bald wie­der nach­wach­sen. — stop



ping

ping