himalaya : 20.18 UTC — Und wenn doch Mobiltelefone mittels Nachrichten von fern her entzündet werden könnten? — Ich sitze neben irgendeinem Mann in irgendeinem Zug. Es ist Abend. Der Mann blickt auf den Bildschirm seines Mobiltelefons. Sein Daumen fördert Bilder von unten nach oben hin in rasender Geschwindigkeit. Ich betrachte seinen Kopf. Und plötzlich denke ich: Was denkt dieser Kopf? Kann dieser Kopf so schnell denken, wie sich die Bilder unter der Bewegung seines Daumens bewegen. Vielleicht kennt dieser Mann all jene Bilder, dieser fördert bereits. Vielleicht will er vertiefen, was er denkt. Immer wieder der Eindruck, ein kleiner Vogel, der pfeift von Zeit zu Zeit, liege rücklings in seiner Hand. Sofort wird aus der Bewegung eines Daumens, zärtliche Bewegung. — stop
Aus der Wörtersammlung: sehen
vom schneetelefon
bamako : 20.12 UTC — Schneeblind geworden. Schneeblinde 24 Jahre alte Oksana, uralt und blind von Eis, vom Licht der Sonne, vom Sehen selbst bewirkt. Ein Mobiltelefon, Сніговий телефон, das die junge Frau in Händeln hält. Dort Schneeflimmerlicht. Sie fuhr eine halbe Stundenzeit mit ihrem Telefon in der Strassenbahn, ein halbe Stunde lang ist sie halbträumend unterwegs gewesen, irgendwohin, starrte auf den Bildschirm in ihrer Hand, suchte Filme, die von Toten im Osten erzählen, erschossen, von Splittern getroffen, Erfrorene. Jetzt sitzt sie auf der Bank einer Haltestelle, es geht nicht weiter, es ist Januar, Schnee fällt leise auf und abwärts. Die junge Frau lächelt, wärmt Hände und Augen an der Stille. — stop
stehschläfer : sars cov 2
ulysses : 12.58 UTC ‑Sanfte Frauenstimme spricht: Achtung! Halten Sie 1 Meter 50 Abstand. Meiden Sie Menschenansammlungen! In der Halle indessen kein Mensch zu sehen, kein Koffer, kein Hund, keine Katze, aber Mäuse, ein gutes Dutzend Mäuse, die über den spiegelnden Marmorboden flitzten, als wären da Schlittschuhe an ihren Füßen. Ich war die einzige menschliche Person an einem Ort, der vermutlich nie ohne Menschen gewesen ist. Ich erinnere mich, selbst inmitten der Nacht habe ich im Terminal des Flughafens immerzu flüsternde Menschen wahrgenommen, auch Schlafende auf Sitzbänken oder Stühlen der Cafés. Nun Stille, kein Traum erzählt. Selten einmal das Geräusch sich bewegender Zeichen auf einer Anzeigetafel. Aus Neuseeland kommend sollte Minuten später ein Flugzeug landen, ein Hinweis wie ein letzter Reflex. Jene über den spiegelnden Boden dahin gleitenden Mäuse jedoch, unbeirrt, ob sie sich wunderten über diese eine wartende Person im Saal, die ich selbst gewesen war in einem Moment des Notierens auf meiner flachen Schreibmaschine? Wie ich sie vermisste, Stehschläfer, meine Stehschläfer, welche nicht Vögel sind, Flamingos, sagen wir, nein, Stehschläfer, die Menschen sind, gegenwärtige Personen, die sich, sollten sie einmal zurückkehren, genau so verhalten werden, wie das Wort, das sie bezeichnet: Sie schlafen im Stehen. — stop
Paris
im Sommer
kurz nach
Sars-Cov‑2
von vögeln
sierra : 22.08 UTC — Kleine oder handliche fliegende Fotoapparate sind zunächst zu kleinen fliegenden Filmkameras geworden. Man kann sie mit Hilfe eines Mobiltelefons und zweier Daumen steuern. Diese fliegenden, filmenden aufmerksamen Augen scheinen Objekte der Vogelwelt geworden zu sein. Man könnte nun weiteren durchbluteten Vögeln in der Luft begegnen. Man könnte ihnen folgen. Man könnte gleichwohl Menschen besuchen, die in höheren Etagen städtischer Wohnhäuser leben. Man könnte Menschen betrachten aus dem Dunkel heraus, ohne vielleicht selbst gesehen zur werden. Man kann, das ist beobachtet, nun seit bald zwei Jahren Sprengstoffe laden und aus größerer Höhe zur Erde hin stürzen. Beobachtende Vögel sind zu Raubvögeln geworden, sie rauben Bilder und töten. Die Vorstellung heute, spazierend im Palmengarten, die Vorstellung sehr kleiner zierlicher Drohnen, die herumfliegen, um da und dort in den Städten und in den Wäldern, Proben zu nehmen von Kot, aus Abfallstoffen der Müllhalden, Gewässern, auch unmittelbar aus den Blutkreisläufen lebender Organismen, von Kühen und von Menschen, denkbare Welten. — stop
geräusche des krieges
sierra : 2.38 UTC — Immer wieder einmal begegne ich im Nachtzug einem Mann, der singt. Der Mann singt sehr leise, kaum jemand scheint sich von seinem Singen gestört zu fühlen. Während er singt, sind seine Augen weit geöffnet, er blickt ins Leere, sein Mund ist geschlossen, Töne, die wir vernehmen, kommen aus seinem Hals heraus, der bebt, wenn er singt. Nur selten habe ich mit dem Mann gesprochen, man kennt sich, man fährt in der Nacht im selben Zug in der selben Richtung, es ist mühsam mit ihm zu sprechen, weil er stottert. Ich darf ihn nicht ansehen, wenn ich ihn nicht ansehe, kommen manchmal ganze Sätze aus seinem Mund. Ich weiß jetzt, dass der Mann in der persischen Stadt Isfahan geboren wurde, Architektur studierte, gegen irakische Männer kämpfte, die jung waren wir er selbst, und dass er nur durch einen Zufall überlebte. Er konnte fliehen. Er floh zu Fuß in die Türkei, eine lebensgefährliche Reise, Sahin, seine Frau, wurde von irgendjemandem angeschossen, er trug sie kilometerweit durchs Gebirge, nahe der Grenze begegneten sie einem Esel, dem ein Bein fehlte. Sie schliefen unter einem Baum ohne Blätter, in der Nacht schleppten sie sich weiter, der Mond war heiß wie die Sonne und auf den Wegen hockten Schildkröten mit blau schimmernden Augen. Manchmal kommen die Geräusche vom Krieg, sie kommen wann sie wollen, dann singt der Mann. – stop
zerzaust
zoulou : 12.28 UTC — L. erzähle vor langer Zeit, sie habe einmal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zeitungen. Trotzdem sei diese Frau, deren Namen sie nicht in Erinnerung habe, Wörtern sehr eng verbunden gewesen, da sie pausenlos Wörter notierte. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafes, U‑Bahnen, auf Bänken sitzend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie verlassen haben soll. Sie schrieb an einem einzigen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer weiteren Variante mit sich führte, im Grunde an einem Buch einerseits, das sie bereits aufgeschrieben hatte, und einem Buch andererseits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrieben worden war, wiederholte, aber natürlich nicht, ohne das Buch im Prozess des Abschreibens zu ergänzen. Jede Ergänzung wurde sorgfältig überlegt, manchmal wurden Wörter ersetzt, ganze Sätze oder ein Gedanke hinzugefügt, sehr selten eine Passage gestrichen. In dieser Weise veränderte sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wurde langsam schwerer. Immer dann, wenn ein Buch abgeschrieben worden war, verschwand das abgeschriebene Buch. Und wiederum begann die Frau eine weitere Kopie anzufertigen, die sich im Prozess der Verdopplung scheinbar nur unwesentlich von ihrem Original unterscheiden würde. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spazieren und war stets sorgfältig gekleidet. Sie soll schon ein bisschen wild ausgesehen haben, irgendwie zersaust, aber glücklich, sagen wir, zerzaust und immer beschäftigt und irgendwie fröhlich. Sie notierte zierliche, äußerst exakte Zeichen. — Das Radio erzählt von einer Reporterin der Besatzungsarmee, sie habe Menschen, welche vor Lastkraftwagen warteten, um Brot zu erhalten, geraten, dankbar zu sein. — stop
ein brennender vogel
echo : 0.10 UTC — Ich bin noch immer leicht verwirrt von dem, was vor wenigen Minuten passierte. Ein Blitz ist möglicherweise in nächster Nähe eingeschlagen. Ich erinnere mich, ich hatte meine Fenster geöffnet, es begann heftig zu regnen, dann wurde es plötzlich still. Ich lehnte noch an der Wand meines Arbeitzimmers. Es roch ein wenig nach Metall, meine Zunge schmeckte nach einem Löffel von Zinn, wie früher, sobald ich ein Frühstücksei öffnete. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich mit meinem linken Ohr ein leises Summen vernehmen, das eventuell nicht außen, sondern innen in meinem Kopf sich ereignet. Rechts ist wirkliche Stille. Aber ich kann sehen, mit beiden Augen sehen. Ein Vogel sitzt auf meinem Sofa, er scheint zu brennen, weswegen ich mich sofort auf den Weg machen werde, ein Glas Wasser zu holen. Es ist seltsam, tatsächlich ist die Erfahrung der Gehörlosigkeit in dieser Nacht, die Erfahrung vollständiger Abwesenheit eines Teiles meines Kopfes. – Ein junger Mann erzählte im Radio, er habe in der Stadt Mariupol eine Wohnung besucht. Er sagt: Auf dem Boden lag eine tote Katze in der Nähe zwei alter Menschen, die auf einem Sofa hockten tot wie die Katze. — stop
winterspur
foxtrott : 16.11 UTC — Ich spazierte einmal im Gebirge durch den Schnee. Es war ein eiskalter Wintertag, der Himmel von einem wundervollen Polarblau, das ich gern gepflückt und mit mir in der Manteltasche nach Hause getragen hätte. Vögel waren nicht zu sehen, aber sie waren zu hören gewesen, dumpfe Geräusche wie aus einem Traum heraus. Ja, die Vögel schliefen, nichts anderes war möglich, hockten unter Schneeschirmen, die sich über Tannen und Fichtennadeln spannten, und warteten auf den Frühling. Ein Pfad führte durch den Wald, eine Spur, die Tiere bei Nacht und Menschen bei Tag gemeinsam in den Schnee eingetragen haben mochten. Wenn ich ganz still stand, konnte ich leise mein Herz in der Brust schlagen hören. Ein seltenes Ereignis, das eigene Herzgeräusch von unten herauf, oder war das doch nur eine Vorstellung gewesen. Und ich dachte an Eichhörnchen, ich dachte, gut, dass ich kein Eichhörnchen bin in diesem Winter. Eine Stunde ging ich so den Pfad entlang, dann kehrte ich um. — Das Radio erzählt, ein Mädchen habe die Stadt Mariupol allein über verschneite Felder gehend zu Fuß verlassen. Überall, sagt das Mädchen, würden gefrorene Schaufensterpuppen herum gelegen haben. — stop
nächtliche strasse
alpha : 2.25 UTC — Einnmal überquerte ein Eichhörnchen hüpfend die feuchte Straße vor dem Haus, in dem ich wohne. Genau dieses Eichhörnchen, eine Phantasie, hatte ich schon Jahre zuvor zwei oder drei Male gesehen, die Straße war je tief verschneit gewesen. In diesem erinnerten Augenblick hielt das kleine Tier mitten auf der Straße inne und sah sich um und unsere Blicke begegneten sich: Ja, etwas ist anders geworden! — Das Radio erzählt, ein Mädchen habe in der Stadt Mariupol auf dem Boden liegend beobachtet, wie ein Schrapnell den Körper einer Nachbarin durchdrang als wäre die Nachbarin von Butter gewesen. — stop
in den wolken spazieren
echo : 11.28 UTC — Das war schon seltsam, wie die alte Dame zum ersten Mal in ihrem Leben vorsichtig hinter einem Leichtgewichtrollator spazierte. Sie trug Lederhandschuhe, vermutlich weil sie zur Maschine, die helfen soll, ihren Gang zu stabilisieren, einen gewissen stofflichen Abstand einzuhalten wünschte. Sie schien sich zu fürchten, ernst schaute sie gegen den Boden. Möglicherweise fürchtete sie, mit den Rädchen und Gestängen aus Carbon in ihrer nächsten Nähe verwachsen zu müssen. Gern würde sie weiterhin auf ihren eigenen Beinen allein, die sie schon so lange Zeit kannte, Schritt für Schritt Wege bestreiten, die ihr vertraut waren, das Laub der Buchen, der Kastanien auf der Straße, wie schön, ein Teppich, Schnecken da und dort, die sich herbstlich langsam fortbewegten scheinbar ohne Ziel. Es war feucht an jenem Morgen, Wolken berührten den Boden, auf den die alte Dame wenige Tage zuvor noch gestürzt war, einfach so, ohne einen Grund und ohne wieder aufstehen zu können, unerhört, so ein Schlamassel. Hundert Meter weit war sie nun schon gelaufen, da entdeckte sie eine Klingel an ihrem Gefährt, das so leicht war, dass sie es mit einer Hand anheben und für eine Weile in der Luft festhalten konnte. Ja, Kraft in den Armen, aber die Beine, waren unsicher geworden, vielleicht deshalb, weil sie hinter dieser Maschine herlaufen musste. Für einen Moment blieb die alte Dame stehen. Es wurde ganz still. Sie beugte sich zur Klingel herab, und schon war ein helles Geräusch zu hören, ein angenehmes Geräusch, zweifach war das Geräusch zu hören gewesen. — Das Fernsehen erzählt, in der Stadt Mariupol war kein Radio zu vernehmen gewesen in der Zeit der Blockade, nur das Radio der Propaganda von Osten her, und das Radio der menschlichen Stimmen in den Kellern und auf den Strassen. — stop