tango : 10.28 UTC — Regen gestern, ein Regen, der sprühte, beinahe Nebel. Ich spazierte im Park. Kaum ein Mensch war unterwegs im Park, von dem ich nicht erzählen darf, wo er sich präzise befindet, damit niemand sagen kann, wo präzise ich selbst mich befinde. Ich hatte mir einen Regenschirm gekauft für Regenzeit, einen, den ich auch als Schneeschirm verwenden könnte, einen robusten Schirm, etwas größer im Umfang, als gewöhnliche Schirme, einen Schirm, der bewirkt, dass es schneien wird, sobald man ihn zur rechten Zeit hervorholen wird. Ich spazierte also und las in Italo Calvinos Sammlung der unsichtbaren Städte. Bald stellte ich mir vor, wie ich in diesem Moment des Lesens nach sieben Tagen Fußmarsches durch ausgedehnte Wälder eine Stadt erreiche, die ich nicht sehen kann, Bauci, aber ihre — dünnen Stelzen, die sich in großen Abständen von der Erde erheben und über den Wolken verlieren, (sie) tragen die Stadt. Man gelangt mit Leitern hinauf. / Auf der Erde erscheinen die Einwohner selten. Sie haben schon alles Notwendige oben, und kommen lieber nicht herunter. Nichts von der Stadt berührt den Boden, ausgenommen diese langen Flamingobeine, auf denen sie ruht, und an hellen Tagen ein durchbrochener, eckiger Schatten, der sich auf dem Blätterwerk abzeichnet. / Drei Hypothesen stellt man über die Einwohner von Bauci auf, dass sie Erde hassen, dass sie einen solchen Respekt vor ihr haben, jede Berührung zu meiden, dass sie sie lieben, wie sie vor Ihnen gewesen, und nicht müde werden, sie mit abwärts gerichteten Ferngläsern und Teleskopen Blatt für Blatt, Stein um Stein, Ameise um Ameise zu mustern, und fasziniert ihre eigene Abwesenheit zu betrachten. — stop / aus: Italo Calvino Die unsichtbaren Städte, Frankfurt 20134
Schlagwort: nebel
mercato
echo : 22.08 UTC — Immer der Nase entlang spazierte ich zum Markt, wo nachmittags Seemöwen stolzierten über den Boden, den sie längst so gründlich durchsucht hatten, dass Fisch gerade noch als Erinnerung feinster Moleküle in der Luft zu finden war. Da lag noch etwas Eis auf dem Boden, erstaunlich. In diesem Augenblick erinnerte ich mich an einen frühen Morgen vor vielen Jahren. Ich trat damals zur Zeit der Dämmerung auf den Markusplatz. So dicht ruhte Nebel über der Lagune, dass ich nur wenige Meter weit sehen konnte. Ich ging sehr vorsichtig voran. Vor irgendeinem Kaffeehaus hielt ich an, setzte mich auf einen Stuhl und wartete. Irgendwo im Luftwasserzimmer, in dem ich Platz genommen hatte, hörte ich Stimmen von Männern, die miteinander sprachen. Auch waren immer wieder Pfiffe zu hören, wie Radare oder Signaltöne. Es waren Männer mit vermutlich Reisigbesen, die den riesigen Platz Kraft ihrer Arme und Hände fegten. Auch Melodien waren zu hören gewesen. Ich wartete ungefähr eine Stunde und lauschte. Nie habe ich einen dieser Männer gesehen, aber ich habe von ihnen vielfach erzählt. Es scheint überhaupt die Zeit, da man sich in Venedig noch verlaufen konnte, vorüber zu sein für alle Menschen, die über eine Schreibmaschine mit GPS-Verbindung verfügen. Es ist, glaubt mir, ein Vergnügen, diese Radarschreibmaschine auszuschalten und loszugehen und nach da und dort zu laufen, stets in dem Glauben, man wüsste, wo man sich befindet. Es bleibt dann nichts weiter zu tun, als nach einer halben Stunde die Schreibmaschine hervorzuholen und nachzusehen und sich zu wundern und zu freuen. — stop
morgens
bamako : 16.52 UTC — Mutter vor Jahren, wie sie aus dem Haus tritt. Es ist früher Morgen, vielleicht Oktober, Nebel. Sie trägt einen Morgenmantel, der noch immer in ihrem alten Haus im Badezimmer an einem Haken hängt. Sie bückt sich nach der Zeitung, schliesst die Haustür, geht langsam, etwas unsicher bereits, zum Wohnzimmertisch, legt die Zeitung auf ihm ab. Wenige Schritte entfernt wartet eine Tasse Kaffee. Die holt sie jetzt. Sie setzt sich vor die Zeitung und beginnt ihre eigene Zeitung herzustellen. Das ist ein Vorgang, der eine halbe Stunde Zeit in Anspruch nehmen kann. Um ihre eigene Zeitung herstellen zu können, muss sie die angelieferte Zeitung Seite um Seite betrachten. Sobald sie eine Seite entdeckt, auf welcher ein Artikel sich befindet, den sie zu lesen wünscht, trennt sie die Seite vorsichtig von allen weiteren Seiten, faltet sie und legt sie zur Seite. In dieser Weise ensteht nach und nach ein kleiner Stapel von Zeitungsseiten, die die alte Dame nach und nach lesen wird. Sie geht spazieren, sie geht einkaufen mir ihrem Wägelchen von schottischem Musterstoff, sie telefoniert mit ihren Freundinnen und sie sammelt Blätter im Garten und grüsst die Fische, die sich bereits auf den Winter vorbereiten. Indessen, immer wieder einmal, enfaltet sie eine der Seiten ihrer Zeitung, um sie zu lesen. Dann ist Abend geworden. Unter der Lektüre einer der letzten Zeitungsseiten schläft sie ein im Bett, das in ihrem alten Haus noch immer steht, wie auch die Nachttischlampe und ihre Bücher, ein Turm, die sie vor hatte zu lesen. — Im Haus der alten Menschen, dort wo über die Flure Rollstühle fahren, dort wo Mutter nun lebt, existieren weder Zeitungen noch Bücher. Ich habe das genau so beobachtet. — stop
sturm
romeo : 15.01 UTC — Im Zug saßen zwei alte Damen, es war Herbst, sie waren unterwegs an die Nordsee, erzählten von Spaziergängen am Strand, von wandernden Dünen, vom Wind, der sehr heftig werden sollte in den Tagen, die sie am Meer verbringen würden. Du bist leicht, sagte die eine Dame zur anderen Dame. — Ja, ich habe noch ein wenig abgenommen. — Vielleicht wirst du davonfliegen? — Ja, ich werde vielleicht vom Sturm erfasst, Du musst mich dann festhalten. — Dann fliegen wir beide davon. Wir sollten unsere Sturmschuhe tragen. — Ja, wir sollten unsere Sturmschuhe tragen. - Während sie sprachen, hielt eine der beiden Damen einen kleinen Hut fest, den sie auf dem Kopf trug, als ob schon ein Wind gehen würde im Abteil. Eine Weile sahen sie aus dem Fenster. Na sowas, sagte die Dame mit dem Hut. Wieder sahen sie aus dem Fenster. Wiesen zogen vorüber, es war etwas nebelig draußen. — stop
morgenstaubgeschichte
ulysses : 12.22 UTC — Was für ein schöner Sonntag. Das noch tiefstehende Licht der Sonne, die am frühen Morgen in den Centralbahnhof leuchtet, als würde sie immer dort in genau dieser Höhe von Osten her durch die Fenster scheinen. Eine Sonne nur für diesen Ort. Da ist feiner Rauchstaub, der aus einem Laden heraus durch die Halle schwebt. Die Raucher rauchen, indessen sie neue Rauchwaren besorgen. Bitter schmeckende Holzpapierluft. So muss das geduftet haben, genau so oder so ähnlich, ohne moderne Parfüme, wenn unter den Hafenhimmeln des 16. Jahrhunderts, nach langer Fahrt, die Bäuche der Handelsschiffe geöffnet wurden. Die Entzündung des getrockneten, des weitgereisten Materials vor der Mundöffnung eines Europäers führte zu einem Vorgang, den man zunächst als die Sauferei des Nebels bezeichnete, als Rauch- oder Tabaktrinken. Ja, was für ein schöner Sonntag. Ich gehe zu ungewohnter Zeit mit Tagaugen durch meine Stadt, als würde ich durch Brooklyn spazieren. — stop
oft habe man tage lang gewartet
nordpol : 2.58 — Von ihrer Zeit, die sie als Flüchtlingskind auf dem Land verbrachte, erzählt Mutter immer wieder gern. Sie hatten genug zu essen, weil sie und ihre Schwestern bei einer Bauernfamilie wohnten. Wenn der Vater am Wochenende zu Besuch kam, ahnte sie nichts von Tieffliegerangriffen auf Züge, mit welchen der Vater reiste, aber an seine staubigen Anzüge, weil er sich auf den Boden werfen musste. Die brennende Stadt München, obwohl in großer Entfernung liegend, war im Schein der Feuer damals am Horizont zu erahnen gewesen, wie Abendrot inmitten der Nächte. Dann das Warten auf eine Nachricht am nächsten Morgen. Oft habe man Tage lang gewartet. Sie selbst habe zweimal einen Bombenangriff auf München erlebt, das war zu Beginn des Luftkrieges. Sie habe sich nicht gefürchtet, es sei vielmehr spannend gewesen mit ihren Nachbarn und anderen Leuten so eng in einem Keller zu sitzen. Es gab Pralinen für die Kinder und einen Geschichtenerzähler. Ein Jahr später sei ihre große Schwester nach einem Angriff lange Zeit verschüttet gewesen und deshalb für Wochen verstummt. In dieser Zeit habe sie gehört, dass die Schollwöcks abgeholt worden seien, sie könne nicht sagen, weshalb sie als Kind schon wusste, dass das Abholen etwas Schreckliches gewesen sein musste für die, die abgeholt wurden. Sie habe beobachtet, dass die Abgeholten niemals wiedergekommen seien, und dass von ihnen bald nicht mehr gesprochen wurde. Das alles habe sie als Kind schon so bemerkt, weil Kinder sehr viel mehr bemerkt haben, als die Erwachsenen vielleicht glaubten. Dass die Eltern in der Wohnung vor dem Krieg das Hitlerbild immer umgedreht haben, davon durfte sie nicht erzählen, in der Schule nicht und auch anderswo nicht. Einmal sei sie vom Land her wieder in die zerstörte Stadt zurückgekommen, es war ein nebliger Tag gewesen, sie habe zunächst gedacht, es sei der Nebel, aber das Haus, in dem sie und ihre Schwestern aufgewachsen waren, existierte nicht mehr. Damals würden sie Bisamratten gegessen haben, die schmeckten sehr gut, und der Vater sei gelb geworden im Gesicht, weil seine letzte Niere langsam versagte. In dieser Zeit habe der Vater ihr viel von der Welt erzählt, wie sie funktioniert, er sei verstört gewesen, dann sei er gestorben. — stop
nahe lemmon creek park
charlie : 2.58 — Seit einer halben Stunde suche ich nach einem Namen für einen Mann, den ich einmal vor längerer Zeit beobachtet habe auf Staten Island an einem Strand im Winter. Ich dachte, verdammt, hätte ich ihn doch nur nach seinem Namen gefragt, ich fürchtete damals, ihn zu stören, fürchtete, dass er sofort in den wilden Wäldern nahe dem Lemmon Creek Park verschwinden würde. So still wie damals am Strand, sitze ich nachdenklich und rufe mir die Gestalt des Mannes in Erinnerung, eine schattenlose Figur, die auf einem verwitterten Baumstamm hockt. Du heißt vielleicht Laurentius, denke ich, oder Henry, nein, nicht Henry, Laurentius wird ein guter Name sein. Der Strand ist nass vom Regen und vom Nebel, der tief über dem Meer hängt. Wenn man raus schaut, weg vom Land, sieht man Schiffe, aber nur ihre Bäuche, nicht Brücken, Container, winkende Passagiere. Ich glaube, auch Laurentius beobachtet in diesem Moment seines Lebens Schiffe und Nebel, manchmal schreibt er ein paar Sätze auf ein Notizblatt, reißt das Papier aus seinem Block, fasst in seine rechte oder linke Hosentasche, holt ein Fläschchen hervor, wickelt das Notizblatt um einen Bleistift, führt das in dieser Weise geformte Notizpapierstäbchen in den Hals des Fläschchens ein, verschließt den Behälter mit einem Korken, steht auf und schleudert ihn aufs Meer hinaus. Dann setzt er sich wieder auf den verwitterten Baumstamm, beobachtet die Schiffe, die west- und ostwärts der Küste folgen, um nach einigen Minuten eine weitere Notiz zu fertigen. Einmal kehrt eines der Fläschchen zurück, es ist möglicherweise von der Bugwelle eines größeren Schiffes aus der Strömung getragen worden. Als Laurentius das Fläschchen bemerkt, steht er auf, holt das Fläschchen aus der Brandung, dreht den Korken vom Flaschenhals und schüttelt das Fläschchen solange, bis das Notizzettelröllchen auf seine Handfläche rutscht. Dann wirft er die leere Flasche wieder weit hinaus aufs Wasser, wo es für einen kurzen Moment verschwindet. — stop
samstags
foxtrott : 5.12 — Früher Nachmittag, Sommer. Ich beobachte auf einem Fährschiff, das nach Staten Island fährt, einen älteren Mann bei konzentrierter Arbeit. Er sitzt auf einer Bank des Promenadendecks tief über ein Buch gebeugt. Einige Kinder tollen in seiner Nähe herum, er nimmt, so sehr ist er bemüht, mit einem Bleistift den Zeilen eines Buches zu folgen, keine Notiz von ihnen. Ich denke zunächst, der alte Mann würde seine Augen mit Hilfe eines Bleistifts entlang der Zeichenlinie führen, aber als ich mich nähere, entdecke ich Wort für Wort eine leichte Verzögerung der Bewegung, die aus der Entfernung betrachtet doch wie eine fließende Bewegung wirkt. Am Ende jeder Zeile notiert der Mann eine Ziffer, vermutlich deshalb, weil er die Wörter des Buches zählt. Das ist seltsam und zugleich berührend, wie er so selbstvergessen auf dem großen Schiff verweilt, und ich hoffe, er möge auf Staten Island angekommen, mit dem nächsten Schiff zurückfahren nach Manhattan, und wiederum auf seinem Transfer Wörter zählen. Als das Schiff an das St. George Terminal anlegt, schließt der alte Mann das Buch, verstaut seinen Bleistift in einer Tasche seines Jacketts, erhebt sich mühevoll, um das Schiff langsam gehend über die Brücke, die sich zur Fähre hin senkte, zu verlassen. Im Saal des Terminals bleibt er für einen Augenblick vor einem Aquarium stehen, betrachtet die Fische oder sein Spiegelbild, um sich wenige Minuten später von der Menschenmenge, die auf das wartende Schiff strömt, mitnehmen zu lassen. Nebel ist aufgekommen, die Möwen, die das Schiff auf seinem Weg nach Manhattan begleiten, still. Ich stehe draußen auf der Promenade und beobachte das Wasser, wie es weit unten entlang des Schiffskörpers schäumt. Von Zeit zu Zeit schau ich durch Fenster zu dem alten Mann hin, zu seinem Buch, seinem Bleistift, seinen Händen. — stop
von zeitungen
india : 3.18 — Morgens liegt die Tageszeitung wie ein Wunder vor der Tür, an jedem der Tage einer Woche, nur an Sonntagen nicht. Es existieren Winterzeitungen, die von Schnee bedeckt sind, und Sommerzeitungen, welche kühler sind als die Morgenluft, außerdem Herbstzeitungen und Frühlingszeitungen. Herbstzeitungen sind von Blättern bedeckt, feucht vom Nebel der Morgenstunden, feucht wie Frühlingszeitungen, die nur feucht sind, aber nicht von Blättern bedeckt. Alle diese Zeitungen sind schwere Objekte in den Händen einer alten Frau. Es ist immerzu sehr viel geschehen seit der Zeitung des Tages zuvor, und auch jene frühere Zeitung war schwer gewesen, weil viel geschehen war in der Zeit, als die alte Frau im Garten arbeitete. Ja, das Gehen fällt nicht mehr so leicht, und auch das Lesen nicht. Es geschieht soviel, sagt die alte Frau, und sie meinte vielleicht, dass zuviel geschieht, dass die Zeitung zu schwer geworden ist, für ihre alten Hände. Und sie sagt, dass sie nicht alles, was in der Zeitung geschrieben steht, lesen könne, sie sagt das so, als ob sie meinte, es sei zuviel in der Zeitung geschrieben, das sie nicht lesen würde, sie sei der Zeitung nicht länger würdig, weswegen wir nun hoffen und darüber nachdenken, was vielleicht zu tun ist in dieser Zeit, das die papierenen Zeitungen zu schwer geworden sind. — stop
vor neufundland 3.05.22 uhr : schirokko
ulysses : 4.05 — Ruhige Nacht. Lektüre: Stewart O’Nan Last Night at the Lobster. Unterdessen Funkspruch Noes, ich notiere: 3.05.22 | | | > fangen wir noch einmal von vorne an. s t o p ich heiße noe. s t o p tiefe 82 meter vor neufundland. s t o p ich bin glücklich. s t o p könnte sein dass ich nicht ganz bei verstand bin. s t o p ich habe den eindruck zu träumen. g r a m o p h o n e f r o m a b o v e. s t o p ob mir jemand zuhört? s t o p ob jemand liest was ich schreibe? s t o p wie oft schon habe ich das wort s c h i r o k k o mit meinem finger in das wasser eingetragen um das wort schirokko nicht zu verlieren. e n o n o r m o u s b l u e f i s h w i t h y e l l o w e y e s s t r a i g h t a h e a d. s t o p ich kann das wort g l ü h b i r n e gut erinnern. s t o p < | | | ENDE 3.07.01