india : 5.56 — Ich entdeckte eine Nachricht in meinem Briefkasten, eine nicht zustellbare Sendung würde im Postamt auf mich warten. Einen Tag später, so gut wie sofort, war ich dort gewesen. Ich stand in einer Schlange von Menschen und überlegte, um was für eine Sendung, die auf mich in nächster Nähe wartete, es sich handeln könnte. Es war ein nebliger Tag. Möwen waren vom Fluss her tief in die Stadt vorgedrungen. Obwohl eigentlich eher scheue Persönlichkeiten, hockten sie auf dem Fenstersims des Postamtes als würden sie uns beobachten, Menschen, wie sie warteten, in dem sie langsam in eine Richtung zu einer Schalterreihe vorrückten. Es war eine längere Schlange. Ich holte mein Mobiltelefon heraus und las in einer Zeitung, dass in einer nördlich der Stadt Bagdad gelegenen Gegend Senfgas entdeckt worden sein soll zu einem Zeitpunkt, da es nicht existierte. Es ist sehr merkwürdig, man kann sich in einem Bericht dieser Art verlieren und kommt doch gut voran in einer Schlange von Menschen, ohne berührt zu werden. Nach einer Viertelstunde war ich am Ziel angekommen, ein Schalterbeamter, der sich ganz offensichtlich freute, überreichte mir einen sehr kleinen Brief. Der Brief war derart klein, dass er zunächst zwischen der Beere des Zeigefingers und der Daumenspitze des Mannes, die den Brief fixierten, vollständig verschwand. Kurz darauf hob er den Brief mittels einer Pinzette in die Luft, um ihn auf dem Tresen vor mir abzulegen. Der Mann reichte mir eine Lupe, ich solle mich vergewissern, die Briefmarke fehle. Tatsächlich war auf der Anschriftenseite des Kuverts mein vollständiger Name und meine Adresse vermerkt, eine Briefmarke aber war nicht zu entdecken, vermutlich deshalb, weil Briefmarken für Briefe dieser Größe noch nicht ausgeliefert worden sind. Der Beamte sagte, dass es sich bei diesem Brief, um den kleinsten Brief handele, den er je bearbeitet haben würde, ich sollte ihn gut verwahren: 65 Cent. Der Brief liegt jetzt auf meinem Küchentisch. Ich habe ihn noch immer nicht geöffnet. Es ist kurz vor fünf Uhr. Wieder Nebel. — stop
Aus der Wörtersammlung: nebel
sahara
sierra : 3.28 — Jane Goodall erzählt eine faszinierende Geschichte von Wahrnehmung und Wirklichkeit in den ersten Minuten eines Dokumentarfilms, der ihr Leben schildert. Sie sagt folgendes: Ich hatte es ziemlich satt, dass mich die Leute für Diane Fossey hielten und sagten: Ihr Film Gorillas im Nebel war wundervoll. Ich sagte dann immer: Sie haben den Film gesehen? — Ja! — Dann wissen die doch, dass die Dame getötet wurde, oder? — Ja! ‑Aber ich bin doch da! — stop. Frühe Nacht. In diesem Jahr zum ersten Mal die Fenster nach Mitternacht geöffnet. Esmeralda sitzt auf dem Brett neben Kakteen, sie scheint Sterne zu betrachten. Gedämpftes Licht vom nordostwärts reisenden Staub der Sahara. Gestern noch träumte ich von einem Telefongespräch mit Jules Verne, der mit sehr heller Stimme Züge eines Schachspiels meldete. Merkwürdig insbesondere das Vorkommen einer Kentaurenfigur im Spiel, welche sich durch Bewegung auf unsichtbare Spielfelder in der Luft vor jedem Zugriff in Sicherheit bringen konnte. — stop
nüsse. 20 gramm
olimambo : 0.15 — Als ich unlängst von einer Reise zurückkehrte, entdeckte ich Esmeralda auf dem Rahmen der Tür zum Arbeitszimmer. Die kleine Schnecke hockte genau dort, wo ich sie vor meiner Abreise zuletzt gesehen hatte. Vielleicht konnte sie das Gewicht meiner Schritte auf der Treppe spüren, ihre Fühleraugen jedenfalls waren bereits ausgefahren, als ich die Tür zur Wohnung öffnete. Esmeralda schien den heimkehrenden Mann in aller Ruhe zu betrachten. Ich überlegte, kaum hatte ich die Wohnung betreten, ob es möglich sein könnte, dass sich das Schneckenwesen in der Zeit meiner Abwesenheit nicht von der Stelle bewegt haben könnte. Geschälte Pekannüsse, die ich im Dezember noch in Küche und Diele auf den Boden legte, waren unberührt. Nun aber, da ich meinen Koffer auspackte, rührte sich Esmeralda. Sie schien an Gewicht verloren zu haben, war in ihrer Wanderung jedoch so schnell wie üblich, weshalb ich behaupten möchte, dass Esmeralda keinen Schaden genommen haben dürfte. Nach einer Weile erreichte sie das Arbeitszimmer und kletterte unverzüglich zur Decke empor, um direkt über meinem geöffneten Koffer Platz zu nehmen. Dort verweilte sie für mehrere Stunden, auch als ich meinen Koffer längst entleert und das Licht im Zimmer ausgeschaltet hatte, rührte sie sich nicht. Direkt unter ihr, auf dem Sofa, lagen ein Paar Handschuhe und ein Notizbuch. Gegen Mitternacht meldete sich L. Er berichtete, er habe einen Auftrag angenommen, nämlich in die Gegend von Narvik zu reisen, um zweihundert tiefgefrorene Seen, die noch ohne Namen sein sollen, zu bezeichnen. Als ich kurz darauf in mein Arbeitszimmer zurückkehrte, genau in dem Moment, da ich das Licht anschaltete, liess Esmeralda sich von der Decke fallen. Sie landete weich auf meinen Handschuhen. Ein unglaublicher Anblick, es schien, als würde die Schnecke in drastischer Weise mit mir kommunizieren. Indem ich sie in die Luft hob, versuchte sie vergeblich, sich in ihr Haus zurückzuziehen. Jetzt wieder Ruhe. Nebelnacht. — stop
rooseveltblüte
~ : malcolm
to : louis
subject : ROOSEVELTBLÜTE
date : nov 22 13 8.15 p.m.
Am 22. November berichtet die New York Times über Eichhörnchen Frankie, das seit Wochen auf dem Hurrikane Deck der Staten Island Fähre John F. Kennedy lebt. Wir konnten das nicht aufhalten. Weder den Bericht selbst, noch eine Fotografie, die das Eichhörnchen zeigt, wie es auf einer Sitzbank nach einem Finger greift. Frankie scheint sich auf dem Schiff wohlzufühlen. Vielleicht ist es die Wärme, vielleicht sind es die Bewegungen der Fähre auf dem Meer, die ihm gefallen. Natürlich ist er längst zur Attraktion geworden, zum Stadtgespräch, wird fotografiert und mit frischen Erdnüssen versorgt. Seit einigen Tagen nimmt Frankie gleichwohl Bananen zu sich, zutraulich wagt er sich nah an die Passagiere der Fähre heran, greift mit seinen Händen nach den Früchten, vermag sie zu öffnen, duckt sich, hastet mit seiner Beute je unter eine der Sitzbänke, weshalb zahlreiche Passagiere niederknien, um Frankie nicht aus den Augen zu verlieren. Gestern beobachteten wir, wie ein Mädchen Frankie berühren durfte. Er zitterte leicht, als das Kind mit einer Hand über seinen Rücken fuhr. Das Mädchen bemerkte Frankies Sender, der dicht unter seiner Haut verborgen liegt, rasch zog es seine Hand zurück. Es ist beunruhigend, welch große Aufmerksamkeit Frankie geniesst. Wir haben den Eindruck, manche der Passagiere fahren nur deshalb mit der Fähre, um Frankie besichtigen zu können. Kaum noch kommen wir an ihn heran, ohne selbst fotografiert zu werden. Heute ist es sehr windig. Brooklyn und New Jersey liegen im Nebel. Man könnte glauben, dass wir uns auf hoher See befinden. Die Scheiben des Schiffes scheppern. Wasser peitscht über die Vordecks der Fähre. Menschen mit Fotoapparaten stehn im Wind und suchen nach Manhattan. Etwas seekrank sende ich allerbeste Grüße aus New York — Malcolm / codewort : rooseveltblüte
empfangen am
23.11.2013
1855 zeichen
im gebirge
echo : 22.02 — Vor längerer Zeit begegnete mir ein alter Mann im Gebirge. Ich erinnere mich deshalb gut an ihn, weil er sehr schnell aufwärts gestiegen war. Er musste über achtzig Jahre alt gewesen sein, ich war damals Mitte dreißig, konnte ihm aber nicht folgen. Er trug ein kariertes Hemd, dessen Muster durch dichten Nebel leuchtete, der sich langsam über den Rücken des Berges bewegte. Ameisen überquerten die steinigen, sehr steilen Pfade. Sie waren so leise wie die Wolken um uns her. Auch der alte Mann bewegte sich fast geräuschlos. Manchmal hörte ich einen Stein, der abwärts rollte und das Pfeifen der Dohlen von weit oben. Nach einer Weile war der alte Mann verschwunden, zwei oder drei Stunden später tauchte er in der Nähe des Gipfels wieder auf. Er saß auf einem Stein unweit des Weges. In seiner Nähe, in Sichtweite, war an einem Felsen ein Bildstock befestigt. Das Marterl beherbergte die Schwarzweissfotografie eines jungen Mannes. Ich grüsste den alten Mann und stieg weiter zum Gipfel auf. Nach einer halben Stunde machte ich mich auf den Rückweg. An der Stelle, an welcher der alte Mann gerastet hatte, rauften sich ein paar Dohlen um etwas Brot. Noch heute meine ich ihre schrillen Rufe hören zu können. — stop
lichtpelze
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : LICHTPELZE
Ich habe Euch, liebe Daisy, liebe Violet, folgendes zu berichten. Es schneit heute Nacht, weil es schneien muss. Lichtpelze, kaum Wind, sie schaukeln an meinem Fenster aus dem Nebeldunkel kommend vorbei. Ich glaube, ich habe Euch schon erzählt, dass ich mir vor Wochen eine kleine Maschine vorgestellt habe, die fliegen kann. Diese vorgestellte Maschine ist nun eine tatsächlich sehr kleine Maschine geworden, nicht größer als eine Murmel in Kinderhand. Zarteste Rädchen und Schrauben und Gewinde sind in ihrem Innern zu finden, Batterien von der Größe eines Bergschneckenherzens weiterhin, sowie eine äußerst filigrane Funkantenne, ein Linsenauge und Mikrophone oder Ohren, die in der Nähe des Auges derart montiert worden sind, dass sie in der Lage sein könnten, Geräusche aufzuzeichnen. In wenigen Minuten, wenn ich meinen Brief an Euch aufgegeben haben werde, solltet Ihr mir zusehen, wie ich das Fenster öffnen und mein fliegendes Auge auf seine erste Reise schicken werde. Ich habe mir einen Flug südwärts vorgenommen. Zunächst abwärts 24 Stockwerke, dann die 72. Straße ostwärts bis hin zur Lexington Avenue, wir werden ihr bis zum Ende folgen. Am Gramercy Park biegen wir in Richtung Third Avenue ab, spazieren schwebend weiter, nehmen die Bowery, Saint James Place und kurz darauf die Brooklyn Bridge. Einige Stunden werden sicher vergehen, ehe wir nach 15 Meilen Brighton Beach erreicht haben werden, ein Abenteuer. Welche Höhe wird eine geeignete Reisehöhe sein? Was werden die Vögel auf der großen Brücke unternehmen, sobald sie uns erkennen? Ich habe meine Fernsteuerung bereits in der Hand. Es ist jetzt 7 Uhr und 55 Minuten. Ich fliege durch eine von Schnee und dichtem Nebel fast unsichtbare Stadt. – Ahoi! Euer Louis
gesendet am
29.08.2012
2.01 MESZ
1688 zeichen
kühle augen
nordpol : 6.32 — Gestern am späten Abend wohnte ich via Internet einer Hinrichtung bei. Fünf Männer wurden erschossen und zwar in Aleppo auf offener Straße. Es waren Rebellen, die das Feuer auf Gefangene eröffneten. Sie riefen: Gott ist groß! Gott ist groß! Als die Personen, es sollen Angehörige einer berüchtigten, mordenden und folternden, regierungstreuen Miliz gewesen sein, längst tot gewesen waren, wurde noch immer auf sie geschossen, als wollte man die Körper vor der Hauswand zu Staub zerlegen, den der Wind mit sich fort tragen könnte. Rechts neben dem gerade erwähnten Filmdokument von zwei Minuten Länge, war die Existenz weiterer Filme in Vorschau zu sehen, darunter der Bericht eines nordamerikanischen Fernsehsenders über die chirurgische Rekonstruktion eines schwer verletzten Gesichtes. Ein Kannibale hatte im Staate Louisiana Nase, Mund und Augen eines Mannes verspeist. Der arme Mann war kurz darauf noch am Leben gewesen und wurde nun von zwei Schwestern behutsam über den Flur eines Krankenhauses geführt. Auch diesen Film habe ich mit kühlen Augen betrachtet. Dann war Mitternacht vorüber und ich spazierte ein wenig durchs Viertel. Katzen waren unterwegs, die mit ihren Scheinwerfern nach mir leuchteten. Im Park um die Ecke wurden Feigen und Datteln gebraten. Ein süssmilder Nebelduft hing in der Luft. Ich saß eine halbe Stunde auf einer Bank und beobachtete Bäume, ob sie vielleicht nachtwärts arbeiten, der ein oder andere. – stop
matrjoschka
echo : 6.52 — Weit bin ich in der Beweglichkeit meines Ellenbogengelenkes gekommen. Ich vermag ein Glas Wasser zum Mund zu führen, in einem Buch zu blättern oder auf einer meiner elektrischen Schreibmaschinen zu schreiben. Auch ein fester Händedruck ist wieder möglich geworden, wenngleich noch schmerzhaft. Gestern nun näherte ich mich mit meinem rechten Daumen meiner rechten Schulter soweit an, dass ich meinte, sie bereits spüren zu können, meine Schulter also an der Haut meines Daumens und umgekehrt. Eine äußerst langsame, sagen wir, behutsame Annäherung. Ein Nachgeben Millimeter für Millimeter jenes kleineren Matrjoschkaarmes, der meinen eigentlichen Arm seit Monaten zu bewohnen scheint, eigensinniges Wesen, Wesen wie für sich, das noch festhalten will an einer Geste des Schutzes, weiterexistieren in einem Winkel von 90°. Mein schnurrender, mein sich räuspernder Arm. Es knistert unter der Haut auch dann, wenn ich mich nicht bewege, als ob der eine Arm mit dem anderen Arm leise verhandelte. – Dienstag, noch Nacht. Warmer Regen vom Nebelhimmel. Und Jazz, und Jazz von New Jersey her. Art Tatum. März 1946. TIGER RAG. Guten Morgen. — stop
raumstation
sierra: 11.50 — An diesem Freitagmorgen, Nebelschleierwolken lungern über dem Tal der Salzach, konnt ich seit 47 Tagen erstmals mit meiner rechten Hand wieder mein rechtes Ohr berühren. stop. Angedockt. stop. Die Meldung gegen den Mittag zu, Neutrinos auf unterirdischem Wege von Genf nach Rom seien schneller geflogen als das Licht.
papierlicht
marimba : 14.08 — Die Beobachtung, dass ein Gedanke, sobald ich ihn wahrnehmen kann, immer bereits vollständig anwesend ist. Nie vermag ich einen Gedanken zu betrachten, wie er langsam, nach und nach, Wort für Wort, Zeichen für Zeichen, erscheint. Es denkt sich, blitzt, sagen wir, nahe Lichtgeschwindigkeit vorwärts, die Wahrnehmung eines Gedankens, sein Echo, vollzieht sich dagegen zögernd, behutsam, hörend, also mittels geheimer Ohren im Kopf. – Ob es möglich ist, die Zeit langsamer vergehen zu lassen, indem ich mich zu ihr verhalte, wie ein Dompteur zu einem Löwen? Zeichen für Zeichen eine Geschichte notieren, bis diese Geschichte zu Ende geschrieben sein wird im Jahr 2517 oder im Jahr 2518 vielleicht. Nebelsonne. Papierlicht. — stop