tango : 15.08 UTC — Vater sitzt auf einer Bank nahe der Brooklyn Bridge. Es ist später Nachmittag. Vater lacht. Die Sonne steht tief, warmes Licht fällt auf hölzerne Blanken. Über den Schatten, den Mutter wirft, stolziert eine Möwe. Mutter fotografiert ihren Mann mit seinem persönlichen Fotoapparat, weshalb er plötzlich auf einer Dia — Fotografie zu sehen ist, unerwartet. Vater, im karierten Sakko, scheint überrascht zu sein, als habe er nicht bemerkt, dass Mutter seinen Fotoapparat entwendete. Es ist ein Augenblick, von dem Beide immer wieder erzählten. Gleich wird Vater aufstehen und sie werden von Brooklyn aus über die Brücke nach Manhattan spazieren. Als ich Jahre später selbst auf Reisen den Ort dieser Fotografie entdeckte, machte ich eine Aufnahme. Ich ging dann gleichwohl über die Brücke nach Manhattan zurück. Es war ein schöner Abend wie damals zur Elternzeit. Es war Mai, ich war zufrieden, weil ich jene Straßenkreuzung entdeckte hatte, die Auggie Wren in dem Film „Smoke“ Morgen für Morgen um acht Uhr fotografierte. Wochen später erzählte ich meinem Vater von diesem Nachmittag und wir setzen uns vor seinen Computer. Es war wie im Kino. — stop
Aus der Wörtersammlung: brooklyn bridge
nahe warrenstreet
alpha : 22.28 UTC — Louis erzählte mir eine heitere Geschichte, die er nicht erfunden, vielmehr von Monroe erzählt bekommen haben will, Monroe, die in Brooklyn in der Baltic Street seit fünf Jahren lebt. Sie habe, erzählte Monroe, ihre Freundin Lilly besucht in der Warrenstreet an einem fürchterlich heißen Tag im August. Sie habe Lillys Wohnung betreten und sofort gespürt, dass etwas seltsam ist. Das linke Augenlid Lillys flatterte nämlich wie ein wild gewordener Falter über ihrem Augapfel herum. Dieses Flattern habe nicht aufgehört, sagte Lilly, seit in der Nacht vor drei Tagen über ihrem Bett ein Feueralarmmelder angesprungen sei, ein äusserst strenger heller Ton, der so komponiert worden sei, dass man unbedingt wach werden müsse, weswegen sie sogleich senkrecht im Bett hockte und nach Feuer suchte, aber keinerlei Feuer gefunden habe. Sie habe dann etwas abgewartet, aber das Wesen an der Decke wollte sich nicht beruhigen, da sei sie dann auf einen Stuhl gestiegen und habe das pfeifende, blinkende Tier flugs abgeschraubt, habe versucht das Tier zu beruhigen, habe Schalter und Knöpfe gedrückt, dann das Tier in einen Pullover gewickelt, eine Decke darüber gelegt, und noch eine Decke, schließlich habe sie ihre Handtasche geöffnet, sei auf die Straße getreten, um zu Fuß in Richtung der Brooklyn Bridge zu marschieren. Indessen flatterte ihr Augenlid noch immer herum wie ein gefangener Falter, weswegen sie sich sehr konzentrieren musste im wilden Straßenverkehr. Das Tier, das in einer Weise in der Handtasche pfiff, dass Seemöven Lillys Gegenwart flüchteten, habe sie dann in den East River geworfen, was ihrem Auge ganz offensichtlich nicht sofort geholfen habe. — stop
lichtpelze
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : LICHTPELZE
Ich habe Euch, liebe Daisy, liebe Violet, folgendes zu berichten. Es schneit heute Nacht, weil es schneien muss. Lichtpelze, kaum Wind, sie schaukeln an meinem Fenster aus dem Nebeldunkel kommend vorbei. Ich glaube, ich habe Euch schon erzählt, dass ich mir vor Wochen eine kleine Maschine vorgestellt habe, die fliegen kann. Diese vorgestellte Maschine ist nun eine tatsächlich sehr kleine Maschine geworden, nicht größer als eine Murmel in Kinderhand. Zarteste Rädchen und Schrauben und Gewinde sind in ihrem Innern zu finden, Batterien von der Größe eines Bergschneckenherzens weiterhin, sowie eine äußerst filigrane Funkantenne, ein Linsenauge und Mikrophone oder Ohren, die in der Nähe des Auges derart montiert worden sind, dass sie in der Lage sein könnten, Geräusche aufzuzeichnen. In wenigen Minuten, wenn ich meinen Brief an Euch aufgegeben haben werde, solltet Ihr mir zusehen, wie ich das Fenster öffnen und mein fliegendes Auge auf seine erste Reise schicken werde. Ich habe mir einen Flug südwärts vorgenommen. Zunächst abwärts 24 Stockwerke, dann die 72. Straße ostwärts bis hin zur Lexington Avenue, wir werden ihr bis zum Ende folgen. Am Gramercy Park biegen wir in Richtung Third Avenue ab, spazieren schwebend weiter, nehmen die Bowery, Saint James Place und kurz darauf die Brooklyn Bridge. Einige Stunden werden sicher vergehen, ehe wir nach 15 Meilen Brighton Beach erreicht haben werden, ein Abenteuer. Welche Höhe wird eine geeignete Reisehöhe sein? Was werden die Vögel auf der großen Brücke unternehmen, sobald sie uns erkennen? Ich habe meine Fernsteuerung bereits in der Hand. Es ist jetzt 7 Uhr und 55 Minuten. Ich fliege durch eine von Schnee und dichtem Nebel fast unsichtbare Stadt. – Ahoi! Euer Louis
gesendet am
29.08.2012
2.01 MESZ
1688 zeichen
chinatown : kandierte enten
nordpol : 2.06 — Über die Brooklyn Bridge nach Manhattan. Wunderbares Licht, klar und sanft. Da ist ein Wind, der aus dem Landesinneren kommt, ein beständiger, kalter Strom, gegen den sich Möwen in einer Weise stemmen, dass sie in der Luft zu stehen scheinen. Helle Augen, grau, blau, gelb, das Gefieder dicht und fein wie Pelz. Ich folge kurz darauf einem alten chinesischen Mann durch Chinatown. Tack, tack, tack, das Geräusch seines Stocks auf dem Boden, ein Faden von Zeit über enge Straßen. Links und rechts des Weges, schmale Läden in roten, in goldenen Farben, Waren, die Harmonie bedeuten, Bänder, Fächer, lächelnde Masken. Ich rieche heute nichts, oder die Gerüche, wenn sie noch existieren, bewegen sich dicht über den Boden hin, Morchelberge, getrocknete Schwämme, Muscheln, Nüsse, Algenwedel, Krabben, zwei Hummertiere, sie leben noch, sind für 20 Dollar zu haben. Im Restaurant nahe der Mottstreet, eine milde Entensuppe gegen den Abend zu. Messer der Köche, die vor meinen speisenden Augen lautlos durch halbe Schweine flitzen. Gebratene Entenkörper, glänzend, als wären sie von der Art kandierter Früchte, baumeln in den Fenstern. Dann Dämmerung und Wärme im Bauch und das Schwingen der Brücke noch in den Beinen. – stop