echo : 22.08 UTC — Immer der Nase entlang spazierte ich zum Markt, wo nachmittags Seemöwen stolzierten über den Boden, den sie längst so gründlich durchsucht hatten, dass Fisch gerade noch als Erinnerung feinster Moleküle in der Luft zu finden war. Da lag noch etwas Eis auf dem Boden, erstaunlich. In diesem Augenblick erinnerte ich mich an einen frühen Morgen vor vielen Jahren. Ich trat damals zur Zeit der Dämmerung auf den Markusplatz. So dicht ruhte Nebel über der Lagune, dass ich nur wenige Meter weit sehen konnte. Ich ging sehr vorsichtig voran. Vor irgendeinem Kaffeehaus hielt ich an, setzte mich auf einen Stuhl und wartete. Irgendwo im Luftwasserzimmer, in dem ich Platz genommen hatte, hörte ich Stimmen von Männern, die miteinander sprachen. Auch waren immer wieder Pfiffe zu hören, wie Radare oder Signaltöne. Es waren Männer mit vermutlich Reisigbesen, die den riesigen Platz Kraft ihrer Arme und Hände fegten. Auch Melodien waren zu hören gewesen. Ich wartete ungefähr eine Stunde und lauschte. Nie habe ich einen dieser Männer gesehen, aber ich habe von ihnen vielfach erzählt. Es scheint überhaupt die Zeit, da man sich in Venedig noch verlaufen konnte, vorüber zu sein für alle Menschen, die über eine Schreibmaschine mit GPS-Verbindung verfügen. Es ist, glaubt mir, ein Vergnügen, diese Radarschreibmaschine auszuschalten und loszugehen und nach da und dort zu laufen, stets in dem Glauben, man wüsste, wo man sich befindet. Es bleibt dann nichts weiter zu tun, als nach einer halben Stunde die Schreibmaschine hervorzuholen und nachzusehen und sich zu wundern und zu freuen. — stop
Aus der Wörtersammlung: pfiff
nahe warrenstreet
alpha : 22.28 UTC — Louis erzählte mir eine heitere Geschichte, die er nicht erfunden, vielmehr von Monroe erzählt bekommen haben will, Monroe, die in Brooklyn in der Baltic Street seit fünf Jahren lebt. Sie habe, erzählte Monroe, ihre Freundin Lilly besucht in der Warrenstreet an einem fürchterlich heißen Tag im August. Sie habe Lillys Wohnung betreten und sofort gespürt, dass etwas seltsam ist. Das linke Augenlid Lillys flatterte nämlich wie ein wild gewordener Falter über ihrem Augapfel herum. Dieses Flattern habe nicht aufgehört, sagte Lilly, seit in der Nacht vor drei Tagen über ihrem Bett ein Feueralarmmelder angesprungen sei, ein äusserst strenger heller Ton, der so komponiert worden sei, dass man unbedingt wach werden müsse, weswegen sie sogleich senkrecht im Bett hockte und nach Feuer suchte, aber keinerlei Feuer gefunden habe. Sie habe dann etwas abgewartet, aber das Wesen an der Decke wollte sich nicht beruhigen, da sei sie dann auf einen Stuhl gestiegen und habe das pfeifende, blinkende Tier flugs abgeschraubt, habe versucht das Tier zu beruhigen, habe Schalter und Knöpfe gedrückt, dann das Tier in einen Pullover gewickelt, eine Decke darüber gelegt, und noch eine Decke, schließlich habe sie ihre Handtasche geöffnet, sei auf die Straße getreten, um zu Fuß in Richtung der Brooklyn Bridge zu marschieren. Indessen flatterte ihr Augenlid noch immer herum wie ein gefangener Falter, weswegen sie sich sehr konzentrieren musste im wilden Straßenverkehr. Das Tier, das in einer Weise in der Handtasche pfiff, dass Seemöven Lillys Gegenwart flüchteten, habe sie dann in den East River geworfen, was ihrem Auge ganz offensichtlich nicht sofort geholfen habe. — stop
unordentliches kind
india : 0.58 — Unordentliches Kind: Jeder Stein, den es findet, jede gepflückte Blume und jeder gefangene Schmetterling ist ihm von Anfang an schon Sammlung, und alles, was es überhaupt besitzt, macht ihm eine einzige Sammlung aus. An ihm zeigt diese Leidenschaft ihr wahres Gesicht, der in den Antiquaren, Forschern, Büchernarren nur noch getrübt und manisch weiterbrennt. Kaum tritt es ins Leben, so ist es Jäger. Es jagt die Geister, deren Spur es in den Dingen wittert. Seine Nomadenjahre sind Stunden im Traumwald. Dorther schleppt es die Beute heim, um sie zu reinigen, zu festigen, zu entzaubern. Seine Schubladen müssen Zeughaus und Zoo, Kriminalmuseum und Krypta werden. Aufräumen hieße einen Bau vernichten voll stacheliger Kastanien, die Morgensterne, Staniolpapiere, die ein Silberhort, Bauklötze, die Särge, Kakteen, die Totembäume und Kupferpfennige, die Schilder sind. Walter Benjamin. Ein Pfiff. — stop
grand central station. regen
marimba : 0.12 — Grand Central Station an einem regnerischen Tag, viele der reisenden Menschen sind nass geworden. Auch ein paar Tauben haben sich in den Bahnhof geflüchtet, sie gehen zu Fuß, weshalb sie von Kindern gejagt werden, deren Mütter lange Röcke tragen und Schleifen im Haar. Diese Personen wirken so, als wären sie gerade erst aus den Regenwolken früherer Jahrhunderte gefallen. Wie ich mit einer Rolltreppe abwärts fahre, durch die Tunnels unter dem Bahnhof spaziere, treffe ich auf eine Modelleisenbahn, die mit Blaulicht durch einen Postkartenladen funkelt. Ein Feuer ist ausgebrochen, eine Tankstelle brennt, die jederzeit explodieren könnte, und eine Schule. Von Zeit zu Zeit scheppert ein Zug vorbei, dessen Lokomotive dampft, indessen das Modelleisenbahnfeuer mittels feiner Papiere und künstlichem Wind zur Aufführung kommt. Eine dramatische Szene. In diesem Moment der Beobachtung eines Unglücks, erinnerte ich mich an einen Heizer, der in einem Münchener Bahnhof das Fahrwerk einer riesigen Lokomotive ölte. Es war eine Zeit, da die fahrenden Kohlenbrennwerke starben. Ich könnte damals zum ersten Mal bemerkt haben, dass auch Modelllokomotiven regelmäßig mit Maschinenöl, welches aus handlichen Behältern tropfenweise verteilt wurde, versorgt werden wollen. Der Dampf, der unter der Fahrt kurz darauf aus zierlichen Schloten pfiff, war echt, wie der Dampf der großen Lokomotivenbrüder. Die erste Eisenbahn meines Lebens habe ich von einem Laufstall aus als Gefangener beobachtet. Noch konnte ich, wenn ich mich nicht täusche, nur sitzen oder liegen, aber das war nicht schlimm gewesen, weil der Zug, der meinen Laufstall umkreiste, vom Boden her sehr gut zu sehen war. Ich erinnere mich an Schienen von Metall, die ich später einmal verbiegen würde, an leuchtende Signalanlagen, an dunkelgrüne Krokodile, die je über Schheinwerferköpfe vefügten. Spätere, sehr viel kleinere Dampflokomotivenmodelle, waren schwer. Wenn ich sie in meinen kleinen Händen hielt, hatte ich das Gefühl etwas Bedeutendes zu halten. Ihre Farben waren schwarz und rot, und sie rochen sehr schön nach Eisen. Seit jener Zeit spüre ich eine kindliche Form der Erregung, sobald ich in einem Modellkatalog blättere. Die erste Spielzeugeisenbahn, die mir selbst gehörte, war von Holz gewesen, hölzerne Schienen, hölzerne Wagons, hölzerne Lokomotiven, auch die Passagiere waren von Holz. Heutzutage werden Lokomotiven hergestellt, die so klein sind, dass man sie verschlucken kann. – Vor wenigen Tagen wurde Radovan Karadzic zu 40 Jahren Haft verurteilt. — stop
in der rue de javel 151
ginkgo : 0.02 — Ich fahre in einem Zug. Vor dem Fenster schlendert karge Landschaft, Büsche, kein Schnee, kein Gras, aber Moose und Steine. Dämmerung. Stundenlang nicht Tag und nicht Nacht. Die Wagons des Zuges scheinen von Holz zu sein, aus ihren Wänden wachsen sehr kleine, wilde Bäume in den Raum. Diese Bäume sind nicht höher als ein Finger, winzige Affen turnen herum, auch Vögel kreisen, wenn ich mich nähere mit einem Ohr, vermag ich Pfiffe zu hören. Auf einer Bank vor dem Fenster sitzt ein älterer Herr mit einem Telefon. Er notiert große ungelenke Buchstaben in ein Heft. Sturzprotoll No 75: Im Nachthemd ist Mademoiselle Livin, 92, über eine Treppe vom fünften Stock des Hauses 151 in der Rue de Javel in den vierten Stock gestürzt. Paris, 10. Dezember 2014 3 Uhr 5 Minuten. — stop
kapselbäume
lima : 0.03 – Fenster von opakem Licht. Bäume draußen im Park vor dem Präpariersaal selbst nicht zu sehen, nur ihre Schatten, die sich im Wind bewegten. Der Eindruck, jene Schattenbäume handelten aus eigener Kraft, Muskeln unter der Rinde, Sehnen, Gelenke, Kapseln, Bänder. Schemen zweier Eichhörnchen hüpften von Ast zu Ast. Ich beobachtete eine Idee, während ich über Kopfhörer die Qualität einer Tonbandaufnahme kontrollierte. Eine Stimme. Die Stimme eines jungen Mannes. Er sagte: Ich hielt im Traum einen Kehlkopf in der Hand, der leise pfiff. Ich kann mich an ein paar sehr schräge Töne erinnern, an eine vibrierende Bewegung auf meiner Handfläche, als ob dort ein Falter sehr rasch mit seinen Flügeln auf und ab schlagen würde. : pause 2 sec : Manchmal habe ich am helllichten Tag Vorstellungen, Tagträumerei, meine Hände, zum Beispiel, auf dem Lenkrad meines Autos, ohne Haut. – Samstag. Wolkenloser Himmel. Count Basie. — stop
im albtraum
tango : 0.05 — Ich hatte ein Museum geträumt, ein Albtraum, ein Museum, dessen Säle für Besucher zur Nachtzeit nur geöffnet waren. Folgendes: Eine Spielzeugmaschine erhebt sich dort, Saal 107, von einem Tisch, eine Stadt ohne Staub. Da sind Häuser, Baracken, geschotterte Wege, Mauern, ein Platz. Und Bäume sind da noch. Und Schienen. Und Türme. Hölzerne Türme. Gusseiserne Lampen. Scharfes Licht, weißes Licht, Gewitterlicht. Kein Laut, kein Schatten, keine Bewegung. Aber in den Kronen der Bäume, Unruhe, bebendes Warten. Es ist wieder die sechste Sekunde, dann die siebte, dann die achte. Jetzt geht alles sehr schnell vonstatten. Ein heller Ton, ein Pfiff, kaum hörbar. Eine Lokomotive, weißer Dampf, rast auf Schienen aus dem Halbdunkel jenseits der Umzäunung heran, ein Zug, ein langer Zug. Auch in die Stadt ist nun Bewegung gekommen. Personen. Vögel. Hunde. All das so voran, als wäre es aufgezogen, würde sich entladen, ruckartig, als habe man einem Film Sekunde für Sekunde Bilder entnommen. Der Zug stoppt. Figuren, Menschenfiguren, Hunderte, auch Kinderfiguren, fließen aus Waggons, formieren sich zu einer Linie, die sich bald teilt. Wispern und Zwitschern. Dann Rauch. Nadeln von schwarzem Rauch. Rauch bis zur Himmelsdecke. Und Geruch. Ein seltsamer Geruch, sehr senkrecht seltsam, Geruch von geschmolzenem Metall, von Zinn, süß, von Gebäck. Alles ist wie von Sand beworfen, so eingefärbt, auch jene Menschen, die klein sind und schnell und bald schon verschwunden, waren von der Farbe hellen Sandes. Dann wieder Stille. Keine Bewegung. Nur die Bäume, das Blattwerk, unruhig. — stop