himalaya : 20.18 UTC — Und wenn doch Mobiltelefone mittels Nachrichten von fern her entzündet werden könnten? — Ich sitze neben einem Mann in irgendeinem Zug. Es ist Abend. Der Mann blickt auf den Bildschirm seines Mobiltelefons. Sein Daumen fördert Bilder von unten nach oben hin in rasender Geschwindigkeit. Ich betrachte seinen Kopf. Und plötzlich denke ich: Was denkt dieser Kopf? Kann dieser Kopf so schnell denken, wie sich die Bilder unter der Bewegung seines Daumens bewegen? Vielleicht kennt dieser Mann all jene Bilder, dieser fördert bereits. Vielleicht will er vertiefen, was er denkt. Immer wieder der Eindruck, ein kleiner Vogel, der pfeift von Zeit zu Zeit, liege rücklings in seiner Hand. Sofort wird aus der Bewegung eines Daumens, zärtliche Bewegung. — stop
Aus der Wörtersammlung: daumen
von vögeln
sierra : 22.08 UTC — Kleine oder handliche fliegende Fotoapparate sind zunächst zu kleinen fliegenden Filmkameras geworden. Man kann sie mithilfe eines Mobiltelefons und zweier Daumen steuern. Diese fliegenden, filmenden, aufmerksamen Augen scheinen Objekte der Vogelwelt geworden zu sein. Man könnte nun weiteren durchbluteten Vögeln in der Luft begegnen. Man könnte ihnen folgen. Man könnte gleichwohl Menschen besuchen, die in höheren Etagen städtischer Wohnhäuser leben. Man könnte Menschen betrachten aus dem Dunkel heraus, ohne vielleicht selbst gesehen zur werden. Man kann, das ist beobachtet, nun seit bald zwei Jahren Sprengstoffe laden und aus größerer Höhe zur Erde hin stürzen. Beobachtende Vögel sind zu Raubvögeln geworden, sie rauben Bilder und töten. Die Vorstellung heute, spazierend im Palmengarten, die Vorstellung zierlicher Drohnen, die herumfliegen, um da und dort in den Städten und in den Wäldern, Proben zu nehmen von Kot, aus Abfallstoffen der Müllhalden, Gewässern, auch unmittelbar aus den Blutkreisläufen lebender Organismen, von Kühen und von Menschen, denkbare Welten. — stop
voliere
echo : 18.58 UTC — Im Traum stehe ich im Park vor einer Voliere, die an einem Bindfaden hängt. Dieser Bindfaden muss in großer Höhe am Himmel befestigt sein. In der Voliere schweben Vögel. Sie sind nicht sehr viel größer als ein Daumen, ihr Gefieder von prächtigen Farben, die sich langsam fließend verändern. Ich sitze auf einem Stuhl, habe Brotzeit mitgebracht, Kürbiskernbrötchen, Schinken, 1 Schnittlauchsträußchen, Champignonpastete, Himbeerbrause, eine Kanne Kaffee. Ich beobachte das Vogelhaus, das über keinerlei Tür verfügt. Tagelang, es wurde immer wieder dunkel, saß ich auf meinem Stuhl. Wenn es dunkel geworden war, leuchtete ich mit einer Taschenlampe zu den Vögeln hin. Sie mochten das Licht, ihre Augen glühten wie Dioden in Blau, Orange, Grün und Rot. Auch waren sie stumm. Sie schienen aufmerksam zu sein. Vielleicht wunderten sie sich über diesen Mann, der geduldig wartete, ob sie bald einmal landen würden. Das Radio erzählt, in Mariupol würden Telefonsimkarten wie Brot verteilt. Menschen standen, so wird berichtet, mit versteinerten Gesichtern in Reih und Glied vor Lastkraftwagen. — stop
taubenstrasse 8 / 508
alpha : 14.15 UTC — Mein Nachbar wohnt im 508. Stock in der Taubenstrasse 6. Indessen ich selbst ein Apartment der Taubenstrasse 8 in der 508. Etage bewohne. Es ist Dezember, Weihnachten. Der Strom ist ausgefallen. Wenn ich nun ans Fenster trete, sehe ich Joshua, wie er seinerseits mich betrachtet, der wiederum ihn betrachtet. Er ist nur etwa zehn Meter von mir entfernt. Die Fenster lassen sich in dieser Höhe nicht öffnen. Und ich sehe, eine Wolke zieht vorüber, dass auch Joshua allein ist, weswegen ich auf einen Zettel in großen Buchstaben schreibe: Joshua, komm zu mir herüber, ich habe eine Ente im Ofen. Joshua winkt und hebt seinen Daumen. Er verschwindet im hinteren Teil seines Zimmers, der im Schatten liegt, kommt dann bald wieder zurück, mit einer Flasche Hollunderbeerensaft in Händen. Er trägt bereits einen Mantel und einen Rucksack und eine Mütze und Handschuhe. Er schreibt auf einen Zettel: Ich komme! Warte auf mich! — Das Licht in Joshuas Wohnung geht aus. Und so sitze ich und warte. Ich kenne Joshua schon lange Zeit. Einmal haben wir uns auf der Straße getroffen. Und jetzt ist Weihnachten. Schnee fällt. Und es ist ganz wunderbar still. — stop
vögel
india : 18.55 UTC — Im Traum stehe ich im Park vor einer Voliere, die an einem Bindfaden hängt. Dieser Bindfaden muss irgendwo in großer Höhe am Himmel befestigt sein. In der Voliere schweben Vögel. Sie sind nicht sehr viel größer als ein Daumen, ihr Gefieder von prächtigen Farben, die sich langsam fließend verändern. Ich sitze auf einem Stuhl, habe Brotzeit mitgebracht, Kürbiskernbrötchen, Schinken, 1 Schnittlauchsträußchen, Champignonpastete, Himbeerbrause, eine Kanne Kaffee. Ich beobachte das Vogelhaus, das über keinerlei Tür verfügt. Tagelang, es wurde immer wieder dunkel, saß ich auf meinem Stuhl. Wenn es dunkel geworden war, leuchtete ich mit einer Taschenlampe zu den Vögeln hin. Sie mochten das Licht, ihre Augen glühten wie Dioden in blau, orange, grün und rot. Auch waren sie stumm. Sie schienen aufmerksam zu sein. Vielleicht wunderten sie sich über diesen Mann, der geduldig wartete, ob sie bald einmal landen würden. — stop
oder ein fernrohr
delta : 10.08 UTC — Lieber Theo, ich danke Ihnen für Ihren Brief, in dem Sie sich so freundlich nach der Bedeutung des Wortes Fingerbrille erkundigen. Tatsächlich kann ich bestätigen, um eine Fingerbrille in der Wirklichkeit herzustellen, sind beide Hände vor Augen zu führen, außerdem der linke und der rechte Daumen je mit einem Finger derselben Hand an den Spitzen zu verbinden, sodass die Anmutung eines Kreises entstehen wird. Sollten Sie dauerhaft oder für kurze Zeit über nur eine Hand verfügen, ist doch immerhin die Gestalt eines Monokels zu erreichen oder eines Fernrohres, das ist denkbar. Mit herzlichen Grüßen — Ihr Louis — stop
über grönland
sierra : 0.25 — Plötzlich, wir flogen gerade über Grönland dahin, wurde das Mädchen wach mitten in der Nacht während eines Fluges gegen die Zeitrichtung von Ost nach West. Als wir in New York starteten, beinahe dunkel, oben, in großer Höhe über Boston wurde es etwas heller, Himmelsfarben von zartem Blau und orangefarbenen Tönen, die sich während des Nachtfluges kaum veränderten. Rauschende Stille unter dem Kabinendach, das sich über schlafenden Menschen wölbte, da und dort leuchtete der Bildschirm eines Computers oder eines Telefons im Dämmerlicht. Es war kühl geworden, vielleicht deshalb, weil es kühl geworden war, wachte das Mädchen auf. Das Mädchen war eine Japanerin, ungefähr sechzehn Jahre alt, zierlich, sie schien sehr routiniert im Fliegen zu sein, reckte sich, sah kurz zu mir hin, sah, dass ich eine Decke ausgebreitet hatte über meinen Beinen, fischte selbst eine Decke unter ihrem Sitz hervor, breitete sie über ihren Schoß, holte ein Handy aus ihrer Handtasche, die seltsam schillerte, als würde sie aus Flüssigkeit bestehen, und begann sofort zu schreiben. Das war eine seltsame Art und Weise zu schreiben, wie das Mädchen schrieb. Eine Hand, ihre linke Hand, hielt sie unter der Decke verborgen, in der rechten Hand ruhte das Telefon wie ein kleiner Vogel rücklings, so dass sein Telefonbauch sichtbar wurde, eine Tastatur, über welche nun ein Daumen in einer Geschwindigkeit hüpfte, dass ich meinen Blick nicht lösen konnte. Sie schrieb sehr lange Zeit, notierte WhatsApp — Nachrichten an Personen, deren Avatare ich gut, deren Zeichen ich unmöglich zu lesen vermochte, an Menschen oder Computer, die ihr unverzüglich antworteten, so dass sie von einem Dialog in einen anderen hüpfte, indessen sie ihrerseits beobachtete, wie ich meinerseits ihren Daumen beobachtete, was sie nicht weiter zu stören schien, vielleicht weil ihr gefiel, dass ich ihre Geschicklichkeit bestaunte, oder auch weil sie fand, dass sie über einen hübschen Daumen verfügte. Ihr Daumen war klein, dachte ich noch, weil er einer winzigen Japanerin gehörte, die in der Zeit, da sie neben mir saß, keinen Laut von sich gab. Ihren notierenden Daumen beobachtend, schlief ich schließlich ein. Als ich erwachte, war auch das Mädchen wieder eingeschlafen. Sie lag unter der Decke, die sie bis zu ihren Schultern hochgezogen hatte, ihre Hände waren vermutlich vor der Brust gekreuzt, genau dort bewegte sich etwas, hüpfte. Das war über Irland gewesen. Struktur eines neuen Jahrtausends. — stop
milanomaki
echo : 0.18 — Während eines Spaziergangs im botanischen Garten hörte ich, man habe zuletzt im Jahr 2000 eine bisher nicht bekannte Struktur der menschlichen Hand entdeckt, das ligamentum metacarpale pollicis, ein Band, welches die Stabilität der Daumenbewegung erhöhe. Bisher hatte ich angenommen, die Anatomie des menschlichen Körpers sei bereits seit Jahrzehnten restlos aufgeklärt. – stop. Es ist jetzt kurz nach Mitternacht, Count Basie: At the Aquarium. Vor wenigen Minuten erreichte mich eine E‑Mail. Milanomaki notiert > : Ich sollte ein Ohrenmensch sein. Ich sitze mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und höre zu, einem Menschen vielleicht oder einer Fliege, die über mir im Luftraum turnt. Oder ich stehe in einem Zimmer ganz still, um so präzise wie möglich denken zu können. Kurz darauf setze ich mich an einen Schreibtisch und mache viele Wörter, dann mache ich eine Pause, dann lese ich alles das Notierte noch einmal durch, dann streiche ich so viele Wörter mit dem Kopf, wie möglich ist, um bald wieder nur einen Strich vor mir auf dem Papier vorzufinden. Ich habe viel erlebt. — stop
ein brief
india : 5.56 — Ich entdeckte eine Nachricht in meinem Briefkasten, eine nicht zustellbare Sendung würde im Postamt auf mich warten. Einen Tag später, so gut wie sofort, war ich dort gewesen. Ich stand in einer Schlange von Menschen und überlegte, um welche Sendung, die auf mich in nächster Nähe wartete, es sich handeln könnte. Es war ein nebliger Tag. Möwen waren vom Fluss her tief in die Stadt vorgedrungen. Obwohl eigentlich eher scheue Persönlichkeiten, hockten sie auf dem Fenstersims des Postamtes, als würden sie uns beobachten, Menschen, wie sie warteten, in dem sie langsam in eine Richtung zu einer Schalterreihe vorrückten. Es war eine längere Schlange. Ich holte mein Mobiltelefon heraus und las in einer Zeitung, dass in einer nördlich der Stadt Bagdad gelegenen Gegend Senfgas entdeckt worden sein soll zu einem Zeitpunkt, da es nicht existierte. Es ist sehr merkwürdig, man kann sich in einem Bericht dieser Art verlieren und kommt doch gut voran in einer Schlange von Menschen, ohne berührt zu werden. Nach einer Viertelstunde war ich am Ziel angekommen, ein Schalterbeamter, der sich ganz offensichtlich freute, überreichte mir einen winzigen Brief. Der Brief war derart klein, dass er zunächst zwischen der Beere des Zeigefingers und der Daumenspitze des Mannes, die den Brief fixierten, vollständig verschwand. Kurz darauf hob er den Brief mittels einer Pinzette in die Luft, um ihn auf dem Tresen vor mir abzulegen. Der Mann reichte mir eine Lupe, ich solle mich vergewissern, die Briefmarke fehle. Tatsächlich war auf der Anschriftenseite des Kuverts mein vollständiger Name und meine Adresse vermerkt, eine Briefmarke aber war nicht zu entdecken, vermutlich deshalb, weil Briefmarken für Briefe dieser Größe noch nicht ausgeliefert worden sind. Der Beamte sagte, dass es sich bei diesem Brief, um den kleinsten Brief handele, den er je bearbeitet haben würde, ich sollte ihn gut verwahren: 65 Cent. Der Brief liegt jetzt auf meinem Küchentisch. Ich habe ihn noch immer nicht geöffnet. Es ist kurz vor fünf Uhr. Wieder Nebel. — stop
jamaica
echo : 20.26 — Ich will von einem Mann erzählen, der mir in einem Subwaywagon auf der Fahrt von der Lexington Avenue nach Jamaica begegnet war. Er trug, obwohl es im Abteil sehr warm gewesen war, Handschuhe an beiden Händen. Das waren recht merkwürdige Handschuhe, denn die Daumen des Mannes wurden von Schnüren, die an den Fäustlingen befestigt waren, ins Innere der Hand gezogen. Finger umschlossen sie fest, auch sie waren mittels Schnurwerkes gefesselt. Man könnte sagen, dass die Handschuhe, die der Mann trug, seine Hände bändigten, indem sie Fäuste formten. So, gefesselt, saß der Mann während der langen Fahrt vor mir und nickte. Er betrachtete seine Hände, wie mir schien, mit zärtlicher Aufmerksamkeit, in der Art und Weise der Liebenden vielleicht, wenn ein Blick nachts heimlich einen schlafenden Mund umschmeichelt. Ich versuchte zu arbeiten, konnte mich aber nicht konzentrieren. Nach einiger Zeit fragte ich den Mann, ob er denn etwas in Händen hielte, etwas, das vielleicht flüchten könnte, wenn er seine Hände öffnete. Das schien nicht der Fall zu sein, weil der Mann seinen Kopf schüttelte und lachte, ohne indessen mit mir ein Gespräch aufnehmen zu wollen. Ich wartete also einige Zeit, sah aus dem Fenster, späte Flugzeuge, eine Kette von Lichtern, näherte sich dem Flughafen. Und da war mein müdes Gesicht im Spiegel der Scheibe. Und dann wieder der Mann und seine Hände, die auf seinen Schenkeln lagen. Sie drücken die Daumen, sagte ich, ist das möglich? Der Mann lachte jetzt. Er schien zu überlegen, dann antwortete er mit leiser Stimme, die in dem scheppernden Lärm des Subwaywagons kaum noch zu hören war, dass ein Problem sei, dass er nicht wisse, wie er seine Fäustlinge für das Wünschen bei Nacht, ohne die Hilfe eines weiteren Menschen anlegen könnte. Der linke der Handschuhe war im Übrigen von gelber, der rechte von blauer Farbe. — stop