Aus der Wörtersammlung: straßenbahn

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traumgeschichte

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fox­trott : 22.02 UTC — In der ver­gan­ge­nen Nacht träum­te ich von einem selt­sa­men Kind, das war näm­lich so im Traum, dass das Gehirn des Kin­des zu wach­sen schien, das Gehirn war in den Ohr­mu­scheln sicht­bar gewor­den, von einem dün­nen Häut­chen geschützt, das bei­na­he durch­sich­tig gewe­sen war. Es kit­zelt in mei­nen Ohren, sag­te das Kind. Wir sas­sen in einer Stra­ßen­bahn. Ich erwach­te. Es war ziem­lich heiss am Mor­gen als ich erwach­te. — stop

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früher morgen

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lima : 7.30 UTC — Vor eini­ger Zeit ein­mal wach­te ich auf und dach­te: Heu­te wirst Du einen Text notie­ren, der rei­nen Unsinn erzählt. Ich trank einen Kaf­fee, ass einen Apfel, öff­ne­te das Fens­ter und schau­te auf die Stra­ße hin­un­ter. Dort beweg­ten sich Men­schen. Ich beob­ach­te wie sie aus Stra­ßen­bah­nen stie­gen, wie sie die Stra­ße über­quer­ten, man­che rauch­ten noch schnell eine Ziga­ret­te, ande­re tele­fo­nier­ten, man­che durch­such­ten ihre Taschen oder schau­ten in die Bäu­me, alle aber beweg­ten sich fast senk­recht vor­wärts. Als ich ihnen so zuschau­te, ahn­te ich, dass es nicht ein­fach sein wür­de, einen Text zu schrei­ben, der rei­nen Unsinn erzählt. — stop

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von makis

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echo : 3.08 UTC — Ges­tern Abend habe ich ver­sucht, mei­ne Gedan­ken zu beob­ach­ten. Eigent­lich woll­te ich eine Lis­te mei­ner abend­li­chen Gedan­ken ver­fer­ti­gen, Gedan­ken in der Stra­ßen­bahn, Gedan­ken vor einer Super­markt­kas­se war­tend, Gedan­ken in der Beob­ach­tung eines Fern­seh­bild­schir­mes. Ich war sehr müde gewe­sen, hat­te lang gear­bei­tet, war, sagen wir, lang­sam mit dem Kopf, des­halb nicht aus­rei­chend schnell, um sagen zu kön­nen, das war nun ein Gedan­ke, der gera­de eben abge­schlos­sen wur­de, nun beginnt gera­de eine wei­te­rer Gedan­ke, die­ser Gedan­ke No 18 ( Herz­lich Will­kom­men! ) beschäf­tigt sich mit der zen­tra­len Fra­ge wovon Kobold­ma­kis sich eigent­lich ernäh­ren? Ich habe bemerkt, dass es mög­lich zu sein scheint, einen Gedan­ken fest­zu­hal­ten, um den Gedan­ken zu ver­grö­ßern, ihn also schwe­rer ( Gra­vi­ta­ti­on ) zu machen, sagen wir, den Gedan­ken mit Zeit­räu­men rück­wärts ( erin­nernd ) oder vor­wärts ( spe­ku­lie­rend ) zu ver­se­hen. Je län­ger ich an einem Gedan­ken­kno­ten fest­hal­te, des­to schläf­ri­ger wer­de ich. Ein Gedan­ke kann sich in ein Bild ver­wan­deln. Wenn ich in Gedan­ken die Augen eines Kobold­ma­kis zur Auf­füh­rung brin­ge, schla­fe ich ein. — stop
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schokolade

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char­lie : 3.05 — In der Stra­ßen­bahn berich­te­te ein älte­rer Herr, er erin­ne­re sich immer wie­der ein­mal zur Weih­nachts­zeit an das Wort Pan­zer­scho­ko­la­de. Das sei Scho­ko­la­de gewe­sen, die für kämp­fen­de Sol­da­ten mit der angst­lö­sen­den Sub­stanz Per­vi­tin ver­setzt wor­den sein soll. Er kön­ne nicht mit Sicher­heit sagen, ob er als Kind jemals einen Niko­laus von Scho­ko­la­de geschenkt bekom­men habe, ihre Gestalt jedoch, ihre roten, blau­en und gol­den glän­zen­den Metall­män­tel unse­rer Tage rufen unaus­weich­lich das Wort Pan­zer­scho­ko­la­de in ihm her­vor. Ob ich wüss­te, frag­te er, dass Per­vi­tin Crys­tal Meth ähn­lich sei, dass man Pan­zer­scho­ko­la­de damals an Kios­ken ver­kauf­te, an Zivi­lis­ten, eine unglaub­li­che Sache. — Mit­ter­nacht. Noch zu tun: Ein authen­ti­sches Wort für Puls­ge­räu­sche der Koli­bris erfin­den. — stop

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alisa

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fox­trott : 3.02  — Ali­sa, wie sie vor Jah­ren in Holz­schu­hen durch das Trep­pen­haus hüpft, wie sie Rosen­blü­ten in mei­nen Brief­kas­ten wirft, wenn schon nicht tele­fo­nie­ren, dann eben so. Ihre Wild­heit. Ihre Lust auf Foto­ap­pa­ra­te. Ihr blau­es Auge, weil sie eine Foto­gra­fie zu Hau­se zeig­te, die ich ahnungs­los auf­ge­nom­men hat­te, Ali­sa, die Kas­ta­ni­en sam­melt an einer nahen Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le, nie wie­der Rosen­blü­ten. Wie wir uns ein­mal auf die Suche machen, Ali­sas ver­zwei­fel­te Mut­ter, mit Kopf­tuch, und ich, ohne Kopf­tuch. Sie kann nicht mit dem Mund zu mir spre­chen, es feh­len die Wör­ter, also spricht sie mit den Augen. Mit ange­win­kel­ten Bei­nen sitzt Ali­sa in einer Turn­hal­le und sieht rie­si­gen Män­nern zu, die Bas­ket­ball spie­len. Sie hat die Zeit ver­ges­sen, wie alle Kin­der die Zeit ver­ges­sen. Da ist grad noch ein Bild in mei­nem Kopf, ein tod­mü­der marok­ka­ni­scher Mann, Ali­sas Vater, mit sei­nem her­un­ter­ge­kom­me­nen roten Auto, wie er an einem spä­ten Frei­tag­abend gebückt und stau­big die Stra­ße über­quert. Plötz­lich waren sie nicht mehr da, Ali­sa, ihre Mut­ter, der Vater, das rote Auto. — stop

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morgens

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oli­mam­bo : 0.15 — Ein­mal sit­ze ich  in einer Stra­ßen­bahn. Plötz­lich fällt ein Gedan­ke vom Him­mel. Ich könn­te, dach­te ich, Gesprä­che insze­nie­ren, Sät­ze wie Lebe­we­sen für sich, Sät­ze, die vor den Men­schen gewe­sen sind. Not­wen­di­ge Sät­ze oder natür­li­che Sät­ze. — Ich notier­te die­sen Text vor ein oder zwei Jah­ren.  Er berührt mich, aber ich kann nicht erin­nern, was ich unter Sät­zen, die vor den Men­schen gewe­sen sind, ver­stan­den haben könn­te. — stop

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lydia

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echo : 0.01 — In der Stra­ßen­bahn tref­fe ich eine jun­ge Dame. Ich erken­ne sie zunächst nicht, aber als sie mich grüßt, erin­ne­re ich eine Begeg­nung vor vie­len Jah­ren an der sel­ben Stel­le, in einer Stra­ßen­bahn. Aus dem klei­nen Mäd­chen, das mich mit einer Bemer­kung für den Rest mei­nes Lebens rühr­te, ist tat­säch­lich eine jun­ge Frau gewor­den. Sie sagt, sie habe unser Gespräch, das wir führ­ten, nie ver­ges­sen, es han­del­te von ihren Ohren, von einem Gedan­ken, der mir zu erklä­ren such­te, wes­we­gen ihre Ohren etwas grö­ßer sei­en als die Ohren ihrer bes­ten Freun­din. Das wäre näm­lich so, dass ihre Ohren des­halb grö­ßer sei­en, weil sie viel weni­ger spre­chen wür­de als ihre Freun­din übli­cher­weise. Sie könn­te, sag­te sie damals, mit ihren Ohren sogar ihre eige­ne Stim­me hören, obwohl sie gar nichts sage. Zum Glück haben mei­ne Ohren inzwi­schen auf­ge­hört zu wach­sen, ich könn­te sonst mit ihnen her­um­flie­gen, dann hät­ten Sie mich ver­mut­lich nie wie­der­ge­se­hen. Sie lacht jetzt sehr fröh­lich. Drau­ßen fällt gera­de viel Was­ser vom Him­mel. — stop

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minutenzeitung

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hima­la­ya : 5.16 — Ges­tern erzähl­te Mut­ter, nein, nein, sie lese kei­nes­wegs lang­sa­mer durch ihre mor­gend­li­che Zei­tung als frü­her noch, viel­mehr sei­en die Zei­tun­gen selbst schwe­rer, das heisst, umfang­rei­cher oder dicker gewor­den. Das kön­ne nie­mand mehr lesen, jeden Tag eine neue dicke Zei­tung. Ich dach­te, man müss­te ein­mal die Zeit anhal­ten, sagen wir für zwei oder drei Mona­te. Alles wür­de zit­ternd still ste­hen auf unse­rer Erd­ku­gel, allein Jour­na­lis­tin­nen und Jour­na­lis­ten wären noch beweg­lich. Sie rei­sen nun her­um, betrach­te­ten fünf Minu­ten Zeit welt­weit, die sich über­all solan­ge wie­der­holt, bis sie von Spra­che und Foto­gra­fie erfasst sein wird. In einem Flücht­lings­la­ger hält eine Groß­mutter ein gera­de gebo­re­nes Kind aus einem Zelt her­aus, der Vater kippt etwas Regen­was­ser über den klei­nen rosa­far­be­nen Leib, und schon sind fünf Minu­ten Zeit ver­gan­gen und das Kind wie­der in den Leib der Mut­ter zurück­ge­kehrt. Als das Kind unver­züg­lich erneut gebo­ren wird, sind drei wei­te­re Foto­gra­fen vor das Zelt getre­ten, um das Kind zu foto­gra­fie­ren, wie es von sei­nem Vater gewa­schen wird. In Oslo sto­ßen zwei Stra­ßen­bah­nen solan­ge gegen­ein­an­der bis end­lich über sie berich­tet wird. Auf Neu­see­land, nahe Parapa­ra, fällt ein Kind von einem Baum, minu­ten­wei­se klet­tert es wie­der hin­auf und fällt wie­der zu Boden, ehe ein Repor­ter vor­über­kom­men wird, um viel­leicht gera­de noch recht­zei­tig das Kind auf­zu­fan­gen. Auch die alte Mar­tha will bemerkt wer­den, sie hat wie­der ein­mal ein paar Match­box­au­tos ver­schluckt in Lon­don im Kauf­haus bei Har­rods. Eine umfang­rei­che Zei­tung könn­te ent­ste­hen, eine Welt­zei­tung von 5 Minu­ten Zeit, die von zehn­tau­sen­den Jour­na­lis­ten notiert wur­de, die wie Wan­der­amei­sen Blät­ter, Wör­ter, Gedan­ken, Foto­gra­fien sam­mel­ten, um zu erzäh­len was der Fall ist. – Fünf Uhr sech­zehn in Ido­me­ni, Grie­chen­land. – stop
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2 minuten

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alpha : 5.25 – Eine Freun­din, B., erzähl­te, sie sei kürz­lich in einer Stra­ßen­bahn gefah­ren, da habe ein Mann in ihrer Nähe Platz genom­men. Sie habe gera­de gele­sen, als sich der Mann fast laut­los setz­te, sie habe kurz ein wenig den Blick geho­ben und auf dem Unter­arm des Man­nes die Zei­chen ISLAM ent­deckt, die­se Zei­chen sei­en dort ein­tä­to­wiert gewe­sen, eine Haut­be­schrif­tung wie für die Ewig­keit eines gan­zen Lebens. Sie habe dann erst ein­mal ihre Lek­tü­re fort­ge­setzt, aber sie habe sich nicht län­ger auf ihr Buch kon­zen­trie­ren kön­nen, dar­um habe sie den Blick geho­ben. Ihr Blick sei über die Inschrift ISLAM, sie war tat­säch­lich noch immer dort gewe­sen, hin­weg­ge­huscht zum Gesicht des Man­nes hin, das ein jun­ges Gesicht gewe­sen sei. Der Mann habe sie äußerst bedroh­lich, also aggres­siv oder so ähn­lich, betrach­tet, ein Blick unent­wegt, ein Blick ohne einen Lid­schlag, da habe sie sich gefürch­tet, habe ihren eige­nen Blick wie­der gesenkt und das Buch ange­se­hen, aber natür­lich nicht gele­sen son­dern nach­ge­dacht. Ja, was sie gedacht habe sei nicht gera­de ange­nehm gewe­sen, sie habe sich über­legt, ob der Mann, der ihr gegen­über saß, viel­leicht eine Waf­fe, gar einen Spreng­stoff­gür­tel tra­gen könn­te. Ihr sei auch in den Sinn gekom­men, dass sehr vie­le Men­schen in der Stra­ßen­bahn gefah­ren sei­en, was eigent­lich ein gutes Zei­chen gewe­sen sei, weil man ihr hät­te hel­fen kön­nen, einer gegen vie­le, aber dann habe sie dar­an gedacht, dass gera­de dort, wo vie­le Men­schen sich befin­den, Bom­ben explo­die­ren, weil man in die­ser Wei­se vie­le Men­schen auf ein­mal umbrin­gen kön­ne, und sie habe den Ein­druck gehabt, dass sie sofort auf­ste­hen und aus­stei­gen soll­te. Aber dann habe sie sich gesagt, dass sie das jetzt aus­hal­ten müs­se, und des­halb sei sie sit­zen­ge­blie­ben, und das alles in ein oder zwei Minu­ten. — stop

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