sierra : 19.12 UTC — Am Nachmittag beobachtete ich, wie meine Schreibmaschine eine Speicherung ihres Gedächtnisses vollzieht, ein leises Knistern ist zu hören aus dem Kästchen, in das notiert wird, was ich später zur Verfügung haben werde, wenn ich zu wissen wünsche, wie es heute gewesen ist, um kurz nach 15 Uhr an diesem 8. September 2024. Es ist noch warm und feucht. In der Nacht wurde Kyjiw von Drohnen attackiert, Charkiw und Odessa. Müde Menschen notieren auf der Position Facebook von Schlaflosigkeit. Auch schlaflose, müde Menschen in Gaza, in Haifa. Gegen 18 Uhr erneute Beobachtung meiner Schreibmaschine. Das Programm Time Maschine meldet 181 Tsd. Änderungen des Systems seit letzter Ausführung zwei Stunden zuvor. Wieder leises Knistern und Schnurren in nächster Nähe, zarte Töne. Seltsame Sache. — stop
Aus der Wörtersammlung: sirenen
murmansk
delta : 0.28 UTC — Regen fällt. Nach Mitternacht sind Sirenen zu hören im Zimmer 305 eines Hotels an der Rue de Javel im 15. Arrondissement der Stadt Paris. Eine Frau, sie vielleicht 60 Jahre alt, sitzt auf dem Sofa, Blick zum Fenster. Sie hört diesem gnädigen Regen zu und jenem Sirenenton, den ihr Telefon spielt, ein Ton, den sie so gut kennt. Sie schließt das Fenster, geht ein oder zwei Schritte vor dem Bett auf und ab. Der hölzerne Boden knarzt. Sie nimmt ihr Handtelefon vom Tisch, wählt und spricht sofort los: Hier ist Mama! Seid ihr schon im Flur? Sind alle da, habt ihr Strom? Wasser? Und die Katzen? — Die Frau spricht mit ruhiger, fester Stimme, als würde sie eine Liste verlesen. Auf jede der Fragen antwortet ihre Tochter mit ebenso ruhiger Stimme: Ja, alle sind da. Anna ist da. Artem ist da. Viktorija ist da. Alle sind im Flur, ja, die Türen sind geschlossen, ja, wir haben zwei Powerbanks, Wasser, Licht. Liebe Mutter, sagt die Tochter, wenn das Telefon ausfällt, reg Dich nicht auf, ich ruf Dich wieder an. — Am Nachmittag bereits waren strategische Bomber in der Ferne gestartet, tief im russischen Hinterland, von Murmansk aus, um die Menschen der Stadt Kyjiw zu bombardieren. In dieser Stunde, es regnet in Paris, sind ihre Geschosse angekommen, schrittweise in Wellen. Eine lange, sorgenvolle Nacht. Die Mutter, die in Paris auf ihrem Bett sitzt, wird ihr Telefon nicht aus der Hand legen. Vielleicht wird sie gegen den Morgen zu eingeschlafen sein von der Müdigkeit der Jahre. Es regnet, die Vögel werden nass. Noch immer ist kurz nach Mitternacht. — stop
maidan 23 uhr 15 MEZ
ginkgo : 23.30 UTC — Der Platz in orangefarbenem Licht. Eine Filmaufnahme von einer Webkamera aus. Von dort Stille, Stille, die keine wirkliche Stille ist, rauschende Stille, das Geräusch des Mikrofons selbst vermutlich, welches sich bemüht etwas jenseits der Stille da draußen einzufangen. Hin und wieder, selten, das Fauchen eines Automobiles, auch vielleicht Luftsummen von Ventilatoren. Dann plötzlich Sirenen, unheimlich, laut, Sirenengeheul, das ich von Kindheit her kenne. Als noch Tageslicht, waren Panzersperren zu sehen in Richtung umgebender Straßen. Um Mitternacht beginnt es leicht zu schneien. Kein Mensch, wirklich kein Mensch. In dieser Nacht leuchten die Ampeln des Platzes rot, vor Tagen waren sie noch grün und blieben grün. Vereinzelt Leuchtreklamen. Ein Auto für eine Minute, groß wie ein Fiat 500, ein ziviles Fahrzeug, vielleicht eine Patrouille. Unter einer Arkade blinkt langsam ein Licht: Singing Mountains — Vorübergehend geschlossen. Die Stadt scheint hell beleuchtet zu sein, vielleicht um Angreifer zu erfassen, die in Gruppen vom Himmel fallen könnten. — stop
ein alter mann
sierra : 4.03 — Auf dem Meer. Es ist Nacht, kaum Licht. Die Luft, feucht und warm, ich bin nicht im Wasser, könnte sein, dass ich fliege, ein Brummen oder Summen ist zu hören. Bienen sind in der Luft, umkreisen ein Schiff, tausende Fingerluken im Rumpf, dort fliegen Bienenwesen ein und aus. Manche kommen aus der Dunkelheit heran, andere fliegen in die Dunkelheit davon. Ihre Köpfe leuchten, sie scheinen über Lampen zu verfügen, Finger von Licht, die durch die Dunkelheit zittern. Was da summt, Propeller vielleicht. Ich mag nicht schwimmen, denke immer wieder, ich will nicht ins Wasser fallen. Dann bin ich plötzlich in einer Wohnung im 12. oder 14. Stock eines Hauses nahe Central Park, auch hier Propellerbienen. Ich stehe nahe einem Fenster, lehne an einer Wand. Ich glaube, ich selbst habe das Fenster geöffnet. Im Zimmer lungern Stühle herum, auf dem hölzernen Boden eine Linie von blauer Farbe, sie kommt aus einem weiteren Zimmer, führt durch das Zimmer, in dem ich warte, in ein anderes Zimmer. Atemgeräusche. Ein alter Mann, weiße Haut, kommt heran, läuft auf der blauen Linie, er ist unbekleidet, trägt nur ein Paar Turnschuhe. Der Mann herrscht mich an, ich solle das Fenster schließen. Auch um seinen Kopf herum Bienen, ein Schwarm, sie wollen auf ihm landen, dann lange Zeit Ruhe, Sirenenlaute, dann wieder das Geräusch des Atems, das näher kommt. Aufgewacht bin ich gegen zwei. — stop
rom : umberto ecco
alpha : 22.57 — Der Mann hinter dem Tresen ist ein freundlicher Mann, unrasiert, akkurat gebügeltes weißes Hemd, ein hübsches, junges Gesicht, das an den Wänden auf zahlreichen Fotografien wiederzufinden ist, vermutlich deshalb, weil man sich mit ihm zeigen wollte, abgelichtet sein, sagen wir, berühmte Menschen und einfache Menschen, die ich nicht auseinanderhalten kann, weil ich die berühmten Menschen der Stadt Rom nicht kenne. Sie lächeln an der Seite des jungen Mannes stehend, manche scheinen vielleicht betrunken zu sein. Aber einen der fotografierten Männer habe ich schon einmal gesehen, es handelt sich bei diesem Herrn um Umberto Eco. Der Schriftsteller zeigt seine Zähne, er lacht in die Kamera. Umberto Eco scheint an diesem Abend, der einem Stempelaufdruck zufolge drei Jahre zurückliegt, hervorragend gelaunt gewesen zu sein. Vielleicht hatte er gerade einen dieser herrlichen Espressos getrunken, wie ich an diesem Morgen. Es war vermutlich Winter gewesen, Umberto Ecco trägt einen Hut und einen Mantel mit einem Pelzkragen. Oder es war Sommer und Umberto Ecco hatte sich in der Jahreszeit vertan. Wieder ist es sehr warm heute. Eine Ambulanz rast an der weit geöffneten Tür des Cafés vorbei, man kann das Geräusch der Sirenen der Not den ganzen Tag über vernehmen. Aber nachts ist es still in dieser Stadt, Rom ist eine Stadt, die schläft wie die Menschen, die sie bewohnen. Es riecht nach warmem Schinken in diesem Moment. Auf dem Bildschirm meines Fotoapparates sind Säulen zu sehen und Durchleuchtungsmaschinen und Hunderte leere Plastikflaschen, Substanzen, die man nicht mit in die große, kalte Kirche am Petersplatz nehmen darf, sie könnten explodieren. Ich hebe den Fotoapparat leicht an und fotografiere Umberto Eco, sodass er jetzt zweifach im Pelzkragen existiert. Wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, das Pantheon zu besuchen, ich würde gern warten, Tage, Wochen, um nachzusehen, ob Umberto Eco zurückkommen wird. Ich habe bemerkt, dass meine Ohren knistern, wenn ich Kaffee trinke in Rom. — stop
ein inspektor der stille
sierra : 16.05 — Seit einigen Tagen spaziert ein drahtiger Herr von kleiner Gestalt in meinem Kopf herum. Er ist so deutlich zu sehen, dass ich meinen könnte, ich würde ihn einmal persönlich gesehen haben, eine Figur, die durch die Stadt New York irrt auf der Suche nach Lärmquellen, die so beschaffen sind, dass man ihnen mit professionellen Mitteln zu Leibe rücken könnte, Hupen, zum Beispiel, oder Pfeifgeräusche jeder Art, Klappern, Kreischen, verzerrte Radiostimmen, Sirenen, alle diese verrückten Töne, die nicht eigentlich begründet sind, weil sie ihre Ursprünge, ihre Notwendigkeit vielleicht längst verloren haben im Laufe der Zeit, der Jahre, der Jahrzehnte. Ich erinnere mich in diesem Moment, da ich von meiner Vorstellung erzähle, an einen schrillen Ton in der Subway Station Lexington Avenue / 63. Straße nahe der Zugangsschleusen. Dieser Ton war ein irritierendes Ereignis der Luft. Ich hatte bald herausgefunden, woher das Geräusch genau kam, nämlich von einer Klingel mechanischer Art, die über dem Häuschen der Stationsvorsteherin befestigt war. Diese Klingel schien dort schon lange Zeit installiert zu sein, Kabel, von grünem Stoff ummantelt, die zu ihr führten, waren von einer Schicht öligen Staubes bedeckt. Äußerst seltsam an jenem Morgen war gewesen, dass ich der einzige Mensch zu sein schien, der sich für das Geräusch interessierte, weder die Zugreisenden, noch die Tauben, die auf dem Bahnsteig lungerten, wurden von dem Geräusch der Klingel berührt. Auch die Stationsvorsteherin war nicht im mindesten an dem schrillenden Geräusch interessiert, das in unregelmäßigen Abständen ertönte. Ich konnte keinen Grund, auch keinen Code in ihm erkennen, das Geräusch war da, es war ein Geräusch für sich, ein Geräusch wie ein Lebewesen, dessen Existenz nicht angetastet werden sollte. Wenn da nun nicht jener Herr gewesen wäre, der sich der Klingel näherte. Er stand ganz still, notierte in sein Notizheft, telefonierte, dann wartete er. Kaum eine Viertelstunde verging, als einem U‑Bahnwaggon der Linie 5 zwei junge Männer entstiegen. Sie waren in Overalls von gelber Farbe gehüllt. Unverzüglich näherten sie sich der Klingel. Der eine Mann faltete seine Hände im Schoss, der andere stieg auf zur Klingel und durchtrennte mit einem mutigen Schnitt die Leitung, etwas Ölstaub rieselte zu Boden, und diese Stille, ein Faden von Stille. — stop
manhattan : atome
tango : 1.56 — Ich hatte in einem Café nahe Times Square ein elektronisches Tonbandgerät aus der Manteltasche gezogen und richtete es auf ein Fenster, um den Tumult menschlicher Stimmen, Sirenen, Luftpumpen und weiterer unbestimmbarer Geräusche aufzunehmen. Ein junger Mann, der neben mir vor seinem Notebook saß, beobachtete mich eine Weile aufmerksam. Plötzlich lacht er: Das ist New York. Verrückt, nicht wahr? Ob ich in dieser Stadt öffentlich zugängliche Orte von Stille finden könnte, wollte ich wissen. Gibt es nicht, antwortete der Mann. Es würden jedoch Orte existieren, die beinahe still sind. Dort aber hörst Du Geister! — Sonntag. Minus 5° Celsius. Lässt sich vielleicht errechnen, aus wie vielen Atomen die Stadt New York sich fügt? Wie viele Atome werden die Stadt täglich verlassen, wie viele Atome einreisen in unsere Rechnung? Subway 28. Straße wartete ein Mann kurz nach Mitternacht mit Angelrute in hüfthohen Fischerstiefeln auf dem Bahnsteig. — stop