delta : 0.28 UTC — Regen fällt. Nach Mitternacht sind Sirenen zu hören im Zimmer 305 eines Hotels an der Rue de Javel im 15. Arrondissement der Stadt Paris. Eine Frau, sie vielleicht 60 Jahre alt, sitzt auf dem Sofa, Blick zum Fenster. Sie hört diesem gnädigen Regen zu und jenem Sirenenton, den ihr Telefon spielt, ein Ton, den sie so gut kennt. Sie schließt das Fenster, geht ein oder zwei Schritte vor dem Bett auf und ab. Der hölzerne Boden knarzt. Sie nimmt ihr Handtelefon vom Tisch, wählt und spricht sofort los: Hier ist Mama! Seid ihr schon im Flur? Sind alle da, habt ihr Strom? Wasser? Und die Katzen? — Die Frau spricht mit ruhiger, fester Stimme, als würde sie eine Liste verlesen. Auf jede der Fragen antwortet ihre Tochter mit ebenso ruhiger Stimme: Ja, alle sind da. Anna ist da. Artem ist da. Viktorija ist da. Alle sind im Flur, ja, die Türen sind geschlossen, ja, wir haben zwei Powerbanks, Wasser, Licht. Liebe Mutter, sagt die Tochter, wenn das Telefon ausfällt, reg Dich nicht auf, ich ruf Dich wieder an. — Am Nachmittag bereits waren strategische Bomber in der Ferne gestartet, tief im russischen Hinterland, von Murmansk aus, um die Menschen der Stadt Kyjiw zu bombardieren. In dieser Stunde, es regnet in Paris, sind ihre Geschosse angekommen, schrittweise in Wellen. Eine lange, sorgenvolle Nacht. Die Mutter, die in Paris auf ihrem Bett sitzt, wird ihr Telefon nicht aus der Hand legen. Vielleicht wird sie gegen den Morgen zu eingeschlafen sein von der Müdigkeit der Jahre. Es regnet, die Vögel werden nass. Noch immer ist kurz nach Mitternacht. — stop
Aus der Wörtersammlung: anna
gespensterwesen
romeo : 22.07 UTC — Wieder die Frage weshalb ich die Bewegung meines Herzens in der Brust nicht zu spüren vermag? — Umgebende Wörter: Sinusknoten Lagerbewegung Thalamus. Herzflimmern. Rasender Stillstand. ~ Ein Gespensterwesen, Russland, meiner Kindheit ist zurückgekehrt. Gedanken, wie zur Beruhigung, an Lew Sinowjewitsch Kopelew, Jelena Georgijewna Bonner, Andrei Dmitrijewitsch Sacharow, Anna Stepanowa Politkowskaja, Dmitri Muratow, Ljudmila Ulitzkaja. — stop
lupenbuch
nordpol : 15.12 UTC — Eine Methode existiert, die ich als positiven Blick bezeichnen möchte, ein Fernrohrblick in Richtung Glücks. Das Buch der Lupen. Oder Reiseziele: Quito . Lissabon . Taschkent. Montauk. Turku. Syrakus. Tanger. Buenos Aires. Patagonien. Uummannaq. — stop
eine poststelle
india : 16.10 UTC — Auf der Anschriftseite eines Briefes war ein Text notiert, den ich zunächst nicht entziffern konnte. Ich hatte das Kuvert bei einem Händler entdeckt, dessen Sammlung von Briefkuverts auf einem Tisch unter einem Schirm sorgfältig ausgebreitet worden war. Es waren sehr viele Briefe, der Händler musste früh aufgestanden sein, um rechtzeitig vor Eintreffen der ersten Besucher des Flohmarktes mit seiner Darlegung fertig geworden zu sein. Es regnete. Ich stand unter dem Schirm und betrachtete einen Briefumschlag nach dem anderen Briefumschlag, sie waren zum Schutz in durchsichtige Folien eingeschlagen. Auf jenem Brief, von dem ich hier kurz erzähle, klebten zwei Briefmarken der Färöer-Inseln, sie waren noch gut zu erkennen, zwei Wale schwebten dort. Außerdem waren in einer Sprache, die ich nicht kannte, zahlreiche Zeichen, ein kleiner Text, unter einem Namen angebracht. Der Name lautete: Alma Pipaluk. Ich fragte den Händler, ob er wisse, was dieser kurze Textabschnitt bedeuten würde. Neugierig geworden kaufte ich den Brief, spazierte nach Hause und setzte mich an meine Schreibmaschine, tippte die Zeichen sorgsam in die Eingabemaske eines Übersetzungsprogramms. Die Sprache, die ich notierte, war die dänische Sprache, und bei dem Text, den ich vorgefunden hatte, handelte es sich um eine Anweisung an einen Briefzusteller, der von der Poststelle einer kleinen Siedlung namens Uummannaq aus, den Brief an seine Empfängerin liefern sollte. Der Text lautete in etwa so: Bitte nach Anorlernertooq nördliche Biegung am roten Haus vorbei rechts über den Steg zum gelben Haus an Alma, Pipaluk nicht vor September. Der Brief trug zwei postalische Stempelzeichen, akkurat aufgetragen. Er war geöffnet worden, irgendwann von irgendwem. — stop
nahe uummannaq
marimba : 16.11 UTC — Gestern ist mir etwas Lustiges mit mir selbst passiert. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ein Eisbär vor mir stehen würde. Der vorgestellte Eisbär sollte ein ernst zu nehmender Eisbär sein, ungefähr drei Meter in der Höhe, sofern er sich auf seine Hinterbeine stellt. Ich stand also in meinem Zimmer und überlegte, wie es wäre, wenn ein Eisbär vor mir stehen würde, der gerade noch unter meiner Zimmerdecke Platz finden würde. Plötzlich saß ich auf dem Boden und fand diese Haltung angesichts eines Polarbären in meinem Zimmer sehr angemessen. Kurz darauf wurde ich gefressen. Ich meine mich erinnern zu können, der Bär begann mit der Schulter, meiner rechten. — stop
uummannaq
crea
nordpol : 18.55 UTC — Kühle Luft trifft ein, als sei sie mit dem Zug in einem Koffer nach Venedig gekommen. Langsam wird Abend. Auf den Schiffen fahren leicht bekleidete Menschen ihre Gänsehaut heimwärts. Von der Dampfschiffstation Crea aus führt mich eine Wanderung ohne Stadtplan in Händen, nur mit dem Kopf und nach dem Gefühl gehend, durch das Cannaregio in Richtung Castello. Wie lange Zeit, überlegte ich, werde ich tastend ostwärts durch die Gassen streifen, bis ich mein Ziel, die Dampfschiffstation Giardini, erreicht haben werde? Bald ist es kreisend spät geworden. Auf den Stufen der Chiesa del Santissimo Redentore, die noch warm sind vom Taglicht, flitzen Eidechsen herum. Im Zwielicht werden sie zu unruhigen Schatten, die man mit Farben der Vorstellung füllen könnte, an einem bunten Tag werden sie bunt. Es ist jetzt schon zu dunkel, um noch lesen zu können. Ich sollte mir eine Taschenlampe besorgen oder rein elektrische Texte auf meiner flachen Schreibmaschine lesen. Ob papierene Bücher existieren, die zu leuchten, in der Lage sind? — stop
ai : NIGER
MENSCHEN IN GEFAHR: „Der multinationale Ölkonzern Shell und die Regierung des südnigerianischen Bundesstaates Rivers haben es versäumt, die Bewohner_innen von Ogale, einer Region außerhalb von Port Harcourt, der Hauptstadt von Rivers, regelmäßig mit sicherem Trinkwasser zu versorgen. Die meisten der dort lebenden Menschen müssen entweder Wasser kaufen oder Grundwasser trinken, das laut einer 2011 veröffentlichten Studie der Vereinten Nationen gefährlich verschmutzt ist./ Die Studie des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (United Nations Environment Programme, UNEP) ergab, dass die Bewohner_innen von Ogale Wasser aus Brunnen tranken, das so stark mit dem bekannten Karzinogen Benzol verunreinigt war, dass es den nach internationalen Richtlinien festgelegten Grenzwert um das 900-fache überschritt. Das Wasser zu trinken werde „sicher langfristige gesundheitliche Folgen“ haben. UNEP empfahl der nigerianischen Regierung, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, damit die Menschen in Ogale nicht weiterhin Trinkwasser aus kontaminierten Brunnen trinken müssen, und ihnen eine alternative Quelle für sauberes Wasser zur Verfügung zu stellen. Trotz dieses dringenden Aufrufs gibt es noch immer keinen Zugang zu solch einer Quelle. / Am 1. September 2018 besuchte Amnesty International Ogale und sprach mit Anwohner_innen. Die meisten von ihnen kaufen ihr Wasser für den persönlichen und häuslichen Gebrauch, etwa zum Trinken, Kochen und Waschen, obwohl sie es sich eigentlich nicht leisten können. In einigen Fällen geben Bewohner_innen ein Drittel ihres wöchentlichen Einkommens für Wasser aus, sodass sie manchmal statt drei Mahlzeiten am Tag nur zwei essen können. Diejenigen, die es sich nicht leisten können, Wasser zu kaufen, trinken und nutzen das örtliche Grundwasser – trotz der Warnschilder, die darauf hinweisen, dass das Wasser ihre Gesundheit gefährdet. Manche trinken Wasser aus lokalen Brunnen und Bohrlöchern, auch wenn auf dem Wasser ein öliger Film zu sehen ist. Einige Bewohner_innen bezahlen sogar für das Wasser aus den Bohrlöchern. Andere nutzen Regenwasser, in dem sich schwarze Flöckchen befinden. Die Bewohner_innen haben keine andere Wahl, da sie nicht das nötige Geld aufbringen können, um Wasser von privaten Anbieter_innen zu kaufen und die Regierung bereits seit über einem Jahr kein sauberes Wasser mehr bereitstellt. Zeitgleich mit dem Besuch von Amnesty International in Ogale wurden einige der von der Regierung regulierten Wasserleitungen wieder in Betrieb genommen. Doch die Bewohner_innen berichten, dass die Wasserversorgung lediglich eine Stunde am Morgen oder am Nachmittag funktioniert und die zur Verfügung gestellte Wassermenge nicht ausreicht, um den grundlegenden Wasserbedarf zu decken. Amnesty International hat Grund zu der Annahme, dass auch dieses Wasser nicht den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation für Trinkwasserqualität entspricht.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 3.8.2018 unter > ai : urgent action
s.alvise
nordpol : 15.55 UTC — Heute Morgen ist mir etwas Seltsames mit mir selbst passiert. Ich war nämlich Einkaufen in einem Supermarkt. Eine alte Dame, sehr freundlich, weckte mich, in dem sie mir erklärte, wo genau ich Plastikhandschuhe finden könne, um Apfelsinen oder Melonen in meine Hände nehmen zu dürfen. Ich muss mich schlafend nach Handschuhen erkundigt haben oder aber habe Äpfel und Birnen barhändig berührt. Die alte Dame war sehr fürsorglich und leise, als ob sie seit Jahrhunderten mit schlafenden Menschen im Supermarkt Umgang pflegte. Ich kaufte für zwei Tage Obst, Krabben und Linsen, und auch etwas Wasser und Kaffee, trat dann aus dem Supermarkt hinaus in die warme, helle Sonne, ein Vaporetto fuhr in wenigen Metern Entfernung an mir vorbei, und ich sah sehr deutlich mich selbst an Bord des Schiffchens stehen, wie ich vielleicht gerade die Echolote einer Twitternachricht beobachtete, welche ich eine Stunde zuvor gesendet hatte. Eine Eidechse flitzte über uraltes Pflaster landeinwärts, zwei junge Seemöwen warteten pfeifend auf die Ankunft ihrer Eltern, und das Wasser zu meinen Füßen blinkte, als sendete es Botschaften irgendwohin. Nachmittags dann war ich spazieren im Cannaregio. Ich glaube, ich habe ein Haus entdeckt, das über keinerlei Türen verfügt, oder aber vielleicht über eine Tür auf dem Dach, eine Dachtür. Ob vielleicht in dieser merkwürdigen Stadt Menschen existieren, die zu fliegen, in der Lage sind? — stop
ein koffer
delta : 16.12 UTC — Ich weiß nicht, wohin die Vögel schlafen gehen, stellt Hilde Domin einmal fest. Sie erzählt, wie sie ihrem geliebten Mann begegnete, dass sie wunderbare Gespräche führten, dass sie sicher ein Jahr brauchten, um sich zum ersten Mal zu küssen. Wir waren sehr förmlich. In der 45. Minute des wundervollen Films Ich will Dich — Begegnungen mit Hilde Domin von Anna Ditges will die junge Filmemacherin wissen, ob Hilde Domin’s Ehemann ein guter Liebhaber gewesen sei. Hilde Domin antwortet mit trockener Stimme: Ich hatte keinen anderen. Ich kann das nicht beurteilen. Ich find, ja. Sie macht eine längere Pause. Dann fährt sie fort: Ich habe auch vor ihm niemanden geküsst. Das war damals nicht üblich, dass man so zurückhaltend war wie ich. Meine Freundinnen waren alle anders. Anna Ditges: Er war der einzige Mann, den Du je gekannt hast? Hilde Domin antwortet: Ja! Anna Ditges: Würdest Du sagen, dass Erwin heute immer noch Deine große Liebe ist? — Hilde Domin: Jedenfalls habe ich keine andere. Weißt Du, der lebendige Mensch ist der lebendige Mensch. Und der Mensch, der nur noch in meiner Vorstellung ist, das ist nicht dasselbe. — In diesem Augenblick erinnere ich mich an eine Fotografie, die mich neben meinem sterbenden Vater zeigt. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervor gespäht. Später wurde mir warm, wenn ich das Bild betrachtete. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit fürchtete. Weinen und Lachen falten sich, wie Hände sich falten. Mutter irrte wochenlang zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. Sie geht noch immer, Jahre sind vergangen, so umher. – stop