sierra : 19.12 UTC — Am Nachmittag beobachtete ich, wie meine Schreibmaschine eine Speicherung ihres Gedächtnisses vollzieht, ein leises Knistern ist zu hören aus dem Kästchen, in das notiert wird, was ich später zur Verfügung haben werde, wenn ich zu wissen wünsche, wie es heute gewesen ist, um kurz nach 15 Uhr an diesem 8. September 2024. Es ist noch warm und feucht. In der Nacht wurde Kyjiw von Drohnen attackiert, Charkiw und Odessa. Müde Menschen notieren auf der Position Facebook von Schlaflosigkeit. Auch schlaflose, müde Menschen in Gaza, in Haifa. Gegen 18 Uhr erneute Beobachtung meiner Schreibmaschine. Das Programm Time Maschine meldet 181 Tsd. Änderungen des Systems seit letzter Ausführung zwei Stunden zuvor. Wieder leises Knistern und Schnurren in nächster Nähe, zarte Töne. Seltsame Sache. — stop
Aus der Wörtersammlung: kästchen
katzenauge
marimba : 15.01 UTC – Ich konnte bereits stehen, aber ich sitze lieber, weil ich gerade mit meiner hölzernen Eisenbahn spiele. Mein Vater steht in diesem Augenblick vor mir. Ich erinnere ich an seinen roten Pullover. Er hält ein Kästchen in der Hand, das an einer seiner Seiten funkelt, eine Art farblosen Katzenauges. Ich kenne dieses Kästchen, ich konnte es einmal fangen, als es über mir in der Luft pendelte, da war ich noch so klein gewesen, dass ich das Kästchen in den Mund nehmen wollte. Ich weiß, dass mein Vater sich darauf vorbereitet, mich zu fotografieren, deshalb hält er das Kästchen in der Hand. Ich werde später einmal erfahren, dass mein Vater das Licht misst, wenn er das Kästchen in Händen hält. Er will wissen, wie weit er das Auge des Fotoapparates öffnen muss, um seinen Sohn, der Eisenbahn spielt, aufnehmen zu können. Manchmal sagt Vater: Louis, schau her. — stop
in zeitlupe
nordpol : 15.12 UTC — Einmal beobachtete ich, wie mir ein schwarzes Kästchen gesammelter digitaler Information aus den Händen glitt und zu Boden fiel. Eine Bewegung wie in Zeitlupe, eine Bewegung, ohne die Möglichkeit einzugreifen, da ich mich selbst in dem Fenster meiner Wahrnehmung wie in Zeitlupe bewegte. Ich hob das Kästchen vom Boden auf. Als ich mich mit einem Ohr näherte, hörte ich ein seltsames, leises Ticken. Jene Schreib- und Lesemaschine, die in dem Kästchen geborgen war, war blind geworden. Kurz darauf kaufte ich ein weiteres Kästchen und dachte tagelang darüber nach, wie ich von nun Daten, Spuren, Zeichen, Verzeichnisse meiner Arbeit bewahren könnte. — Zwei Jahre vergehen. ‑Heute wanderte ich einige Stunden durch einen wilden Wald, ohne vermutlich irgendeine digitale Spur zu hinterlassen, nicht 1 Byte. Sehr merkwürdig. Noch zu tun: Lektüre Nicholson Baker Eine Schachtel Streichhölzer. — stop
spulen
foxtrott : 1.15 UTC — Einmal beobachte ich ein Kästchen voller Daten, wie es in Zeitlupe zu Boden fällt. Kurz darauf tickt die Tastmaschine, die im Kästchen steckt, deutlich vernehmbar, als wäre sie eine Uhr. Ich ahne, dass sie blind geworden ist, etwas scheint zerbrochen zu sein. Kurz darauf kaufe ich mir ein weiteres Kästchen. Tagelang denke ich darüber nach, wie ich meine Daten festhalten könnte. Ich bemerke, dass Sicherheit nicht wirklich existiert. Ein anderes Mal stehe ich in der Küche. Ich habe eine Schachtel auf den Tisch gestellt. Ich öffne das Gefäß, entnehme Tonbandspulen, errichte Türme, suche Batterien, die das Abspielgerät bewegen. Es ist dasselbe Gerät, mit dem ich vor zwei Jahren zuletzt arbeitete. Ich setze das Gerät in Bewegung, zunächst Rauschen, dann helle Stimmen, Stimmen wie von Lachgas, immerhin Stimmen, Geräusche, Gedanken, Fragen. Es ist eine große Freude, diese Stimmgeräusche zu vernehmen. Wenn ich winzige Hebel auf der Rückseite des Gerätes bewege, werden die Stimmen noch heller oder sehr dunkel. Plötzlich höre ich meine eigene Stimme. Ich erzählte vom Gedächtnis. — stop
spulen
delta : 8.02 — Ich hatte vor langer Zeit einmal, kurz vor einer Reise nach New York, eine Spule digitaler Speicherscheiben von einem Zimmer in ein anderes Zimmer getragen. Wie ich über eine Türschwelle trat, wurde mir bewusst, dass ich in meinen Händen 500 Filme transportierte oder 750 Stunden Zeit, die vergehen würde, wenn ich jeden dieser Filme einmal betrachten sollte. Ich setzte mich auf mein Sofa und legte eine der Scheiben in meinen Computer. Kaum 2 Minuten waren vergangen, und schon hatte ich 5 Filme, die auf dem Datenträger seit Jahren gespeichert waren, von ihrem ursprünglich Ort in einen Kasten von der Größe einer Zigarrenschachtel transportiert. Mein Computer arbeitete indessen so leise, dass ich mein Ohr an sein Gehäuse legen musste, um gerade noch seinen Atem vernehmen zu können. Zwei Stunden atmete mein Computer, in dem er alle Filme der Spule, Scheibe um Scheibe, in den kleinen Kasten, der neben ihm auf dem Sofa ruhte, transferierte. Dann holte ich eine weitere Spule und setzte meine Arbeit fort, bis auch diese Spule und ihre Filme in das Kästchen übertragen waren, Spule um Spule, eine Nacht entlang. Nun ist das so, drei Jahre sind seither vergangen, dass sich in meinem neuen Filmmagazin ungefähr 5778 Filme befinden, ohne dass das Datenkästchen indessen größer oder schwerer geworden wäre. — stop
san lorenzo de esmeraldas
kilimandscharo : 6.55 — Am Samstag der vergangenen Woche erreichte mich eine Warensendung, die in einem Dorf namens San Lorenzo de Esmeraldas bereits im Juli aufgegeben worden war. Die kleine Ortschaft liegt nahe der Grenze zu Kolumbien im Dschungel unweit der Pazifikküste, lange Nächte, feuchte Luft, kreischende Tamarine. Das Päckchen, ich hatte lange darauf gewartet, enthielt ein Kästchen von Holz in der Größe einer Zigarrenschachtel, das mittels eines blauen Gummiriemens verschlossen wurde. Ich stellte das Kästchen auf meinen Schreibtisch ab, um es vorsichtig zu öffnen. Feiner, heller Sand wurde sichtbar, Sand, so fein wie gemahlener Kampot-Pfeffer. Bald arbeitete ich mich mit einem Pinsel vorsichtig in die Tiefe voran, bis ich auf zwei Körper stieß. Es handelte sich um Käferwesen, die deshalb etwas Besonderes darstellten, weil sie je über zwei Köpfe verfügten und über sechs Fühler, die im Moment meiner Besichtigung nicht im Geringsten auf meine Gegenwart reagierten. Nach einer halben Stunde, ich hatte die Käfer bis dahin liebevoll betrachtet, waren endlich Lebenszeichen zu erkennen, die Fühler der Käfer bewegten sich, und ich hob sie aus ihrem Sandbett und sie schlugen mit den Flügeln, als wollten sie mich begrüßen. Ihre Körper waren weich, sie bebten, und sie verströmten einen feinen Duft, der mich an Mandeln erinnerte. Zur ersten Probe setzte ich einen der Käfer an mein linkes Ohr, und der Käfer drang unverzüglich in mich ein, sehr behutsam, bis ich bemerkte, dass seine Fühler mein Trommelfell betasteten. Kurz darauf weitete sich sein Körper, ich hörte ihn knistern, bis er meinen Gehörgang vollständig füllte. Ein Pochen war zu vernehmen, das mich müde werden ließ. Kaum hatte ich den zweiten Käfer in das andere meiner Ohren gesetzt, schlief ich ein. Zwölf Stunden lang schlief ich tief und fest, meine Stirn ruhte auf dem Schreibtisch. Als ich erwachte, hatten sich beide Käfer wieder in ihr Sandbett zurückgezogen. Es ist jetzt früher Morgen. — stop
seelenkästchen
zoulou : 0.02 — Ich balanciere das Kreuz, das aus Eisen gedreht wurde, im Zug zwischen den Händen. Wunderschöne weiße Berge am Horizont, entlang der Strecke blühen Apfelbäume. Der Mann, der sich das Kreuz ansehen will, ist Künstler. Er arbeitet ausschließlich an Kreuzen. Das Kreuz meines Vaters soll kostbar, soll über 200 Jahre alt sein, wird er bald erzählen, wir haben es in Südtirol auf einem Schuttberg gefunden. In der Halle flackern offene Feuer. Es ist still. Ein paar Fliegen sind im warmen Licht in der Luft zu erkennen und die Hand des Schmiedes, klein und weich. Sie fährt die feinen Schmucklinien des Kreuzes entlang, da und dort fehlen Spitzen. Jede der fehlenden Spitzen wird geschätzt, wie sie wohl ausgesehen haben mag und was sie vielleicht kosten wird. Es ist nicht das Material, sagt der Mann, es ist heutzutage die Zeit, verstehen Sie, die Arbeitszeit. Er öffnet behutsam die Tür eines Gehäuses, das sich im Zentrum des Kreuzes befindet. Jetzt schließt er es wieder, tritt einen Schritt zur Seite und erkundigt sich, ob ich den wisse, dass dieses Gehäuse, ein sogenanntes Seelenkästchen sei, ein Ort, an dem sich die Seele eines verstorbenen Menschen ausruhen könne, bis sie weiter himmelwärts aufsteigen würde. Eine wundervolle Erfindung. Es ist für mich die erste Begegnung mit einer Form, die eine konkrete Vorstellung der Größe einer Menschenseele sofort entstehen lässt. Ich sage zu dem Mann, der dicht neben mir steht, dass sie doch kleine Wesen sind, die Seelen der Menschen. Und dann gehe ich wieder. Es ist schon halber Nachmittag. – stop
spulen
sierra : 15.01 — Ich hatte eine Spule digitaler Speicherscheiben von einem Zimmer in ein anderes Zimmer getragen. Wie ich über eine Türschwelle trete, wurde mir bewusst, dass ich in meinen Händen 500 Filme transportierte oder 750 Stunden Zeit, die vergehen würde, wenn ich jeden dieser Filme einmal betrachten sollte. Ich setzte mich auf mein Sofa und legte eine der Scheiben in meinen Computer. Kaum 2 Minuten waren vergangen, und schon hatte ich 5 Filme, die auf dem Datenträger seit Jahren gespeichert waren, von ihrem ursprünglich Ort in einen Kasten von der Größe einer Zigarrenschachtel transportiert. Mein Computer arbeitete indessen so leise, dass ich mein Ohr an sein Gehäuse legen musste, um gerade noch seinen Atem vernehmen zu können. Zwei Stunden atmete mein Computer, in dem er alle Filme der Spule, Scheibe um Scheibe, in den kleinen Kasten, der neben ihm auf dem Sofa ruhte, transferierte. Dann holte ich eine weitere Spule und setzte meine Arbeit fort, bis auch diese Spule und ihre Filme in das Kästchen übertragen waren, Spule um Spule, eine Nacht entlang. Nun ist das so, dass sich in meinem neuen Filmmagazin ungefähr 3000 Filme befinden, ohne dass das Datenkästchen größer oder schwerer geworden wäre. Ich glaube, ich habe etwas Welt verdichtet, einen Raum gespeicherter Filmbetrachtungszeit verkleinert, eine Möglichkeit der Zeit, die sich selbst nicht verändert haben sollte. — stop