foxtrott : 1.15 UTC — Einmal beobachte ich ein Kästchen voller Daten, wie es in Zeitlupe zu Boden fällt. Kurz darauf tickt die Tastmaschine, die im Kästchen steckt, deutlich vernehmbar, als wäre sie eine Uhr. Ich ahne, dass sie blind geworden ist, irgendetwas scheint zerbrochen zu sein. Kurz darauf kaufe ich mir ein weiteres Kästchen. Tagelang denke ich darüber nach, wie ich meine Daten festhalten könnte. Ich bemerke, dass Sicherheit nicht wirklich existiert. Ein anderes Mal stehe ich in der Küche. Ich habe eine Schachtel auf den Tisch gestellt. Ich öffne das Gefäß, entnehme Tonbandspulen, errichte Türme, suche Batterien, die das Abspielgerät bewegen. Es ist das selbe Gerät, mit dem ich vor zwei Jahren zuletzt arbeitete. Ich setze das Gerät in Bewegung, zunächst Rauschen, dann sehr helle Stimmen, Stimmen wie von Lachgas, immerhin Stimmen, Geräusche, Gedanken, Fragen. Es ist eine große Freunde, diese Stimmgeräusche zu vernehmen. Wenn ich sehr kleine Hebel auf der Rückseite des Gerätes bewege, werden die Stimmen noch heller oder sehr dunkel. Plötzlich höre ich meine eigene Stimme. Ich erzählte vom Gedächtnis. — stop
Aus der Wörtersammlung: spulen
eine geschichte von büchern
nordpol : 4.02 — B. erzählte gestern, warum sie ihren Liebhaber M. nun wirklich zum letzten Mal aus ihrer Wohnung geworfen habe. Sie sei, sagte sie, ihrem jungen Freund noch immer sehr verbunden, aber es sei eben auch so, dass sie gelernt habe, niemals vorhersagen zu können, was M. Verrücktes in der nächsten oder übernächsten Stunde unternehmen würde. Einmal habe er sich auf eine Straße gelegt, um Kindern, die ihn beobachteten, vorzuführen, was geschehen würde, wenn sie bei Rot über die Straße gingen. Er sei dann bald selbst überfahren worden, nur weil die Kinder winkend auf der Straße einem sich nähernden Bus entgegengelaufen seien, war er vermutlich am Leben geblieben. Wiederholt, sieben oder acht Male, sei er außerdem in das Klassenzimmer, in dem B. gerade unterrichtete, eingedrungen, um ihr, mit Rosen bewaffnet, je einen Heiratsantrag zu eröffnen. Einmal, das werde sie niemals vergessen, sei M. während einer Filmvorführung im Metropolis-Kino aufgesprungen und habe darum gebeten, den Film sofort anzuhalten, zurückzuspulen und langsam wieder vorwärts laufen zu lassen, da er etwas Besonderes beobachtet haben wollte, er sei sich aber nicht sicher gewesen, er müsste das überprüfen. Nun also habe sich M. an ihrer, B.’s, Bibliothek vergriffen. Zweitausend Bücher, sorgfältigst sortiert, Philosophie, Kunst, Reise, Dichtung, ein System, in dem sie sofort jedes gesuchte Buch noch im Traum finden konnte. Auch wenn er in guter Absicht gehandelt haben mochte, an einem Vormittag, da sie unterrichtete, habe M. ihre Bibliothek völlig neu organisiert, er habe ihre Bücher sowohl der Größe, als auch der Farbe ihrer Buchrücken nach in die Regal einsortiert, noch schlimmer sei gewesen, dass er sich ihre Empörung nicht erklären konnte. Sie habe ihn in die Arme genommen, und dann habe sie ihn behutsam auf den Gehsteig vor ihr Haus gestellt. — stop
spulen
delta : 8.02 — Ich hatte vor langer Zeit einmal, kurz vor einer Reise nach New York, eine Spule digitaler Speicherscheiben von einem Zimmer in ein anderes Zimmer getragen. Wie ich über eine Türschwelle trat, wurde mir bewusst, dass ich in meinen Händen 500 Filme transportierte oder 750 Stunden Zeit, die vergehen würde, wenn ich jeden dieser Filme einmal betrachten sollte. Ich setzte mich auf mein Sofa und legte eine der Scheiben in meinen Computer. Kaum 2 Minuten waren vergangen, und schon hatte ich 5 Filme, die auf dem Datenträger seit Jahren gespeichert waren, von ihrem ursprünglich Ort in einen Kasten von der Größe einer Zigarrenschachtel transportiert. Mein Computer arbeitete indessen so leise, dass ich mein Ohr an sein Gehäuse legen musste, um gerade noch seinen Atem vernehmen zu können. Zwei Stunden atmete mein Computer, in dem er alle Filme der Spule, Scheibe um Scheibe, in den kleinen Kasten, der neben ihm auf dem Sofa ruhte, transferierte. Dann holte ich eine weitere Spule und setzte meine Arbeit fort, bis auch diese Spule und ihre Filme in das Kästchen übertragen waren, Spule um Spule, eine Nacht entlang. Nun ist das so, drei Jahre sind seither vergangen, dass sich in meinem neuen Filmmagazin ungefähr 5778 Filme befinden, ohne dass das Datenkästchen indessen größer oder schwerer geworden wäre. — stop
ohne radioradar
nordpol : 1.55 — Eine stille Arbeitsnacht. Auf dem Tisch in der hölzernen Küche unterm Dach stapeln sich Tonspulen, die ich nach Zeitpunkt der Aufnahme oder den Namen der Personen, die ich befragte sortierte: Katinka 1 — 3. Vor wenigen Minuten war ich kurz eingeschlafen, ohne vom Stuhl zu fallen. Balance scheint möglich zu sein, oder ich habe nicht sehr tief geschlafen. Als ich erwachte, saß Esmeralda vor mir auf dem Tisch. Sie betrachtete mich. Ihre Fühleraugen bewegten sich äußerst langsam auf und ab. Dann setzte sie sich in Bewegung, wendete sich einer Banane zu, die auf dem Teller lag, dort schien sie bald eingeschlafen zu sein. Ich kann sie derzeit berühren, ihren schimmernden Leib, sie flüchtet nicht, sie ist kühl und sie riecht nach Eisen und Regen und etwas nach Salz. Gestern hatte ich mich wieder einmal gefragt, ob Esmeralda vielleicht in der Lage sei, zu hören. Ich machte mich sofort auf den Weg zum Computer, um nachzuforschen, ob Schnecken über ein Gehör verfügen. Dann klingelte das Telefon, eine Stunde später erinnerte ich mich, dass ich nach den Ohren der Schnecken fragen wollte. Heute aber ist so eine Nacht, da ich nichts wissen will, auch nicht ob Esmeralda hören kann wenn ich pfeife oder spreche. In meiner Nähe, sie schlafen vermutlich gerade, existieren Personen, die nichts ahnen vom Morden in der Ukraine, von Viren, die in Afrika Menschen befallen, von Flüchtlingen, die durch das Singschar — Gebirge irren. Sie lesen keine Zeitung, sie besitzen weder Radio noch Fernsehgerät, aber sie lesen Bücher, die sich immer sehr weit hinter der Jetztzeit bewegen. — stop
heliumzeit
echo : 2.55 — Am Abend besuche ich Louis in seiner Küche unterm Dach, Duft von Zimt und warmem Brot, in einer Lampe sirrt eine Wespe herum. Auf dem Küchentisch stapeln sich Tonbandspulen, 528 kleine Kassetten, die beschriftet sind: No 24 — Café Mozart 8 Mai / Laura — Über Lungenflügel : 1 Stunde 25 Minuten. Oder: No 48 — Botanischer Garten 5. Juni / Sebastian — Herzbetrachtungen : 2 Stunden 3 Minuten. Ich sehe Louis wie er vor dem Tisch sitzt. Er ist alt geworden. Eine Schreibmaschine ruht unweit der Spulen. Es ist eine Hewlett Packard mit einem Bildschirm, sehr große Schriftzeichen, weil Louis nicht mehr gut sieht. Ein Satz ist dort zu lesen: Die Augen gehen auf, aber niemand sieht einen an. Ich höre Stimmen, sehr helle Stimmen. Stimmen in etwa so, wie sie klingen, wenn ein Mensch spricht, der Helium atmet. Louis sagt, das komme davon, dass er seine Tonbandmaschine schneller laufen lasse, beschleunigte Zeit, aus einer Stunde des Sprechens würde eine halbe Stunde, aus einem langen Schweigen ein kürzeres Schweigen. So, sagt Louis, ist das vielleicht zu schaffen in diesem Sommer, wenn ich nicht schlafe bis Ende September. — stop
spulen
sierra : 15.01 — Ich hatte eine Spule digitaler Speicherscheiben von einem Zimmer in ein anderes Zimmer getragen. Wie ich über eine Türschwelle trete, wurde mir bewusst, dass ich in meinen Händen 500 Filme transportierte oder 750 Stunden Zeit, die vergehen würde, wenn ich jeden dieser Filme einmal betrachten sollte. Ich setzte mich auf mein Sofa und legte eine der Scheiben in meinen Computer. Kaum 2 Minuten waren vergangen, und schon hatte ich 5 Filme, die auf dem Datenträger seit Jahren gespeichert waren, von ihrem ursprünglich Ort in einen Kasten von der Größe einer Zigarrenschachtel transportiert. Mein Computer arbeitete indessen so leise, dass ich mein Ohr an sein Gehäuse legen musste, um gerade noch seinen Atem vernehmen zu können. Zwei Stunden atmete mein Computer, in dem er alle Filme der Spule, Scheibe um Scheibe, in den kleinen Kasten, der neben ihm auf dem Sofa ruhte, transferierte. Dann holte ich eine weitere Spule und setzte meine Arbeit fort, bis auch diese Spule und ihre Filme in das Kästchen übertragen waren, Spule um Spule, eine Nacht entlang. Nun ist das so, dass sich in meinem neuen Filmmagazin ungefähr 3000 Filme befinden, ohne dass das Datenkästchen größer oder schwerer geworden wäre. Ich glaube, ich habe etwas Welt verdichtet, einen Raum gespeicherter Filmbetrachtungszeit verkleinert, eine Möglichkeit der Zeit, die sich selbst nicht verändert haben sollte. — stop
PRÄPARIERSAAL : libelle
echo : 6.12 — Ich habe auf einem Fernsehbildschirm Jonathan Franzen beobachtet, wie er in seinem New Yorker Arbeitszimmer sitzend von Apparaturen erzählt, die ihm behilflich sein könnten, den Lärm der Stadt oder des Hauses, in dem er sich befindet, von seinen Ohren zurückzuhalten. Er berichtet das ungefähr so: Ich habe ein Menge Lärmschutzvorrichtungen. Ich schütze mich gegen Lärm mit Schaumgummistöpseln. Sie sind wichtig. / Und darüber hinaus habe ich meine Kopfhörer. Und zudem noch rosa Rauschen auf CD. / Das ist wie weißes Rauschen, aber es ist etwas wärmer im Ton. Es beschränkt sich auf die niedrigen Frequenzen. Es klingt wie eine Raumkapsel in der Atmosphäre mit einem wundervollen Brausen, ein alles umhüllendes Brausen, das plötzlich verschwindet. stop. Weit nach Mitternacht, kühle Luft. stop. Lungere auf dem Sofa herum, höre anatomische Tonbandaufnahmen ab, Wörter, Sätze, Gedanken einer ferneren Zeit, die sofort wieder sehr nahe kommen, vielleicht deshalb, weil sie von typischen Geräuschen jenes Ortes, an dem sie aufgenommen wurden, begleitet sind. Das Rauschen der Stimmen hunderter Menschen. Pinzetten, die gegen Metall klopfen. Eine Lautsprecherdurchsage: Denken Sie bitte daran, der Präpariersaal wird vor dem Testat am kommenden Montag bereits um 7 Uhr geöffnet. Das kleine Wiedergabegerät, das neben mir auf einem Kissen ruht, bewegt sich nicht oder nur so leicht, dass meine Augen diese Bewegung nicht wahrnehmen können. Einmal denke ich an etwas anderes, als das, was zu hören gewesen war, und bemerke in dieser Weise, dass ich, in dem ich an etwas denke, das entfernt ist, meine Ohren auszuschalten vermag. Deshalb musste ich gerade eben das Band zurückspulen und Thomas’ feine Geschichte wiederholen, die von einer Libelle erzählt. Hört zu: Wir hatten einen Mann auf dem Tisch, einen männlichen Körper von sehr dunkler Farbe und von außerordentlicher Größe. Ich glaube, dieser Körper war der größte Körper des Kurses. Ich war erstaunt, weil ich mit einem Präparat, das größer sein würde als ich selbst, nicht gerechnet habe. Nein, einen Hünen hatte ich wirklich nicht erwartet. Sie müssen wissen, ich habe mir sehr bewusst keine genauen Vorstellungen von der Wirklichkeit des Anatomiesaales gemacht. Ich hatte vermutet, dass die Luft kühl sein würde, aber an dem Tag, als wir unsere Arbeit aufnahmen, war es sommerlich warm und ich schwitzte und hatte Mühe, ohne Unterbrechung daran zu denken, mir mit den feuchten Handschuhen nicht ins Gesicht zu fahren. Ich hatte erwartet, dass das Licht im Saal eher gedämpft sein würde, aber es war strahlend hell, ein Licht, das kaum einen Schatten warf. Und ich hatte einen überschaubaren Körper erwartet, einen eher kleinen Körper, den Körper eines uralten Menschen. Ich habe mit alternden Menschen immer Gestalten in Verbindung gebracht, die zerbrechlich sind, Körper, die kleiner werden, die sich zurückziehen, die man stützen muss, führen, die noch im Leben durchlässig werden für das Licht. Dort vor mir auf dem Tisch aber lag ein Mann, der geradezu strotzte vor Kraft. Er war nicht fett, sondern muskulös, und am Bauch und an der Brust, an Armen und Beinen sehr stark behaart gewesen. Ich werde diesen Anblick mein Leben lang nicht vergessen. Ich habe den Mann sehr lange Zeit betrachtet. Dieses geschwollene Gesicht war das Gesicht eines schlafenden Boxers. Seine Augen waren geschlossen, die Hände zu Fäusten geballt und seine Füße sahen ganz so aus, als hätte er sie schon vor sehr langer Zeit vergessen. Ich habe ihn mehrfach umkreist, und dann haben wir ihn gemeinsam auf dem Tisch herumgedreht. Sehr fest mussten wir zugreifen. Ich sage Ihnen, das ist nicht leicht, am ersten Tag in diesem Saal so fest zuzufassen. Man ist ja sehr vorsichtig und man ist dankbar für dieses Geschenk, das ein Mensch für uns zurückgelassen hat. Und als wir ihn dann herumgedreht hatten, konnten wir eine Libelle erkennen. Sie war links oben auf seinem Rücken eintätowiert, regio scapularis, Sie verstehen? Ein erstaunlich präzise gezeichnetes Bild, nicht sehr groß, vielleicht gerade so groß wie ein Mittelfinger des Mannes und in blauen und roten und grünen Farbtönen ausgeführt. In diesem Moment hatte ich eine Vorstellung, die in das Leben des Mannes auf dem Tisch zurückführte. Ich habe mir vorgestellt, wie er als junger Mann in einer Badeanstalt mit den Muskeln spielte, wie er seinen Insektenvogel in Bewegung setzte, um einer Frau zu gefallen vielleicht. Aber da war noch etwas anderes, da war die Frage, was wir sehen würden, sobald wir die Haut unter der Libelle so weit gelöst hätten, dass ein Blick auf ihre Rückseite möglich werden würde.
jonglieren
charlie : 3.05 — Das Wort weicht nicht vor dem Wort, sondern vor dem Text zurück. — Eine merkwürdige Erfahrung. — Ich nehme das Wort REGENKÄFER aus einem Text heraus, lege es auf ein Blatt Papier und suche weitere Wörter. Solange Zeit suche ich, bis das WORT zufrieden geworden ist. Dann mache ich eine Pause, beobachte einen Film, der vom Viktoriasee erzählt, schlafe ein, wache auf, gehe zum Schreibtisch zurück und nehme das Wort ERINNERUNG aus einem Text heraus, lege es auf ein Blatt Papier und suche solange Zeit weitere Wörter bis das WORT zufrieden geworden ist. — Ich notiere: Zwei Uhr und achtzehn Minuten. Wieder habe ich bemerkt, dass sich die Zeit rückwärts nur in kleinen oder großen Sprüngen einnehmen lässt. Die Zeit mag sich nicht in die Vergangenheit spulen.