Aus der Wörtersammlung: flüchtlingsmenschen

///

von frauen unter zelten

pic

oli­mam­bo : 0.55 — Vor Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­len war­ten Flücht­lings­men­schen in Trai­nings­be­klei­dung, Fami­li­en, sie stei­gen nicht ein, sie schau­en, schau­en die­se selt­sa­men Men­schen an, beob­ach­ten viel­leicht das Leben hier im Nor­den, Ein­hei­mi­sche, wie sie aus Stra­ßen­bah­nen stei­gen. Im Foy­er des Hos­pi­tals ein jun­ger Mann an der Sei­te eines Wesens, das sich als wan­deln­des Zelt dar­stellt, schwarz mit einem Seh­schlitz. Dort sind ein Paar Augen zu erken­nen. Eine irri­tie­ren­de Erschei­nung. Ich wer­fe dem Wesen, ver­mut­lich einer Frau, im geh­ba­ren Zelt einen Blick zu in einer kon­zen­trier­ten, direk­ten, auch fra­gen­den Wei­se, die für mich nicht üblich ist. Im Flur vor der Inten­siv­sta­ti­on, wei­te­re Frau­en in schwar­zen Gewän­der­zel­ten, die Gesich­ter die­ser Frau­en lie­gen jedoch frei. Ich ver­mag ihre Nasen, ihre Mün­der, gleich­wohl ihre Augen zu sehen, ihr scheu­es Lächeln. Sie ste­hen auf Zehen­spit­zen, spre­chen in ein Mikro­phon, das an einer Wand befes­tigt ist neben einer Tür von opa­k­em Glas. In eng­li­scher Spra­che erkun­di­gen sie sich nach ihrem Vater, der auf der Inten­siv­sta­ti­on lie­gen soll. — stop
ping

///

aylan kurdi

pic

sier­ra : 23.25 — Ich hat­te bis zum spä­ten Abend kei­ne Zei­tung gele­sen und auch die Fern­seh­ma­schi­ne nicht ange­stellt. Gegen 22 Uhr rief ein Freund an, frag­te, ob ich die Foto­gra­fie mit dem Jun­gen gese­hen hät­te, der aus Koba­ne geflüch­tet, vor einem Urlau­ber­strand der Tür­kei ertrun­ken und Land gespült wor­den sei. Er sag­te, er habe mir die Auf­nah­me gera­de eben geschickt, und ich hör­te genau in die­sem Moment das Geräusch einer ankom­men­den E‑Mail mit dem Betreff: Der Jun­ge. Eine hal­be Stun­de spä­ter öff­ne­te ich die Datei. Auf der Foto­gra­fie war der Kör­per eines Kin­des am Strand zu erken­nen, ein­sam, unend­lich ein­sam, so, als habe das Meer, in dem das Kind ertrun­ken war, sei­nen Kör­per behut­sam am Strand abge­legt, seht her, schaut was gesche­hen ist, öff­net die Gren­zen, lasst Flücht­lings­men­schen end­lich mit Flug­zeu­gen zu euch kom­men, wehrt sie nicht ab, errich­tet kei­ne Zäu­ne, hört auf, Waf­fen zu lie­fern, mit wel­chen tat­säch­lich auf Men­schen geschos­sen wird, ich bin das Meer, aus dem ihr alle gekom­men seid. Mil­lio­nen elek­tri­sche Exem­pla­re die­ser Foto­gra­fie eines leb­lo­sen Kin­des sol­len sich inner­halb weni­ger Stun­den um die Welt ver­brei­tet haben, eine Foto­gra­fie, die nie wie­der ver­schwin­den wird, ein Gedächt­nis­bild mög­li­cher­wei­se, wie das Bild ( Pulit­zer­preis 1973 ) der durch fri­end­ly fire schwer ver­letz­ten Kim Phúc und der Geschwis­ter des Mäd­chens, flie­hend auf einer Stra­ße im Süden Viet­nams, ein Gedächt­nis­bild, an das sich die Mensch­heit nun gewöh­nen wird, das Bild betrach­ten und beden­ken, damit es sei­nen Schre­cken ver­liert, bis man es nicht mehr wahr­neh­men wird. Der Name des Jun­gen: Aylan Kur­di. Er wur­de 3 Jah­re alt. Nicht alle wer­den sich gewöh­nen. — stop

ping

///

winterreise

2

alpha : 1.58 — Eine Bekann­te berich­tet, sie wür­de sich sel­ten, nur jedes zwei­te Jahr ihr Haar kür­zen. Für die­sen Pro­zess der Kür­zung besu­che sie immer wie­der den­sel­ben Fri­seur, er scheint ihr inzwi­schen ver­traut gewor­den zu sein. Das zwei Jah­re lan­ge Haar, wel­ches ihr abge­nom­men wer­de, trans­por­tie­re sie dann unver­züg­lich nach Hau­se, wo es, in sei­de­nes Papier ein­ge­schla­gen, in einen Schrank gelegt und dort auf­ge­ho­ben wür­de. Das Geheim­nis die­ses Ver­fah­rens liegt dar­in begrün­det, dass mei­ne Freun­din in höhe­rem Alter Perü­cken von eige­nem Haar zu tra­gen wünscht. War­um das so ist, erklär­te sie mir nicht, auch nicht, war­um es immer August ist, wenn sie ihre Haa­re schnei­den lässt. — Ich soll­te im kom­men­den Jahr im Win­ter viel­leicht ein­mal nach Grie­chen­land rei­sen, zwei oder drei Kof­fer. Anstatt Unter­künf­te syri­scher Boat­peo­p­le anzu­zün­den, wer­den Flücht­lings­men­schen der Insel Les­bos von grie­chi­schen Bür­gern und Urlau­bern mit Nah­rungs­mit­teln und Was­ser ver­sorgt. Das erzähl­te das Fern­se­hen ges­tern Abend um kurz nach Zehn. — stop
elisabeth