alpha : 3.15 UTC — Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Ich beobachtete am Flughafen eine Frau wie sie im Supermarkt Früchte berührte. Ihre Hände steckten in Plastikhandschuhen, sie trug eine Brille, die sehr groß ausgefallen war, und einen papierenen Schutz vor dem Mund, der sich wie ein Segel vor ihrem Atem blähte. Sie schien sehr aufgeregt zu sein, ihre Hände bewegten sich hastig, zwei Äpfel, einen Pfirsich, drei Bananen legte sie in ihr Körbchen ab, dann eilte sie weiter sofort zur Kasse, wo sie warten musste. Sie wirkte seltsam verloren, kaum jemand schien sie zu beachten. Sie stand in der Schlange, unruhig, eine Erscheinung, als wäre sie versehentlich viel zu früh an einem Zeitort angekommen, der noch nicht bereit war, sie aufzunehmen. Plötzlich stellte sie das Körbchen, das sie auf ihrem Rollkoffer balancierte, auf den Boden ab und flüchtete. — Das ist doch seltsam, dachte ich heute bald sechs Jahre später. Dieser Text wurde bereits am 14. Oktober 2014 von mir selbst notiert. Ich hatte ihn verlegt. Das papierene Segel erinnerte mich. — stop
Schlagwort: zeitort
apfel pfirsich bananen
sierra : 3.15 — Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Ich beobachtete am Flughafen eine Frau wie sie im Supermarkt Früchte berührte. Ihre Hände steckten in Plastikhandschuhen, sie trug eine Brille, die sehr groß ausgefallen war, und einen papierenen Schutz vor dem Mund, der sich wie ein Segel vor ihrem Atem blähte. Sie schien sehr aufgeregt zu sein, ihre Hände bewegten sich hastig, zwei Äpfel, einen Pfirsich, drei Bananen legte sie in ihr Körbchen ab, dann eilte sie weiter sofort zur Kasse, wo sie warten musste. Sie wirkte seltsam verloren, kaum jemand schien sie zu beachten. Sie stand in der Schlange, unruhig, eine Erscheinung, als wäre sie versehentlich viel zu früh an einem Zeitort angekommen, der noch nicht bereit war, sie aufzunehmen. Plötzlich stellte sie das Körbchen, das sie auf ihrem Rollkoffer balancierte, auf den Boden ab und flüchtete. — Ein Gedanke zunächst, dann ein Wort, ein erstes Wort, ein Satz, ein erster Satz. Dort herum wachsen weitere Gedanken, langsame Tage, Tage des Sammelns, langsame Nächte, Nächte des Wartens, Land entsteht, Land, auf dem sich’s leben und erzählen lässt. Zeichen für Zeichen, das Wachsen eines Korallenmundes.- stop
schlafen in turku
himalaya : 2.32 — Vielleicht werden Sie sich erinnern. Vom Schlafen habe ich bereits im Jahr 2008 notiert, und zwar im Monat November. Vor wenigen Minuten, als ich nach schwebenden Ballonen über der Stadt Turku suchte, habe ich einen entsprechenden Text unter dem Titel “Schlafen in Turku” in den Verzeichnissen der Google-Suchmaschine wiederentdeckt. Der Text ist mir noch immer nah, weshalb ich ihn mitgenommen und an diesem Zeitort eingefügt habe. Ich stelle nun zum zweiten Mal die Frage: Ist Ihnen vielleicht bekannt, dass Wale, Pottwale genauer, wenn sie schlafen, Kopf nach oben im Wasser schweben? Langsam sinkende Türme, leise singend, leise knatternd, friedvolle Versammlungen, die mit dem Golfstrom treiben. Wenn Sie einmal wach liegen sollten, wenn Sie nicht schlafen können, weil Sorgen Sie bedrängen oder andere schmerzvolle Gedanken, wird es hilfreich sein, eine Tauchfahrt zu unternehmen im Kopf durchs Bild der träumenden Wale. Oder Sie reisen an die Ostsee, nehmen die nächste Fähre nach Turku. Sie werden dann schon sehen. Ballone, zum Beispiel, Ballone werden Sie sehen am Horizont, Ballone am dämmrigen Himmel, dort müssen Sie hin. Alles ist gut zu Fuß zu erreichen, eine Stunde oder zwei, nicht länger, je nach Gepäck. Man wird Sie schon erwarten, man wird Sie freundlich begrüßen, man wird Sie fragen, wie lange Zeit Sie zu schlafen wünschen, welcher Art die Dinge sind, die Sie zu vergessen haben, die Sie beschweren. Man wird Ihren Blick zum Himmel lenken und Sie werden erkennen, dass unter den Ballonen Menschen schweben, aufrecht und reglos, in Daunenmäntel gehüllt, von einem leichten Wind hin und her geschaukelt, hunderte, ja tausende Menschen. — - Stille herrscht. — - Nur das Fauchen der Feuermaschinen von Zeit zu Zeit. - Drei Uhr dreiunddreissig auf dem Maidan zu Kyjiw. — stop
schwäne
sierra : 6.26 — Die Beobachtung in dieser Nacht, eine Wiederholung, dass sich in der Welt meiner Vorstellung, die Zeit ohne Ausnahme in eine Richtung zu bewegen scheint. Sobald ich mich an einen Ort zurückversetze oder mich mit einem Ereignis verbinde, mich also erinnere an einen Augusttag am Starnberger See beispielsweise, bewege ich mich als kleiner, von der Sonne gebräunter Junge unverzüglich vorwärts weiter. Auch alle Schwäne bewegen sich vorwärts weiter, Fliegen, Stimmen, Wellen, Sommerfäden. Es sind in meiner erinnernden Arbeit stets nur sprunghafte Bewegungen in der Zeit möglich, als würde der Raum, der zwischen beiden vorgestellten Zeitorten liegt, nicht existieren. — stop
zeitort
lima : 7.22 — Seltsam ist an Buchstaben, dass man ihnen die Zeit nicht ansehen kann, die in ihnen steckt. Diese achtzehn Wörter und alle weiteren Wörter an dieser Stelle, habe ich bereits an einem sehr viel früheren Montagabend notiert. Es ist jetzt 7 Uhr und 15 Minuten und ich bin fern meines Schreibtisches und weiß doch, dass mein Satz sichtbar werden wird für andere Menschen in genau dieser Minute, freigelassen sozusagen, ohne in diesem Moment auch nur einen Finger bewegt zu haben. Denkbar, dass ich gerade unter einem Regenschirm spaziere. Vielleicht schlafe ich noch oder vielleicht bin ich längst über den Atlantik geflogen und habe noch keine Verbindung in öffentliche Funkräume gefunden. — stop
PRÄPARIERSAAL : beine
delta : 0.02 — Ich stellte mir einen Zeitort in der Zukunft vor. Früher Morgen. Sommer. Schneelicht wie gezeichnet. Auf Arbeitstischen eines anatomischen Präpariersaales ruhen menschliche Beine. Ein Forscher erklärt: Das sind Beine des 21. Jahrhunderts, und das sind Beine des 22. Jahrhunderts, und diese Beine hier sind im 23. Jahrhundert entstanden, und das hier, das ist schon etwas ganz anderes. — Welche Sprache spricht dieser Mann? Wer hört ihm zu? Wie werden wir gestaltet sein? — stop
luftlaufen
pupille : 0.02 — Gestern Nachmittag im Regen durch den Palmengarten spaziert. Saß bald unterm Schirm gut verpackt auf einer Bank am See und las in einer Sammlung feiner Texte, die Anton Tschechow in seiner persönlichen Ausgabe der Selbstbetrachtungen Marc Aurels vor langer Zeit einmal markiert hatte. Dort folgende Bemerkung: Du musst Dich daran gewöhnen zu denken und zu handeln, als sei das Ende deines Lebens schon da. Und ich dachte, es ist genau so, dass zwischen dem vorgestellten Ende des eigenen Lebens und dem tatsächlichen Ende, dessen Zeitort unbekannt, dessen Nahen von Tag zu Tag wahrscheinlicher wird, schmale oder noch breite Stege von Hoffnung, von Unkenntnis sich befinden, auf welchen ich mich bewegen kann, langsam, nachdenklich, oder in Tanzschritten, glücklich, übermütig und verwegen. – Wieder der Versuch, die Tropfgeräusche des Regens zu zählen. Nichts könnte beruhigender sein.
tabucchi
3.18 — Nehmen wir einmal an, es würde ein Zeitraum jenseits des uns bekannten Lebenszeitraumes existieren, ein Zeitort, an dem wir unbegrenzt anwesend sein dürften, ein Ort weiterhin, von dem aus wir in unsere vergangenen Leben schauen und zurück fühlen könnten, in dem wir die Filme gelebter Tage betrachteten, nehmen wir also an, dieses Kino existierte, dann sollte ich mich bemühen, Gedanken wie Erlebnisse zu verzeichnen, sodass sie später gleichwohl als Filme zu besichtigen wären. — stop
zeitort
[ 0.08 ] — Ich schreibe diesen Text an einem Zeitort, der eigentlich nicht existiert. Habe mich um 0.05 Uhr an die Schreibmaschine gesetzt, aber noch ehe ich meine Hände auf die Tastatur gelegt hatte, war schon 1 Uhr geworden und ich hatte noch keinen einzigen druckbaren Satz notiert. Habe ich mir also eine zusätzliche Stunde Zeit gemacht. Wieder war 0 Null Uhr geworden und ich dachte notierend über das Wassersprechen nach. — Ist es möglich unter einer Meeresoberfläche Wörter aufzusagen? Ist es überhaupt Menschen möglich, unter Wasser so deutlich zu sprechen, dass zu verstehen ist, was ausgesprochen, das heißt, ausgeatmet wurde? Wie hört sich eine menschliche Stimme an, die unter Wasser spricht? Wie viele Sätze kann ich mit einer gesunden, mit einer prall mit Luft gefüllten Lunge so deutlich sprechen, dass von einer Unterhaltung die Rede sein könnte, wenn ich eine Antwort von einem weiteren Taucher erwarten würde?
cinema
12.52 — Nehmen wir einmal an, jenseits der uns bekannten Lebenszeiträume würde eine Zeit existieren, ein Zeitort, an dem wir unbegrenzt anwesend sein könnten, eine Gegend weiterhin, von der aus wir in ein vergangenes Leben zurückschauen und reisen könnten, indem wir Filme gelebter Tage betrachteten. Nehmen wir also an, dieses Kino würde existierten, dann sollte ich von dieser Stunde an, — nicht eine Minute sollte ich verschwenden -, Filme von starkem Licht verzeichnen, Gedanken wie Erlebnisse behandeln, sodass sie später gleichwohl als Filme zu besichtigen wären. Ich setze mich also in eine U‑Bahn oder in einen Park oder vor meinen Schreibtisch und mache je einen Film für später nur mit dem Kopf. — stop