marimba : 15.22 UTC — Eine Fliege auf dem Fensterbrett meines Fensters nach Süden lungerte dort herum ohne sich auch nur einmal zu bewegen. Als ich mich näherte, machte sie ein paar Schrittchen vorwärts, sodass ich bald den Eindruck hatte, ich dürfe mich ihr mit einem Finger nähern. Ich vermochte die Fliege mit einer sanften Geste zu berühren. Sie blieb ganz still sitzen. Bald suchte ich nach einem Pinsel, den die Fliege zu betrachten schien. Sie machte ein paar Schrittchen auf den Pinsel zu. Dann blieb sie vor dem Pinsel sitzen. Als ich versuchte sie mit dem Pinsel selbst zu berühren, rannte sie davon. Es war vermutlich die erste Fliege, der ich begegnet war, die das Fliegen vollständig verlernt zu haben schien. — stop
Aus der Wörtersammlung: net
eine raupe im mai
romeo : 10.28 UTC — Es war Mai, ich ging, Blick auf den Boden gerichtet, spazieren. Man möchte vielleicht meinen, dass ich nur den Boden, nichts anderes sehen wollte in Gedanken versunken in Kreisen. So geh ich eine halbe Stunde dahin. Bald begegnete ich einer Raupe, die den Weg, auf dem ich ging, überquerte. Es war eine sandige Stelle. Ich blieb stehen, ging in die Knie, beobachtete, wie sich die Raupe bemühte, sandige Körner von ihren Beinen zu schütteln. Einmal rollt sie sich seitwärts ab, eine Idee, die dazu führte, dass auch das kräftige Haar ihres Rückens von Sand bedeckt worden war. Diese erste Raupe, der ich an diesem Tag begegnete, war von einem leuchtenden Gelb. Seitlich, ihren Körper entlang, waren hellrote Punkte zu erkennen. Ihr Kopf war von einem leuchtenden Blau. — stop
das bein
bamako : 6.32 UTC — Einmal, das war vor zehn Jahren gewesen, stürzte eine Fliege aus großer Höhe vor mir auf den Tisch. Die Vorstellung zunächst, das Tier könnte, noch im Flug befindlich, aus dem Leben geschieden sein, dann aber war Bewegung im liegenden Körper zu erkennen, zwei der vorderen Fliegenbeinchen bewegten sich bebend, bald zuckten zwei Flügel. Die Fliege schien benommen, jedoch nicht tot gewesen zu sein, weswegen sie bald darauf erwachte, eine äußerst schnelle Bewegung und schon hatte die Fliege auf ihren Beinen Platz genommen, das heißt genauer, auf fünf ihrer sechs Beine Platz genommen, das linke hintere Bein streckte die Fliege steif von sich. Keine Bewegung der Flucht in diesem Zeitraum meiner Beobachtung. Auch dann, als ich mich mit dem Kopf näherte, keine Anzeichen von Beunruhigung. Die Fliege schien mit sich selbst beschäftigt zu sein, tastete mit einem ihrer Hinterbeinchen nach der gestreckten Extremität, die verletzt zu sein schien, gebrochen vielleicht oder gestaucht. Natürlich stellte sich sofort die Frage, ob es möglich ist, das Bein einer Fliege medizinisch erfolgreich zu versorgen, Bewegungsstillstand zu erreichen, sagen wir, um eine Operation zum Beispiel, die dringend geboten sein könnte, vorzubereiten. Ich machte ein paar Notizen von eigener Hand, ich notierte in etwa so: Forschen nach Mikroskop, Pinzetten, Skalpellen, anatomischen Aufzeichnungen, Schrauben, Narkotika und Verbandsmaterialien für Operation an geöffneter Calliphora vicina. — stop
reisende spinne
tango : 22.07 UTC — Auf dem Sattel meines Fahrrades lief ein sehr kleines, rotes Wesen hin und her als würde es etwas nähen. Kaum näherte ich mich mit einem Finger, kaum machte ich Schatten, duckte es sich, um dann so schnell es eben möglich war, unter dem Sattel zu verschwinden. Ich fuhr los, ich radelte durch den Nordpark. Ein sonniger Tag, in den Wiesen lagen Hunde und Menschen, in den Bäumen dösten Vögel, Flügel gespreizt, Schnäbel weit geöffnet. Am Himmel ein Zeppelin, langsam. Ich sass bald auf einer Bank, ich beobachtete den Sattel meines Fahrrades. Kurz ein wenig Regen. Dann fuhr ich wieder nach Hause. — stop
giuseppi logan
marimba : 2.28 UTC — Ich lese in Dorothy Bakers Roman Young Man With A Horn. Plötzlich denke ich an Giuseppi Logan ( Hört ihm zu! ) dem ich im Jahr 2010 im Thompkins Square Park persönlich begegnet sein könnte. Viele Tage sind vergangen, seit ich eine Geschichte gelesen habe, von der ich mich sagen hörte, sie sei eine Geschichte, die ich nie wieder vergessen werde, die Geschichte selbst und auch nicht, dass sie existiert, dass sie sich tatsächlich ereignete, eine Geschichte, an die ich mich erinnern sollte selbst dann noch, wenn ich meinen Computer und seine Dateien, meine Notizbücher, meine Wohnung, meine Karteikarten während eines Erdbebens verlieren würde, alle Verzeichnisse, die ich studieren könnte, um auf jene Geschichte zu stoßen, wenn sie einmal nicht gegenwärtig sein würde. Diese Geschichte, ich erzähle eine kurze Fassung, handelt von Giuseppi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazzmusiker, ein Mann von dunkler Haut. Logan, so wird berichtet, atme Musik mit jeder Zelle seines Körpers in jeder Sekunde seines Lebens. In den 60er Jahren spielte er mit legendären Künstlern, nahm einige bedeutende Freejazzplatten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Drogen und war plötzlich verschwunden, manche seiner Freunde vermuteten, er sei gestorben, andere spekulierten, er könnte in einer psychiatrischen Anstalt vergessen worden sein. Ein Mann wie ein Blackout. Über 30 Jahre war Giuseppi Logan verschollen, als man ihn vor wenigen Jahren in einem New Yorker Park lebend entdeckte. Er existierte damals noch ohne Obdach, man erkannte ihn an seinem wilden Spiel auf einem zerbeulten Saxophon, einzigartige Geräusche. Freunde besorgten ihm eine Wohnung, eine Platte wurde aufgenommen, und so kann man ihn nun wieder spielen hören, live, weil man weiß, wo er sich befindet von Zeit zu Zeit, im Tompkins Square Park nämlich zu Manhattan. Es ist ein kleines Wunder, das mich sehr berührt. Ich will es unter der Wortboje Giuseppi Logan in ein Verzeichnis schreiben, das ich auswendig lernen werde, um alle die Geschichten wiederfinden zu können, die ich nicht vergessen will. — Heute las ich, dass der alte Mann im April 2020 im Lawrence Nursing Care Center in Far Rockaway, Queens während der COVID-19-Pandemie in New York City an den Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion gestorben ist. — stop
Fotographie Jon Rawlinson
„Niemand klang in einem Ensemble so wie
Giuseppi [Logan]. Bei seinem Spiel hielt er seinen Kopf weit zurück;
dazu erklärte er: „Auf diese Art ist meine Kehle weit offen“,
so konnte er mehr Luft einziehen. Er spielte in einem
Umfang von vier Oktaven auf dem Altsaxophon. Was
ihn als Improvisator von anderen unterschied,
war die Art, wie er seine Noten platzierte
und damit einen bestimmten Klang schuf,
dem die anderen der Gruppe dann folgten.
Seine Stücke waren aus diesem Grund sehr
attraktiv; Giuseppi hatte seine ganz eigenen
Ansichten über Musik …“ – Bill Dixon
halbstundenschnee
zoulou : 15.18 UTC — Winter. Landschaft tief verschneit. Ich erinnere Vater, wie er auf den Balkon unseres Hauses ein Kamerastativ stellt. Der Fotoapparat, den er auf das Stativ schraubte, richtete seine Augenlinse zum Garten hin, auf eine unberührte Decke von Schnee über einem Teich, der sich kaum wahrnehmbar durch eine leichte Vertiefung abzeichnete unter dem glitzernden, kalten Tuch. Von dem Fotoapparat aus führte ein feines Kabel in Vaters Arbeitszimmer. Das Kabel war mit seinem Computer verbunden, der dem Fotoapparat jede halbe Stunde einmal Anweisung gab, eine Aufnahme des Gartens anzufertigen. Viele Jahre später entdeckte ich eine Serie dieser Aufnahmen. Spuren sind dort zu erkennen einer Katze, die selbst nicht zu sehen ist. Der Kopf einer Amsel weiterhin, die nach ihrer Landung im Schnee versunken zu sein schien. Kurz darauf eine weitere Katze, die der Spur jener unsichtbaren, früheren Katze folgt. Auch Mutter hat ihren Auftritt. Ihr Kopf ist zu erkennen, und ihre Hände, die in den Bildausschnitt ragen. Sie wirft Nüsse in den Schnee. Eine weitere Aufnahme, es ist vielleicht später Nachmittag, zeigt Vater inmitten seines Gartens. Er schaut hoch zur Kamera. — stop
k.a.i.r.o
MELDUNG. Fünf mit Handfeuer bewaffnete Beamte [ Soko K.a.i.r.o ] haben nahe Picadilly Circus [ London ] zwei Ägypter in Verwahrung genommen, filigrane Meißel weiterhin [ 0.5 Zoll Kantenlänge ], sowie zwei Handtäschchen [ türkise ]. Folgende kryptische Signatur war dem Sockelgestein eines städtischen Gebäudes [ Regent Street 162 ] beigebracht : 5MAN8X6RTGMA88ZBFRI. Auch diese Ägypter [ Ägypter No 6 und 7 der laufenden Woche ], je 178 cm hoch, mittleres Alter, verweigern jede Aussage. – stop
von einer walzenspieldose
nordpol : 22.58 UTC — Vor Jahren, zur Sommerzeit, an der Seite einer schwermütigen Frau durch tropfenden Wald nahe eines Krankenhauses spaziert. Es hatte geregnet, eine Sintflut, das Kleid der Frau, von dem sie erzählte, dass es sich um ein brennendes Kleid handele, klebte an ihrem Körper fest. Schmal war sie geworden, zerbrechlich, fast durchsichtig die Haut ihrer Hände, ihrer Wangen, ihres Halses. Ich erinnere mich, dass ich ihr Libellen zeigte, sie jagten dicht über den dampfenden Boden hin, Walderdbeeren, einen Frosch. Ich fragte nach ihren Gedanken, aber ich konnte sie nicht erreichen, auch mit meinen Blicken nicht, weil sie mich nicht ansehen wollte, sondern vor sich hin starrte, indem sie vorsichtig ihre Schritte setzte, als würde der Boden unter ihren Füßen nicht wirklich existieren. Ihr feines Gesicht, ich erinnere mich, ihre hellen Augen, hell von Schmerz und Furcht. Wie sie nach einer langen Zeit des Schweigens sagte, niemand könne verstehen, wie sie sich fühle, kein Mensch, das sei schrecklich, und das Atmen, die Angst, die Leere, der Eindruck zu fallen, und dass sie nicht wisse, wann das alles wiederkommen würde, wenn es doch einmal aufgehört haben sollte. In einer ihrer Hände barg sie eine Spieldose. Manchmal hielt sie die kleine Maschine vor ihr Gesicht und drehte an einer Kurbel. Sie neigte dann den Kopf zur Seite, und für einen Moment schien der Schmerz nachzulassen, eine Ahnung im Sommerregen, eine Erfahrung größter Ferne und Hilflosigkeit inmitten zirpenden, pfeifenden, rauschenden Lebens. — Ich habe von dieser Begegnung im Wald bereits einmal erzählt. Weil ich heute über wasserfeste Walzenspieldosen notierte, erinnerte ich mich. — stop
augenaffe
ulysses : 17.02 UTC — Lesen in der digitalen Sphäre wie Netzwerken folgen, Flüssen, die kein Ende finden. Lesen also von Stunde zu Stunde, auf einer Spur sich weiter hangeln, ein Augenaffe, durch Blattwerk, das unendlich geworden zu sein scheint. Ich sollte eine Uhr stellen, die mich weckt. Oder eine Uhr, der ich erlauben werde, das Licht über dem Schreibtisch auszuschalten oder meine Schreibmaschine selbst, die zum Schreiben nämlich, nicht zum flüchtigen Lesen bestimmt worden ist. — stop
google earth
echo : 22.52 UTC — Einmal bemerkte ich die Silhouette eines Menschen am Strand von Montauk, einen Strich, der einen Schatten warf. Ich dachte: Das ist eine im Besonderen berührende Erscheinung vom Weltraum her gesehen. Der Planet scheint belebt zu sein. — Ich verliere Wörter, wenn ich nicht lese, nicht schreibe, nicht langsam spreche. Tagessignalwörter sind Wörter, die von einem Tag gestempelt sind. Der heutige Tag könnte dem Wort Ohrtrompete verbunden sein. — stop