Aus der Wörtersammlung: joseph brodsky

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cimitero s. michele

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vic­tor : 22.24 UTC — Auf der Insel Giudec­ca exis­tiert an eine Brü­cke gelehnt ein Auf­zug für Men­schen, die nicht in der Lage sind, Trep­pen zu stei­gen. Der Auf­zug soll nun seit bei­na­he 3 Jah­ren außer Dienst genom­men sein. Ich hät­te davon kei­ne Kennt­nis erhal­ten, wenn ich nicht zufäl­lig hör­te, wie ein alter Mann sich wegen die­ses kran­ken Auf­zu­ges empör­te. Er saß in einem Roll­stuhl auf einem Bal­kon nur weni­ge Meter ent­fernt von der Brü­cke und warf Brot in die Luft, wel­ches von Möwen im Flug auf­ge­fan­gen wur­de. Der Mann schimpf­te in eng­li­scher, bald in fran­zö­si­scher Spra­che, als ob er ganz sicher gehen woll­te, dass jene Men­schen, die die Brü­cke über­quer­ten, sei­ne Nach­richt ver­ste­hen wür­den. An die­sem Abend, da der wüten­de Mann die Admi­nis­tra­ti­on der Stadt Vene­dig ver­damm­te, wäre ich sehr ger­ne sofort in das Was­ser zu mei­nen Füßen gesprun­gen, um den Reiz der Mücken­sti­che, die ich wäh­rend eines Besu­ches des Fried­ho­fes San Miche­le hin­neh­men muss­te, durch Küh­le zu lin­dern. Es war am Nach­mit­tag gewe­sen, ich plan­te das Grab Joseph Brod­skys zu besu­chen, muss­te aber bald vor dut­zen­den Raub­tie­ren flüch­ten, die sich auf zart­schil­lern­den Flü­geln kaum hör­bar näher­ten in einer Wei­se, die mir koor­di­niert zu sein schien. Poli­zis­ten such­ten auf dem Fried­hof nach zwei Frau­en. Ich hat­te kurz zuvor beob­ach­tet, wie sie den Fried­hof betra­ten. Sie tru­gen schwar­ze Klei­der und schwar­ze Stie­fel und schwar­ze Hand­schu­he, auch ihr Haar war schwarz gefärbt und ihre Augen wie von Koh­le umran­det, sie waren voll­stän­dig in Schwarz dar­ge­stellt, aber ihre Haut war weiß gepu­dert. — Vor dem Fens­ter pfei­fen lei­se Vögel wie Spre­chen. — stop

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zattere

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ulys­ses : 20.32 UTC — Jenes ein­sa­me Nadel­blatt­ge­wächs in der Form der Pini­en­bäume unweit der Pon­te agli Incura­bili könn­te Joseph Brod­sky bei Regen noch beschir­men. Von dort soll der Dich­ter gern über den Kanal nach Giudec­ca geschaut haben. Ich erwar­tete eine Bank von Stein oder von Holz, vergeb­lich. Viel­leicht wird Joseph Brod­sky sich zur Beob­ach­tung des Was­sers einen klei­nen Klapp­stuhl mitge­nommen haben oder liess die Bei­ne von der Quai­mauer bau­meln, sie wer­den vermut­lich bald nass gewor­den sein. Wenn ich nur lan­ge genug nach Wes­ten schaue zu den Hafen­an­lagen hin, kann ich Joseph Brod­sky sit­zen sehen, wie er sich mit den Wel­len des Mee­res unter­hält, ihre Bewe­gung erforscht. Wie sich in die­sem Augen­blick, es ist kurz nach 8 Uhr, ein braunrosa­far­bener feuch­ter Elefan­ten­rüssel aus dem Was­ser erhebt, wie er bebend die Luft son­diert, wie er sich dem Dich­ter nähert, als wäre er noch immer dort, Fonda­menta degli Incura­bili. – stop
ping

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wasser

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echo : 2.15 — Seit Stun­den die Fens­ter weit geöff­net, und obwohl ich einen Pull­over tra­gen muss, um nicht zu frie­ren, hal­te ich die Nacht da drau­ßen für eine Som­mer­nacht. Es ist jetzt zwei Uhr und fünf­zehn Minu­ten. Soeben habe ich Joseph Brod­skys fein­sin­ni­ges Vene­dig Buch Ufer der Ver­lo­re­nen auf den Tisch gelegt, um eine Pass­sa­ge dar­aus abzu­schrei­ben. Als ich die Tas­ta­tur in eine güns­ti­ge Posi­ti­on rück­te, sehe ich gera­de noch, wie mei­ne Spring­spin­ne zwi­schen zwei Tas­ten ver­schwin­det, wes­halb ich zunächst nicht wag­te, auch nur ein Zei­chen ein­zu­ge­ben, um sie nicht viel­leicht zu ver­let­zen oder gar zu töten. Habe das klei­ne wei­ße Kla­vier dann über dem Schreib­tisch her­um­ge­dreht und etwas geschüt­telt und wenn ich mich nicht täu­sche, ist mein Freund unter die­ser uner­war­te­ten Bewe­gung her­aus­ge­fal­len. Natür­lich bin ich mir nicht ganz sicher, — die Spin­ne ist sehr schnell, und des­halb schrei­be ich die­se und die fol­gen­den Zei­len sehr behut­sam, in einer Wei­se, sagen wir, die Joseph Brod­skys genau­er Beob­ach­tung und sei­nem prä­zi­sen Aus­druck ange­mes­sen ist. Über den Geruch schreibt er das Fol­gen­de: Ein Geruch ist schließ­lich auch eine Ver­let­zung des Sau­er­stoff­gleich­ge­wichts, ein Ein­bruch ande­rer Ele­men­te – Methan? Koh­len­stoff? Schwe­fel? Stick­stoff? Je nach Inten­si­tät die­ser Bei­mi­schung erhältst Du einen Duft, einen Geruch, einen Gestank. Es ist eine Fra­ge von Mole­kü­len, und Glück, so neh­me ich an, ist der Augen­blick, wenn Du die Ele­men­te dei­ner eige­nen Zusam­men­set­zung im frei­en Raum gewahrst. Davon gab es eine beträcht­li­che Anzahl da drau­ßen, im Zustand tota­ler Frei­heit, und ich spür­te, dass ich in der kal­ten Luft in mein eige­nes Selbst­por­trait hinaustrat.

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