Aus der Wörtersammlung: spannung

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bewegung

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nord­pol : 0.28 — Wie Peter Bich­sel vor Jah­ren in einer Film­do­ku­men­ta­ti­on von einem Zustand der Bewe­gung berich­te­te, der für ihn zum Schrei­ben hilf­reich sei. Fah­ren. Rei­sen. Der Schrift­stel­ler saß, indem er das erzähl­te, in einem Wagon der Schwei­zer Bun­des­bahn, Land­schaft mit Bäu­men schweb­te hin­ter dem Fens­ter vor­bei, und ich mei­ne, mich rich­tig zu erin­nern, wenn sich das Gesicht des Dich­ters in der Schei­be spie­gel­te. Immer wie­der ein­mal hab ich an die­se Situa­ti­on gedacht, ges­tern zuletzt, weil ich bemerk­te, dass mir in die­sen Tagen die Stun­den des Schrei­bens auf der Sta­ten Island Fäh­re feh­len, Stun­den bemer­kens­wer­ter Beweg­lich­keit in mei­nen Gedan­ken. Nicht allein die gleich­mä­ßi­ge Bewe­gung des Schif­fes, scheint eine selt­sa­me Öff­nung mei­ner Gedan­ken bewirkt zu haben, oder der Blick auf das Meer, die Sil­hou­et­te Brook­lyns, den Hafen New Jer­seys, sei­ne Krä­ne, die wie Stor­chen­vö­gel am Hori­zont zu sehen sind, in mei­nem Fall waren es die Men­schen, ihre Gesich­ter, Stim­men, Bewe­gun­gen, Gerü­che, Hüte, Tele­fo­ne, Schu­he, Taschen, Gesprä­che, die mich mit Span­nung einer­seits und inne­rer Ruhe ander­seits ver­sorg­ten. Ich ahne, ich ver­mag in der Umge­bung zahl­rei­cher Men­schen, die sich nicht wei­ter um mich küm­mern, sehr lan­ge Zei­ten und weit geöff­net still zu sit­zen. Mei­ne Augen spa­zie­ren her­um und mei­ne Ohren, mein Schreib­ge­hirn aber scheint indes­sen in eine ganz ande­re Rich­tung zu schau­en. War­um das so ist, weiß ich nicht. – Ein stil­les Gebet seit Tagen.

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tastende fingerohren

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alpha : 15.01 — Seit Wochen mobi­li­siert eine jun­ge Frau mei­nen rech­ten Arm in Por­tio­nen der Zeit, die wohl­tu­end sind. Eine eigen­ar­ti­ge Erfah­rung. Als wür­de sich die jun­ge Frau mit mei­nem Arm unter­hal­ten in einer Spra­che kom­pli­zier­ter Bewe­gung. Deh­nen. Stre­cken. Dre­hen. Zie­hen. Drü­cken. Krei­sen. Strei­chen. Dann Pha­sen der Ruhe. Bald scheint sie in mei­nen Arm hin­ein­zu­hö­ren, als ob ihre Fin­ger über sen­si­ble Ohren ver­füg­ten, tas­ten­de Ohren, die nach Bewe­gun­gen mei­ner Seh­nen, mei­ner Mus­keln fra­gen. Ein fei­nes Gehör. Eine Spra­che nach­hal­ti­ger Argu­men­te, die mei­ne Mus­keln aus ihrer Schutz­span­nung lösen. Das Gespräch der Hän­de, Beschwö­rung, nach­drück­lich, auch Ermun­te­rung, Ermu­ti­gung: Erin­nert Euch! – Schnee über Nacht. Sturm­wind auf den Ber­gen. Doh­len sind ins Tal gekom­men. — stop.

ping

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PRÄPARIERSAAL — so haben wir angefangen

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del­ta : 22.20 — Sobald ich mein Ton­band­ge­rät betrach­te, wenn ich beob­ach­te, wie sich zier­li­che Räd­chen hin­ter einer Schei­be bewe­gen, Lust, die klei­ne Maschi­ne aus­ein­an­der­zu­neh­men, alles zu betrach­ten und dann wie­der zusam­men­zu­set­zen, auch wenn viel­leicht Jah­re ver­ge­hen, bis die Zusam­men­hän­ge der Maschi­ne wie­der feh­ler­los her­ge­stellt sein wer­den. An die­sem Abend, da im Hin­ter­grund eine wei­te­re, eine digi­ta­le Ton­band­ma­schi­ne Joshua Red­man wie­der­holt, ist alles noch in Ord­nung, unbe­rührt, sagen wir. Tom erzählt: > Man geht also vor­sich­tig los, man kommt durch eine Klapp­tür in den Saal und sieht sofort, dass da sehr vie­le Men­schen sind. Ich hat­te zunächst ein paar Pro­ble­me damit, die Knöp­fe mei­nes Kit­tels in die Fin­ger zu bekom­men, weil ich einen Atlas unter den Arm geklemmt hat­te und ein Paar Latex­hand­schu­he in der einen Hand und in der ande­ren mei­nen Werk­zeug­kas­ten, eine höl­zer­ne Schach­tel mit Pin­zet­ten und Skal­pel­len. Ich habe mir gedacht, du musst jetzt nicht beson­ders sou­ve­rän sein, mein Jun­ge, son­dern zunächst ein­mal dei­nen Tisch fin­den und dei­ne Leu­te und dann wirst Du ganz ein­fach anfan­gen. Also bin ich gleich nach links gelau­fen, weil ich wuss­te, dass ich in einer Abtei­lung arbei­ten wer­de, die links liegt, wenn man das von der Tür aus betrach­tet. Aber dann hat­ten wir natür­lich kei­ne Ahnung, wie wir anfan­gen soll­ten. Wir stan­den um einen Tisch her­um und haben zunächst ein­mal abge­war­tet. Wir waren acht Leu­te. Weil wir uns noch nicht alle kann­ten, haben wir uns erst ein­mal vor­ge­stellt. Viel­leicht bekomm ich sie grad schnell zusam­men. Da war, zum Bei­spiel, Mika, eine Nor­we­ge­rin, und Micha­el, der mir am Tisch gleich gegen­über arbei­te­te, und Sus­an, die sich ein Tuch um ihren Kopf gebun­den hat­te, damit das Haar ihr nicht ins Gesicht fal­len konn­te. Und da waren Zue natür­lich, eine Afri­ka­ne­rin von der Elfen­bein­küs­te, die uns nicht immer ver­ste­hen konn­te, weil sie die eng­li­sche und fran­zö­si­sche Spra­che bes­ser spre­chen konn­te als die deut­sche Spra­che, und Isme­ne, eine Grie­chin, die uns sofort erzählt hat­te, dass sie Chir­ur­gin wer­den wol­le. Ich erin­ne­re mich, Ihre Augen waren stark gerö­tet, viel­leicht weil ein schar­fer Geruch in der Luft hing, irgend­et­was, das die Augen reiz­te. Ich konn­te die­sen Geruch bereits auf der Stras­se wahr­neh­men, und spä­ter, am Abend, zu Hau­se, hat­te ich ihn an den Hän­den. Kurz­um, wir haben dann also gewar­tet. Ich kann nicht genau sagen, wie lan­ge wir so gewar­tet haben. Das war eine selt­sa­me Situa­ti­on. Wir haben uns immer wie­der ange­lä­chelt. Ich glau­be, wir waren alle sehr ver­le­gen und stan­den zu die­sem Zeit­punkt unter einer gro­ßen Span­nung. Der Tisch hat­te die Num­mer 4/12. Eine rote Pla­ne war über die­sen Tisch aus­ge­brei­tet und wir konn­ten eine Kon­tur erken­nen, eine Erhe­bung. Wir wuss­ten, dass da ein Kör­per lag und dass die­ser Kör­per eher klein sein muss­te, zier­lich, sagen wir. Ich hat­te die Vor­stel­lung, dass dort unter der Decke eine Frau lie­gen könn­te. Und ich erin­ne­re mich, dass ich in die­sem Moment über­leg­te, ob das Geschlecht des Kör­pers, den ich in den kom­men­den Wochen aus­ein­an­der neh­men wür­de, eine Bedeu­tung für mich haben wür­de oder nicht. Und dann ging alles sehr schnell. Unser Coas­sis­tent kam zu uns an den Tisch und erkun­dig­te sich, ob alles ok sei. Er hat­te die Arme vor der Brust ver­schränkt und schau­te jeden ein­zel­nen von uns an und lach­te sehr freund­lich. Wir haben dann damit begon­nen, das rote Tuch vom Tisch zu neh­men. So haben wir angefangen.
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ampere

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del­ta : 1.58 — Eines Tages ein­mal unse­rer Haut eine licht­emp­find­li­che Sub­stanz ein­zu­ver­lei­ben, die Stern­strah­lung in Ampere­strö­me ver­wan­deln wür­de, in Span­nung, die zunächst gespei­chert und etwas spä­ter dann lust­voll oder zur Wär­mung von Mensch zu Mensch aus­ge­tauscht wer­den könn­te. — stop
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jonglieren

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romeo : 0.25 — Stand in einer Schlan­ge war­ten­der Men­schen, mach­te Rechen­übun­gen im Kopf. Nach fünf oder zehn Minu­ten kon­zen­trier­ter Arbeit war ich dann soweit gekom­men, ein­zu­se­hen, dass jene Zah­len­grö­ßen, die ich jon­glier­te, mein Denk­ver­mö­gen deut­lich über­for­der­ten. Rech­ne­te bald in mei­nem Notiz­buch notie­rend mit Blei­stift­zah­len wei­ter vor­an: Ers­tens / Ein Papier­tier­chen, sobald es sei­ne Arme streckt, misst 0,087 mm von Ost nach West. Zwei­tens / 2413 Papier­tier­chen säu­men den Rand eines beschreib­ba­ren leben­den Papiers an sei­ner schma­len Sei­te, 3218 Papier­tier­chen des sel­ben Papiers an sei­ner län­ge­ren Sei­te. Drit­tens / 7765034 Papier­tier­chen sind Tei­le einer Struk­tur, der ich einen Namen zu geben habe. — Wun­der­ba­re, frü­he Nacht. Ein gro­ßer Frie­den in ange­neh­mer Span­nung. Alle sind sie jetzt da, sit­zen an mei­nen Zim­mer­wän­den und rüh­ren sich nicht. — Guten Morgen!
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torero

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marim­ba : 4.52 — Dich­te Flie­gen­wol­ken in der Gewit­ter­luft überm Pal­men­gar­ten­see. Man müss­te als Vogel mit auf­ge­ris­se­nem Schna­bel nur zwei oder drei­mal knapp über das Was­ser rasen, schon hät­te man sich den Magen ver­dor­ben. In genau die­sem Zusam­men­hang ver­gan­ge­ne Woche einen Fal­ter beob­ach­tet, der sich über der Was­ser­ober­flä­che wie ein Tore­ro ver­hielt. Rasan­te Flug­ma­nö­ver lock­ten einen angrei­fen­den Sper­ling immer wie­der ins Lee­re. Mit Span­nung auf den Absturz des Vogels ins Was­ser gewar­tet. Aber dann führ­te ein mini­ma­ler Wind­stoß in der fal­schen Sekun­de doch noch zum Ende des Fal­ters, der ein ver­we­ge­nes Tag­pfau­en­au­ge gewe­sen war. — Es ist jetzt 4 Uhr und noch immer Nacht, weil es dun­kel ist. Ich habe gera­de eine Notiz seziert, die ich auf einem sehr alten Zet­tel wie­der ent­deck­te. Ich kann mich an den Moment der Notiz nicht erin­nern, aber die Schrift ist mei­ne Hand­schrift, und sie ist zwan­zig Jah­re alt. Ein merk­wür­di­ger Anblick, als wür­de ich die Gedan­ken eines Frem­den betrach­ten, der mir doch ver­traut ist. Der Frem­de schrieb: Ein­mal für eine Stun­de lang über einer sehr gro­ßen Stadt unter einem Zep­pe­lin auf der Stel­le schwe­ben, für die­se eine Stun­de nur, da die Gedan­ken der Men­schen in der Stadt hör­bar wer­den, die stren­gen, die leich­ten, die erin­ner­ten, die rasen­den Gedan­ken einer Stadt. — Ein Rau­schen vielleicht.

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amplitude

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tan­go : 18.15 — Ver­gan­ge­ne Nacht sechs Stun­den Schlaf auf­ge­zeich­net. Selt­sa­me Span­nung, wäh­rend ich die Datei in das Ton­be­ar­bei­tungs­pro­gramm lade, um nach Aus­schlä­gen zu suchen. Zunächst das Hupen eines Auto­mo­bils, eine hef­ti­ge Ampli­tu­de. Nach einer wei­te­ren Stun­de der Abdruck einer Feu­er­wehr­si­re­ne. Kurz dar­auf das Rascheln der Bett­de­cke. Gegen 3 Uhr das Geräusch einer Tür. Kann mich nicht erin­nern, spa­ziert zu sein. — stop
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