tango : 17.01 — Im August einmal stehe ich in einer Schlange wartender Menschen. Der Ort: U.S. General Post Office, New York, 8. Straße. Die Zeit: Kurz vor sechs Uhr abends. Ich bin müde, bin weite Strecken durch die Stadt gewandert. Ich denke noch, wenn ich nicht achtsam bin, könnte ich vielleicht im Stehen einschlafen. Ich überlege, ob ich in diesem Falle umfallen oder einfach so schlafend stehen bleiben würde. Draußen ist es höllisch heiß, schwül und feucht, in der Halle des Postamtes eher kühl. Vor mir, so nah, dass ich sie versehentlich umarmen könnte, wartet eine zierliche, ältere Dame, sie ist vielleicht gerade vom Friseur gekommen, ihr Haar, ein bläulich schimmernder Ball, der heftig duftet. Auf ihren Schultern ruht ein Fuchs, der tot ist. Als sie an die Reihe kommt, tritt sie an den Schalter heran, stellt sich auf ihre Zehenspitzen und legt ein Päckchen auf den Tresen ab. Mit einer lässigen Handbewegung schiebt sie die Ware zu einer Postangestellten hin. Die Frauen unterhalten sich. Ich kann nicht jedes Wort verstehen, sie sprechen sehr schnell. Ich meine, zu hören, wie die Postangestellte bemerkt, dass das Päckchen sehr leicht sei, so leicht, als ob in ihm nichts enthalten wäre. Die alte Dame erwidert, in dem Päckchen sei sehr wohl etwas enthalten, nämlich 7 x 1 Stunde Schlaf, die sie einem Freund übermitteln würde, der nahe Boston wohne, ein Geschenk. Daraufhin lacht die Postangestellte mit tiefer Stimme. Sie sagt: Das ist ein unglaubliches Geschenk, sie würde auch einmal sehr gerne etwas Schlafzeit geschenkt bekommen. Kurz darauf dreht sich die alte, zierliche Frau auf dem Absatz um, ein feuerrot geschminkter Mund, gepuderte, helle Haut, winzige blaue Augen. Sie durchquert den Saal nach Norden hin. Kleine Schritte, sehr schnell. Kurz vor einer der Türen, da sie die Richtung korrigieren muss, wird sie beinahe aus der Kurve getragen. — stop
Aus der Wörtersammlung: päckchen
san lorenzo de esmeraldas
kilimandscharo : 6.55 — Am Samstag der vergangenen Woche erreichte mich eine Warensendung, die in einem Dorf namens San Lorenzo de Esmeraldas bereits im Juli aufgegeben worden war. Die kleine Ortschaft liegt nahe der Grenze zu Kolumbien im Dschungel unweit der Pazifikküste, lange Nächte, feuchte Luft, kreischende Tamarine. Das Päckchen, ich hatte lange darauf gewartet, enthielt ein Kästchen von Holz in der Größe einer Zigarrenschachtel, das mittels eines blauen Gummiriemens verschlossen wurde. Ich stellte das Kästchen auf meinen Schreibtisch ab, um es vorsichtig zu öffnen. Feiner, heller Sand wurde sichtbar, Sand, so fein wie gemahlener Kampotpfeffer. Bald arbeitete ich mich mit einem Pinsel vorsichtig in die Tiefe voran, bis ich auf zwei Körper stieß. Es handelte sich um Käferwesen, die deshalb etwas Besonderes darstellten, weil sie je über zwei Köpfe verfügten und über sechs Fühler. die im Moment meiner Besichtigung nicht im Geringsten auf meine Gegenwart reagierten. Nach einer halben Stunde, ich hatte die Käfer bis dahin liebevoll betrachtet, waren endlich Lebenszeichen zu erkennen, die Fühler der Käfer bewegten sich, und ich hob sie aus ihrem Sandbett und sie schlugen mit den Flügeln, als wollten sie mich begrüßen. Ihre Körper waren weich, sie bebten, und sie verströmten einen feinen Duft, der mich an Mandeln erinnerte. Zur ersten Probe setzte ich einen der Käfer an mein linkes Ohr, und der Käfer drang unverzüglich in mich ein, sehr behutsam, bis ich bemerkte, dass seine Fühler mein Trommelfell betasteten. Kurz darauf weitete sich sein Körper, ich hörte ihn knistern, bis er meinen Gehörgang vollständig füllte. Ein Pochen war zu vernehmen, das mich müde werden lies. Kaum hatte ich den zweiten Käfer in das andere meiner Ohren gesetzt, schlief ich ein. Zwölf Stunden lang schlief ich tief und fest, meine Stirn ruhte auf dem Schreibtisch. Als ich erwachte, hatten sich beide Käfer wieder in ihr Sandbett zurückgezogen. Es ist jetzt früher Morgen. — stop
hummingbird
echo : 22.01 — Spätnachmittags höre ich zwei Männer im Treppenhaus. Sie arbeiten sich sehr langsam zu mir unter das Dach hinauf, fluchen, machen immer wieder Pausen. Ich erkenne eine kräftige Hand, die sich am Treppengeländer festhält. Nach einer halben Stunde sind sie angekommen, tragen gemeinsam ein Päckchen, das nicht größer ist, als ein Behälter für Kinderschuhe. Als ich meine Hände ausstrecke, wollen sie mir das Päcken nicht übergeben, es sei zu schwer, sie treten in die Wohnung ein und stellen das Päckchen auf meinen Küchentisch. Tatsächlich ist ein knarrendes Geräusch zu vernehmen, als würde der Tisch Mitteilung machen. Das Päckchen ist so schwer, dass es sich mit dem Tisch zu verbinden scheint, es lässt sich nicht verschieben. Also, beuge ich mich über den Tisch und schnüre das Päckchen auf. Briefmarken, Vogelgemälde, sind zu erkennen, handschriftlich wurde mit großen Buchstaben mein Name aufgetragen, kein Absender, aber ein Stempel der Marshallinseln. Ich erinnere mich, dass sich in dem Päckchen eine metallene Dose befand. In den Deckel der Dose eingestanzt, folgender Schriftzug: hummingbird T778X / puzzle 100000 pieces. Sehr kleine, mit bloßem Auge kaum noch zu unterscheidende Teilchen, die wie eine Flüssigkeit wirkten, befanden sich in dem Transportbehälter. Ich holte einen Löffel und schöpfte einige Teilchen heraus, schüttete sie auf den Tisch und begann sie unter meinem Mikroskop zu drehen und zu wenden. Ich wusste in diesem Moment, ich träumte, dass ich nun sofort für immer verschwinden könnte. — stop
esmeralda
tango : 22.08 — Vor zwei Tagen, später Nachmittag, überreichte mir ein schwer atmender Bote ein Päckchen, auf dessen Anschriftenseite mit wuchtigen Druckbuchstaben eine Anweisung notiert worden war: Do not shake! Der junge Mann, vielleicht um mich zu warnen, deutete auf die Schachtel in seiner Hand und sagte: Ich rieche, dass in diesem Päckchen etwas lebt! Und schon war er wieder auf der Treppe verschwunden. Tatsächlich handelte es sich bei dem Päckchen um einen Lebendtransport, der in der italienischen Hafenstadt Talamone aufgegeben worden war. Eine Schnecke hockte in einer perforierten Schachtel geduckt unter welken Blättern. Als ich das kleine Tier vorsichtig auf einen Teller setzte, machte es zunächst einen sehr müden, erschöpften Eindruck. Sein Haus schien bald vom Körper zu rutschen, auch wurde keinerlei Fluchtversuch unternommen, stattdessen saß die Schnecke nahezu ohne Bewegung und schaute mich an. Selbst, als ich mich mit einem Finger näherte, zog sie sich nicht in ihr Kalkgewinde zurück. Eine halbe Stunde lang betrachteten wir uns geduldig. Dann war später Abend geworden, ich hatte mehrfach telefoniert, der Schnecke ein Apfelstückchen angeboten, das Packpapier, in welches die Sendung eingeschlagen gewesen war, auf der Suche nach einer Botschaft oder einem Absender, eingehend untersucht, und war dann kurz spazieren gegangen. Indessen hatte sich die Schnecke in Richtung der Südwand meiner Küche in Bewegung gesetzt, war von dort aus, eine schimmernde Spur hinterlassend, weiter zur Diele hin gewandert, erreichte dort den Boden, um eine halbe Stunde später mein Arbeitszimmer zu betreten. Derart leise war die Schnecke weitergezogen, dass ich sie beinahe vergessen hätte. Dann war Samstag, der Samstag verging, zwei weitere Stückchen Apfel, und es wurde Sonntag und wieder Abend und es begann zu regnen. In diesem Moment sitzt die Schnecke einen halben Meter hoch über dem Fußboden an der Wand meines Wohnzimmers. Sie scheint zu schlafen. Wiederum ist sie nicht in ihrem Häuschen verschwunden, was höchst merkwürdig ist. — stop
indulin
charlie : 2.12 — Der Versuch in den vergangenen Minuten, Farben zu erinnern, die ich in der Sixtinischen Kapelle vor zwei Wochen noch beobachtet habe. Es ist merkwürdig, diese Farben, die doch von meinen persönlichen Augen aufgenommen wurden, sind in dieser Nacht nur sehr flüchtig verfügbar. Da ist zunächst ein intensives BLAU, ein Wort, wie das Wort BLAU in einer Geschichte der katalanischen Schriftstellerin Mercè Rodoreda, deren Existenz mir wieder in den Sinn gekommen ist: Sie ist weiß und sie ist blau. Das heißt, sie ist weiß wie die weiße Rose, und ganz plötzlich wird sie blau. Ein Insekt färbt sie, so scheint es, aber niemand weiß, wie es das macht. Ein Augenblick der Zerstreutheit und schon ist sie blau. Dieses Insekt trägt in einem Knie, mit fadigem Speichel festgenäht, ein Päckchen, und in diesem Päckchen, umgeben von Eiern und von Blau – reinstes Indulin – ist der Ehemann. Dieser Ehemann schläft den ganzen Tag und bebrütet die Eier, die durch ein Loch in das Päckchen fallen, das in dem Knie ist, woran es festgenäht ist. Wenn die Stunde kommt, kriecht das Insekt der Blume ins Herz, lädt das Päckchen ab, und die Blume, die weiß war, wird blau von oben bis unten. Sie sagen: — Oh, es ist nämlich so, daß der Ehemann, sobald er sich blumenumhüllt sieht, das Päckchen aufbricht und alles von blauem Saft überschwemmt wird und die Eier platzen und die Kleinen sofort losfliegen, jedes mit seinem Päckchen im Knie … einverstanden. Aber das sind bloße Vermutungen. Die Wahrheit ist, daß die Blume in einem Nu blau wird. Wie? Dahinter kommt man nie, und jedermann ist ein bißchen durcheinander und verwirrt. — stop
februarbrief
romeo : 0.15 — Noch war Februar gewesen, da verfasste ich einen Brief an ein Mädchen, das ich bereits kannte, als sie noch nicht laufen konnte. Sie heißt Rosario, was eigentlich nicht ganz richtig ist, weil das natürlich an dieser Stelle nicht ihr wirklicher Name sein darf. Aber dass ich ihr Patenonkel bin, ist eine Tatsache, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Rosario, ein zauberhaftes Wesen, wohnt jetzt in Brooklyn, New York, und zwar in der Hicksstreet nahe eines Hauses, in dem Arthur Miller sein Drama Tod eines Handlungsreisenden notierte. Genau dorthin nun schickte ich meinen Brief, einen papierenen Brief in einem Luftpostumschlag, den ich in ein Päckchen zu einer Büchersendung steckte. Ich schrieb, — ich darf das zitieren, weil ich die Erlaubnis dazu erhalten habe -, folgende Zeilen: “Liebe Rosario, hiermit sende ich Dir ein spektakuläres Buch, einen Katalog Leanne Shapton’s, der mich Tage lang begeisterte. Von einer Liebe wird berichtet, Du solltest sie unbedingt lesen, eine wundervolle, in seltsamer Weise erzählte Geschichte. Was das Buch wohl bei sich denken mag, jetzt da es nach einer Schiffsreise über den Atlantik her, im Flugzeug wieder zurück nach Amerika hin getragen werden wird? Gut, wir werden das vielleicht niemals herausfinden, oder, sag, hast Du gelernt mit den Büchern selbst zu sprechen? Erinnerst Du Dich noch an Abende, da ich Dir vorgelesen habe? Du lagst auf meinem Bauch, eine kleine Katze, und einmal legtest Du Dein Ohr an meine Stirn, und wolltest meine Gedanken hören. Und als Du nichts vernehmen konntest, sagtest Du zu mir mit großen Augen: Du musst lauter denken, Louis, ich kann dich nicht hören! Viel Vergnügen beim Lesen und Schauen wünscht Dir Dein Louis”
mercè rodoreda
0.02 — Eine wunderbare Geschichte habe ich entdeckt, eine Geschichte der katalanischen Schriftstellerin Mercè Rodoreda. Ich darf sie rasch notieren: Sie ist weiß und sie ist blau. Das heißt, sie ist weiß wie die weiße Rose, und ganz plötzlich wird sie blau. Ein Insekt färbt sie, so scheint es, aber niemand weiß, wie es das macht. Ein Augenblick der Zerstreutheit und schon ist sie blau. Dieses Insekt trägt in einem Knie, mit fadigem Speichel festgenäht, ein Päckchen, und in diesem Päckchen, umgeben von Eiern und von Blau – reinstes Indulin – ist der Ehemann. Dieser Ehemann schläft den ganzen Tag und bebrütet die Eier, die durch ein Loch in das Päckchen fallen, das in dem Knie ist, woran es festgenäht ist. Wenn die Stunde kommt, kriecht das Insekt der Blume ins Herz, lädt das Päckchen ab, und die Blume, die weiß war, wird blau von oben bis unten. Sie sagen: — Oh, es ist nämlich so, daß der Ehemann, sobald er sich blumenumhüllt sieht, das Päckchen aufbricht und alles von blauem Saft überschwemmt wird und die Eier platzen und die Kleinen sofort losfliegen, jedes mit seinem Päckchen im Knie … einverstanden. Aber das sind bloße Vermutungen. Die Wahrheit ist, daß die Blume in einem Nu blau wird. Wie? Dahinter kommt man nie, und jedermann ist ein bißchen durcheinander und verwirrt. — stop