~ : geraldine
to : louis
subject : WALFISCHE
Ich habe das Mittagessen verschlafen. Vormittags war ich schon auf dem Hauptdeck, schönstes Wetter, keine Wolke am Himmel, das Meer ganz ruhig. Papa hat mich hochgetragen, es ist anstrengend für ihn, obwohl er nicht sehr alt ist, aber ich bin kein leichtes Mädchen. Papa sagte, man habe ihm von Walen erzählt, die auf dem Radarschirm sichtbar gewesen seien. Es ist also möglich, dass ich heute Wale sehen werde. Merkwürdig, ich sage immer Wale, aber ich denke Walfische. Und so wartete ich auf die Walfische und während ich wartete, bin ich eingeschlafen. Es war sehr warm geworden unter der Decke, die Papa über mich gebreitet hatte. Als ich aufwachte, war das Mittagessen längst vorbei und der junge Mann, der Stewart, von dem ich Ihnen schon geschrieben habe, saß neben meiner Liege auf dem Boden. Er hatte ein Fernglas dabei. Ich glaube, er hatte das Fernglas für mich mitgebracht. Ich habe zuerst noch so getan, als würde ich schlafen, und habe ihn mir angeschaut, Sie verstehen, Mr. Louis, Sehschlitzaugen. Er ist hübsch. Er mag die Sonne. Er mag die Sonne sehr. Und fast bin ich mir sicher, dass er mich wie die Sonne mag. Oft ist er in meiner Nähe. Wenn er nur nicht immer so traurig schauen würde. Mal sieht er mich verliebt an, dann wieder, als würde es regnen in seinem Herzen. Vielleicht weiß er, dass ich sehr krank bin, ja, vielleicht weiß er das, und trotzdem ist er verliebt. Das wär schön, wenn er sich in mich verlieben könnte, obwohl er weiß, dass ich sehr krank bin. Ich habe mir oft gedacht, dass ich alleine bin, einsam, weil die jungen Männer mit einem kranken Mädchen keine Liebe haben wollen, obwohl ich ein schönes Mädchen bin. Oh, wie glücklich wäre ich, wenn er alles von mir wüsste. Ich müsste nichts verbergen. Wale haben wir bislang keine gesehen. Vielleicht später, vielleicht am Abend. – Ihre Geraldine auf hoher See
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 16.11.2008
22.27 MEZ