ulysses : 22.46 MESZ — Seit einigen Jahren, ich muss das schnell erzählen, kaufe ich immer wieder einmal ein digitales Buch, obwohl ich mir vorgenommen hatte, papierenen Büchern, die ich in die Hand zu nehmen vermag, treu zu bleiben, ihren Geräuschen und ihrem Duft. Nun ist das zunächst so gewesen, dass ich Romananfänge in der digitalen Sphäre zu sammeln begann. In meiner kleinen handlichen Schreibmaschine waren bald über eintausend Leseproben versammelt. Melvilles Erzählung Bartleby war der erste digitale Text gewesen, den ich zu mir holte. Etwas später folgten Dostojewskij, Auster, DeLillo, Humboldt, John Dos Passos. Plötzlich bemerkte ich, dass mir John Dos Passos’ Buchtext Manhattan Transfer fehlen würde, ich meine, dieser wundervolle Roman als wirkliches Buch, das in meinem Bücherregal stehen würde, sichtbar sein Rücken, dieses Buch habe ich gelesen. Auch Humboldt Ansichten der Natur würde fehlen und Austers Roman 4321. Ich ertappte mich bei der Überlegung, ein Stück Holz in mein Regal zu stellen in der ungefähren Größe des originalen papierenen Buches. Ich dachte, ich könnte das Stück Holz mit einem Buchrücken versehen, einer Kopie, ich könnte demzufolge, eine Instanz des digitalen Buches kreieren, die mir anzeigt, dass ich das Buch besitze, dass ich es gelesen habe oder bald einmal lesen könnte. Oder die Instanz eines Buches, das überhaupt noch als ein papierenes Buch zu schreiben wäre: #HongKongProtests — stop
Aus der Wörtersammlung: leseproben
landungsbrücken
ginkgo : 6.55 — M. ist verschwunden. Freunde suchen nach ihm. Sie rufen bei mir an und fragen, ob er vielleicht bei mir untergekommen sein könnte. Ich habe M. seit zwei Jahren weder gesehen noch von ihm gehört. Dass er untergetaucht sein könnte, wundert mich nicht. Ich erinnere mich gut an ihn. Er hatte kein Geld, war wirklich arm. Einmal erwähnt er, er habe seit einigen Jahren kein einziges Buch zu Ende gelesen. Auch sei er niemals in einer Buchhandlung gewesen. Trotzdem habe er sehr viel gelesen. Er mache das so. Er lade sich Leseproben auf sein Lesegerät aus dem Internet. Diese Proben lese er dann immer wieder, es ginge ihm um den Klang der Sprache, nicht so sehr um die Geschichten selbst. Er suche regelrecht nach Leseproben, die frei verfügbar sind. Er habe zurzeit über 6000 erste Seiten gespeichert, die sich in seinem Kopf wie Landungsbrücken verhielten. Er spaziere einige Satzmeter weit aufs Meer hinaus, dann gehe es nicht weiter, das feste Land sei entfernt und sehr viel Raum vorhanden, in welchen man sich stürzen und davonschwimmen könne. — stop