sierra : 18.02 — Abend. Die Fenster geöffnet, es regnet, für einen Moment ist Herbst geworden. Höre ein Interview, das ich mit Ismene, einer Medizinstudentin, in München führte. Sie erzählt mit ruhiger Stimme folgende Geschichte: > Wie wir angefangen haben? Ich erinnere mich gut. Ich hatte kaum geschlafen. Endlich sollte es losgehen. Als ich dann im Präpariersaal vor dem Tisch stand, war ich erst einmal irritiert vom Anblick des Leichnams. Ich glaube, alle meine Kolleginnen und Kollegen waren irritiert gewesen, mindestens waren sie beeindruckt. Wenn man unsicher ist, schaut man nach, was die anderen tun. Und wenn die Blicke einander begegnen, lächelt man. Ich habe diese erste Situation vor dem Tisch als sehr authentisch empfunden, als ehrlich und unmittelbar. Wir hatten nur unsere Augen, unsere Hände, also unseren Tastsinn, ein Skalpell und eine Pinzette, um den Körper, der uns zur Verfügung gestellt war, zu untersuchen. Natürlich arbeiteten wir auch mit unserem Gehörsinn. Wir waren acht Leute an jedem der 52 Tische, und wir diskutierten, was wir gesehen haben. An diesem ersten Tag aber waren wir eher still gewesen. Ich glaube, jeder von uns musste zunächst einmal mit sich selbst zurechtkommen. Das waren ja sehr kräftige Eindrücke. Ich habe mir, um mich vor dem scharfen Geruch zu schützen, ein Tuch in die Brusttasche gesteckt, das ich in Eukalyptusöl getaucht hatte. Und da war nun diese alte Frau gewesen. Sie lag vollkommen unbekleidet auf dem Tisch vor uns. Ich habe gewusst, dass dieser Moment kommen würde, aber man kann sich auf den Augenblick einer ersten Begegnung dieser Art nicht wirklich vorbereiten. Vielleicht hatten wir deshalb mit hoher, zupackender Geschwindigkeit die rote Decke und das weiße Tuch, die den Leichnam vor Austrocknung schützen, angehoben, weil wir unserer Unsicherheit Aktivität entgegensetzen wollten. Ich war sehr bewegt und ich war unruhig und ich schämte mich für meinen sachlichen Blick, der das Gewicht der alten Dame schätzte und ihre Größe. Sie lag rücklings auf dem Tisch. Ihre Beine und Arme waren ausgestreckt. Wenn sie noch am Leben gewesen wäre, würde sie vermutlich versucht haben, sich zu schützen. Sie hätte ihre kleinen, flachen Brüste mit Händen bedeckt und ihre Scham, und sie hätte vielleicht irgendeine abwehrende Geste unternommen. Ich sehe ihr Gesicht, ihre geschlossenen Augen noch sehr genau vor mir. Ein feines Gesicht. Das Formalin hatte ihr kaum zugesetzt, an ihrem Körper war keine weitere Narbe zu finden als ein Schnitt an der Innenseite des linken Oberschenkels, der von einer Kanüle der Präparatoren verursacht worden war. Und wenn ich jetzt sage, dass sie sehr echt aussah, wirklich, verletzlich, dann komme ich der Ursache meiner Irritation vielleicht näher. Verstehen Sie, die alte Dame war mir ähnlich. Ich bemerkte eine Frau, eine Frau, die nur durch ein wenig Zeit von mir getrennt war. Ich sah eine Person und ich fürchtete, sie in ihrer Ruhe zu stören, und deshalb sprach ich leise. Auch meine jungen Freunde am Tisch sprachen sehr leise, zurückhaltend, behutsam. Ich sah, dass ihre Hände in den Latexhandschuhen schwitzten und auch, dass sie ein wenig zitterten, während sie arbeiteten. Die Hände der alten Dame wirkten, als hätte sie zu lange gebadet. Das waren sehr feine Hände. Sie hatte zuletzt noch ihre Fingernägel bemalt in einem hellen Rot. Sie hatte sich noch geschmückt. Sie wollte schön sein! Immerzu musste ich ihre Hände betrachten. — stop