~ : geraldine
to : louis
subject : GERALDINE WÜNSCHT
Seit zwei Tagen fahren wir sehr langsam im Kreis auf dem Atlantik herum. Ich kann das noch immer nicht glauben. Als ob mein sehnlicher Wunsch, Southampton niemals zu erreichen, in Erfüllung gehen würde. Vielleicht träume ich das alles nur. Oder ich bin in meinem Hoffen so weit gekommen, dass alle Wünsche in Erfüllung gehen. Irgendjemand sagte, wir würden Schiffbrüchige suchen. Ein Gerücht nehme ich an. Wir Menschen brauchen immer Gerüchte, wenn etwas geschieht, das ungewöhnlich ist. Wir könnten noch Jahre so herumfahren, ich hätte nichts dagegen. Würde an der Reling sitzen und die Farben des Wassers beobachten. Heute ist das Meer von einem hellen Blau, silbern glänzt es, weil uns Fische begleiten, deren Rücken weiß und grün im Licht der Sonne glitzern. Ich kann meinen Blick nicht abwenden von diesem Wasserlicht, für das ich keine Worte finde. Gestern, Mr. Louis, habe ich meine seidenen Handschuhe getragen hier oben an Deck in der kalten Luft, meine feinen Handschuhe zum Tanzen, Handschuhe, die nur ein Hauch sind, meine Haut schimmerte durchs Gewebe. Natürlich hatte ich noch Fäustlinge darüber gezogen. Als der Stewart kam, – Sie wissen, der junge Mann, von dem ich schon erzählte, – habe ich sie ausgezogen und ihm heimlich meine kleinen Hände dargeboten. Lange habe ich so gestanden und zugesehen, wie er sie betrachtete, ohne sie zu berühren. Meine Knie, Mr. Louis, haben gezittert, weil ich unendlich schwach geworden bin, aber dieser Blick auf meine Hände, dieser Blick, der meine Hände liebte, hatte mir Kraft gegeben und auch das Wünschen und dass wir Southampton niemals erreichen werden. – Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 20.12.2008
22.12 MEZ