echo : 0.12 — Ihr Sohn heißt Miran, ihre Tochter Shirin. Sie selbst wurde im Osten der Türkei geboren, ihre Kinder, 12 und 14 Jahre alt, in der Bundesrepublik Deutschland. Einen Mann gibt es nicht mehr. Sie arbeitet in einem Café, eine fröhliche, zierliche Frau, ihr Haar ist pechschwarz, eigentlich bereits grau oder weiß. Seit sie im Café arbeitet, ruhen unter Beeren-Muffins, Schwarzwälderkirsch Torte, Käsekuchen und Apfelstrudelscheiben, auch kurdische Plätzchen, Kulice, mit Walnüssen, Mandeln, Zimt und Zucker gefüllt. Ich weiß schon von der ein oder anderen wilden Geschichte, die sie erlebte, kurze Geschichten sind das, eilig während einer Tasse Kaffee erzählt, eigentlich kleine Romane, weil ich sie nicht vergessen kann, weil sie sich erzählen wie von selbst. Gestern ist eine weitere Geschichte hinzugekommen. Anisun berichtete, sie werde am kommenden Wochenende nach einem Weihnachtsbaum suchen wie jedes Jahr um diese Zeit, doch, doch, nach einem Weihnachtsbaum, in diesem Jahr sei sie spät dran, ja, ja, mit allem, was man sich denken kann, aber elektrische Kerzen, schon immer, seit die Kinder in die Schule gehen, komme ein Baum ins Haus, ja, wir sind Aleviten, auch die Kinder, aber immer haben wir Weihnachten gefeiert, man trifft sich, Freunde, Schwestern, Brüder, Onkel, Tanten, und kocht und freut sich, und die Kinder bekommen Geschenke, doch, doch, du brauchst dich nicht zu wundern, wir feiern gern, ja, ja, wir fürchten uns, eine Handvoll Furcht, es ist ein schlimmes Jahr gewesen, auch für uns Aleviten, das ist meine Heimat hier, und wieder fürchte ich mich, wir sprechen nicht viel darüber, wir hoffen, dass es nicht näher kommt. — stop
Aus der Wörtersammlung: aleviten
ein leises pfeifen
bamako : 2.25 — Eine kurdische Freundin alevitischen Glaubens erzählte mir eine Geschichte, die eigentlich keine Geschichte ist, sondern ein Bericht, weil sie persönlich mehrfach erleben musste, wie ihre Tochter eine Freundin mit nach Hause brachte, eine junge Kurdin sunnitischen Glaubens, die zwar mit der Tochter Zeit verbringen, aber nicht mit der Familie essen wollte, weil sie fürchtete, vielleicht vergiftet zu werden. Ich beobachtete einen tiefen Schmerz in den Augen meiner Freundin, während sie erzählte, und auch Zorn und Enttäuschung. Sie erklärte: Das sind die Eltern, die ihre Kinder impfen. Wir Aleviten sind gefährliche Leute, verstehst Du, wir sind lebensgefährliche Leute. Ich fürchte, das alles geht ein Leben lang nicht mehr aus den armen Kinderseelen raus! – Es ist jetzt 0 Uhr und 55 Minuten. Nicht wahr, das ist eine wirklich merkwürdige Begebenheit, die ich in dieser Nacht notiere, um sie nicht zu vergessen. Überhaupt vergesse ich zurzeit recht viel. Vor einigen Tagen, während ich mit einer weiteren Freundin telefonierte, machte ich eine kurze Pause, um Kaffee zu kochen. Ich bat meine Freundin in der Leitung zu bleiben und stand also in der Küche und erhitzte das Wasser, als eine Taube auf dem Fensterbrett landete. Immer, wenn ich eine Taube sehe, denke ich an Wolfgang Koeppen. Ich habe Wolfgang Koeppen einmal in München in einem Kino beobachtet, einen gebückt gehenden, alten Mann mit Brille, der sich sehr langsam bewegte. Niemand schien ihn erkannt zu haben, worüber ich mich damals wunderte. Ich erinnere mich genau, ich wunderte mich viele Tage lang und überlegte, ob ich Wolfgang Koeppen nicht einen Brief schreiben sollte, um ihm zu erzählen, dass ich ihn gesehen habe, im Kino und dass ich mich darüber sehr freute. Plötzlich hörte ich vom Tisch her, auf dem mein Telefon lag, ein leises Pfeifen. Das Pfeifen kam tatsächlich aus dem kleinen Apparat heraus. Als ich das Telefon anhob, wurde das Pfeifen lauter und lauter, und meine Freundin erzählte nur Sekunden später, sie habe nicht mehr daran geglaubt, dass ich sie noch hören würde oder mich an sie erinnern. Sie habe meine Schritte deutlich gehört, außerdem soll ich mit mir selbst gesprochen haben. – stop