himalaya : 6.52 — Ich weiß nicht wie viel ich zitieren darf. Aber ich will das zitieren, aufbewahren, festhalten, verweisen. Wolfgang Herrndorf zählt in seinem Blog Arbeit und Struktur Monate. Im April notiert er von Essaouira aus: 26.4. 11:46 Drei oder vier asynchrone Muezzins. Auf der Hoteldachterrasse in praller Sonne sitzend und arbeitend, überrascht mich die Meldung vom Tod einer Brieffreundin aus Freiburg. Ihre Erstdiagnose war im Dezember 2010, nach jeder von drei Operationen wuchs das Glioblastom sofort weiter. Im Gegensatz zu mir machte sie sich große Hoffnungen, klammerte sich an neue Mittel und suchte in Studien reinzukommen. Vor zwei Monaten mailte sie: Tamoxifen scheint zu wirken, neuer Herd löst sich auf, alte, bestrahlte Stelle unverändert. Vor fünf Tagen starb sie. / Eine Freundin von ihr schreibt, sie sei zuletzt rund um die Uhr betreut worden, selbst zum Tippen zu schwach. Der Versuch, sie mit den Mitteln der Palliativmedizin in einen stabilen Zustand zu bringen, hatte wenig Erfolg. Auch im Hospiz kam sie nicht zur Ruhe und schrie die Nacht durch vor Angst. Die offensichtliche Kraft, die zum Schreien vorhanden war, habe, so die Freundin weiter, im krassen Gegensatz zum geschwächten Gesamtzustand gestanden. Die Ärzte konnten sie nur beruhigen, indem sie sie komplett sedierten. Sie hat die durchschnittliche Lebenserwartung von siebzehn Monaten knapp verfehlt, in der ungünstigen MGMT–Gruppe gehörte sie noch zu den glücklicheren 15 Prozent. / Unten in der Hotellobby finde ich Per und Lars, an denen ich mich festhalten kann zum Glück. / 26.4. 18:46 Hinter den anderen her durch die Medina auf der Suche nach dem nördlichen Strand und der Fabrik, in der Per seine Schatullen herstellen läßt. Das Gewimmel der vor sich hin krepelnden Menschen, die aus Müll und Abwasser gemachten Straßen, der Gestank, das Geschrei, der Schmutz alles Lebendigen lassen mich umkehren. Sofort verlaufe ich mich. Zweimal renne ich die verstopfte Hauptstraße hoch und runter, bis ich endlich die mit einem Stadttor markierte Abzweigung zum Hotel gefunden habe. / Dann Badehose, dann Spaziergang zum leer und befreiend vorgestellten, aber vermüllten und von Quads zerfetzen südlichen Strand, der vor zwei Jahren noch schön gewesen war. Ich gehe so weit ich kann und über den Fluß und zurück, um wenigstens erschöpft zu sein für den Abend. Ich versuche, mir eine Vorstellung davon zu machen, was es bedeutet, eine Nacht durchzuschreien vor Angst. Ich könnte nicht einmal sagen, ob es Empathie ist oder Selbstmitleid. Ich denke nicht nach. / Auf dem Weg zum Italiener verliere ich erneut die Orientierung und bin froh, als ich endlich im Bett liege und der Muezzin zum hundertsten Gebet des Tages ruft. Ein großer, mächtiger, tödlicher Gott, der so anhaltend bebetet werden muß. [tbc] > Impressum