Aus der Wörtersammlung: orientierung

///

ai : MEXICO

aihead2

MENSCHEN IN GEFAHR : “Der Men­schen­recht­ler Herón Six­to López ist im mexi­ka­ni­schen Bun­des­staat Oaxa­ca ver­schleppt und getö­tet wor­den. Amnes­ty Inter­na­tio­nal befürch­tet, dass auch sei­ne Fami­lie und Kol­le­gIn­nen in Gefahr sind. Am 20. Juli wur­de die Lei­che des Men­schen­rechts­ver­tei­di­gers Herón Six­to López nahe der Gemein­de San Sebas­tián Teco­maxt­la­huaca im Bun­des­staat Oaxa­ca im Süden Mexi­kos gefun­den. Sie wies min­des­tens sechs Schuss­wun­den auf. Herón Six­to López war am 15. Juli als ver­misst gemel­det wor­den; an die­sem Tag war er zuletzt in sei­nem Büro des Ori­en­tie­rungs- und Bera­tungs­zen­trums für indi­ge­ne Völ­ker (Cen­tro de Ori­ent­a­ción y Ase­so­ría a Pue­blos Indí­ge­nas — COAPI) gese­hen wor­den. Sein Ver­schwin­den wur­de bei der Staats­an­walt­schaft von Oaxa­ca in Jux­tla­huaca offi­zi­ell ange­zeigt. / Herón Six­to López setz­te sich in loka­len Gemein­den für die Rech­te indi­ge­ner Grup­pen ein. So ver­trat er bei­spiels­wei­se das indi­ge­ne Volk der Mix­te­ken in Land­strei­tig­kei­ten. In den letz­ten Mona­ten sei­nes Lebens hat­te er zahl­rei­che anony­me Anru­fe erhal­ten. Einer der Anru­fer sag­te ihm offen­bar, dass man ihn “ver­schwin­den” las­sen wür­de. Seit sei­nem Tod haben sei­ne Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen Vor­fäl­le ange­zeigt, die den Schluss nahe­le­gen, dass sie sich eben­falls in Gefahr befin­den. Am 21. Juli wur­de die Fami­lie nach der Beer­di­gung von Herón Six­to López von einem Auto ver­folgt. / Die Umstän­de, die zum Tod von Herón Six­to López führ­ten, müs­sen noch in vol­lem Umfang geklärt wer­den. Dabei ist es aller­dings wich­tig, dass ein etwa­iger Zusam­men­hang mit sei­ner Men­schen­rechts­ar­beit umfas­send unter­sucht wird.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 5. Sep­tem­ber 2013 hin­aus, unter »> ai : urgent action

ping

///

wolfgang herrndorf : arbeit und struktur

2

hima­la­ya : 6.52 — Ich weiß nicht wie viel ich zitie­ren darf. Aber ich will das zitie­ren, auf­be­wah­ren, fest­hal­ten, ver­wei­sen. Wolf­gang Herrn­dorf zählt in sei­nem Blog Arbeit und Struk­tur Mona­te. Im April notiert er von Essaoui­ra aus: 26.4. 11:46 Drei oder vier asyn­chro­ne Muez­zins. Auf der Hotel­dach­ter­ras­se in pral­ler Son­ne sit­zend und arbei­tend, über­rascht mich die Mel­dung vom Tod einer Brief­freun­din aus Frei­burg. Ihre Erst­dia­gno­se war im Dezem­ber 2010, nach jeder von drei Ope­ra­tio­nen wuchs das Glio­blas­tom sofort wei­ter. Im Gegen­satz zu mir mach­te sie sich gro­ße Hoff­nun­gen, klam­mer­te sich an neue Mit­tel und such­te in Stu­di­en rein­zu­kom­men. Vor zwei Mona­ten mail­te sie: Tam­oxi­fen scheint zu wir­ken, neu­er Herd löst sich auf, alte, bestrahl­te Stel­le unver­än­dert. Vor fünf Tagen starb sie. / Eine Freun­din von ihr schreibt, sie sei zuletzt rund um die Uhr betreut wor­den, selbst zum Tip­pen zu schwach. Der Ver­such, sie mit den Mit­teln der Pal­lia­tiv­me­di­zin in einen sta­bi­len Zustand zu brin­gen, hat­te wenig Erfolg. Auch im Hos­piz kam sie nicht zur Ruhe und schrie die Nacht durch vor Angst. Die offen­sicht­li­che Kraft, die zum Schrei­en vor­han­den war, habe, so die Freun­din wei­ter, im kras­sen Gegen­satz zum geschwäch­ten Gesamt­zu­stand gestan­den. Die Ärz­te konn­ten sie nur beru­hi­gen, indem sie sie kom­plett sedier­ten. Sie hat die durch­schnitt­li­che Lebens­er­war­tung von sieb­zehn Mona­ten knapp ver­fehlt, in der ungüns­ti­gen MGMT–Gruppe gehör­te sie noch zu den glück­li­che­ren 15 Pro­zent. / Unten in der Hotel­lob­by fin­de ich Per und Lars, an denen ich mich fest­hal­ten kann zum Glück. / 26.4. 18:46 Hin­ter den ande­ren her durch die Medi­na auf der Suche nach dem nörd­li­chen Strand und der Fabrik, in der Per sei­ne Scha­tul­len her­stel­len läßt. Das Gewim­mel der vor sich hin kre­peln­den Men­schen, die aus Müll und Abwas­ser gemach­ten Stra­ßen, der Gestank, das Geschrei, der Schmutz alles Leben­di­gen las­sen mich umkeh­ren. Sofort ver­lau­fe ich mich. Zwei­mal ren­ne ich die ver­stopf­te Haupt­stra­ße hoch und run­ter, bis ich end­lich die mit einem Stadt­tor mar­kier­te Abzwei­gung zum Hotel gefun­den habe. / Dann Bade­ho­se, dann Spa­zier­gang zum leer und befrei­end vor­ge­stell­ten, aber ver­müll­ten und von Quads zer­fet­zen süd­li­chen Strand, der vor zwei Jah­ren noch schön gewe­sen war. Ich gehe so weit ich kann und über den Fluß und zurück, um wenigs­tens erschöpft zu sein für den Abend. Ich ver­su­che, mir eine Vor­stel­lung davon zu machen, was es bedeu­tet, eine Nacht durch­zu­schrei­en vor Angst. Ich könn­te nicht ein­mal sagen, ob es Empa­thie ist oder Selbst­mit­leid. Ich den­ke nicht nach. / Auf dem Weg zum Ita­lie­ner ver­lie­re ich erneut die Ori­en­tie­rung und bin froh, als ich end­lich im Bett lie­ge und der Muez­zin zum hun­derts­ten Gebet des Tages ruft. Ein gro­ßer, mäch­ti­ger, töd­li­cher Gott, der so anhal­tend bebe­tet wer­den muß. [tbc] > Impres­sum

ping

///

PRÄPARIERSAAL : kreide

2

del­ta : 22.56 — Gewit­ter­him­mel. Abend. Mos­ki­t­o­fi­sche segeln von Zim­mer zu Zim­mer. Seit zwei Stun­den Juli­an, sei­ne tie­fe Ton­band­stim­me. Selt­sam ist, dass ich mich an Juli­ans Gesicht nicht erin­nern kann. Zeit und Ort der Ton­band­auf­nah­me, ein klei­nes Café in Schwa­bing zu Mün­chen, sind hin­ge­gen sofort erreich­bar. Sams­tag. Win­ter. Sobald sich die Tür des Cafés öff­ne­te, weh­te Schnee­wind her­ein. > Wir haben zunächst das Prä­pa­rat auf dem Tisch her­um­ge­dreht. Aber das sagt sich so leicht. Man kann das Prä­pa­rat nicht allei­ne her­um­dre­hen. Das Prä­pa­rat ist zu schwer, um von einer Per­son auf einem schma­len Tisch her­um­ge­dreht wer­den zu kön­nen. Wir haben das Prä­pa­rat gemein­sam bewegt. Ein inten­si­ver Moment. Wir schwit­zen. Wir hal­ten den Atem an. Das Prä­pa­rat ist feucht. Eine Hand hält den feuch­ten Kopf des Prä­pa­ra­tes, eine wei­te­re Hand einen feuch­ten Arm, Hän­de hal­ten feuch­te, küh­le Schen­kel, einen feuch­ten, küh­len Rücken, einen feuch­ten, küh­len Nacken. Wir haben noch nicht an Tie­fe gewon­nen, wir haben noch kei­nen Schnitt gesetzt. Wir sind noch am Anfang. Wir sind noch am ers­ten Tag. Wir haben noch nicht dar­über geschla­fen. Ich sehe, wie ich ein Stück Krei­de in die Hand neh­me. Ich neh­me die­ses Stück Krei­de in die rech­te Hand. Mit der lin­ken Hand tas­te ich über den Rücken mei­nes Prä­pa­ra­tes. Ich ertas­te Untie­fen, Kno­chen, fes­te Struk­tu­ren, die mei­nen Fin­gern Ori­en­tie­rung bie­ten. Sobald ich mit der lin­ken Hand eine Untie­fe, einen Kno­chen­punkt ertas­tet habe, zie­he ich mit der rech­ten Hand einen Kreis. Wenn ich mit der Krei­de den Kör­per berüh­re, gibt der Kör­per nach. Mein Fin­ger ist ein Werk­zeug des Tas­tens, die Krei­de ein Werk­zeug des Beschrei­bens. Ich zeich­ne dem Prä­pa­rat die Form eines Her­zens auf die Brust. Ich zeich­ne einen Magen auf den Bauch. Ich zeich­ne in die Tie­fe eine Nie­re links, eine Nie­re rechts. Ich habe die Ver­mu­tung eines Her­zens, ich habe die Ver­mu­tung eines Magens, ich habe die Ver­mu­tung einer Nie­re da und einer Nie­re dort. Das Prä­pa­rat ist ohne Geräusch. Es ist merk­wür­dig, alles scheint schon sehr lan­ge her zu sein, und doch habe ich den Ein­druck, dass kaum Zeit ver­gan­gen ist. Das Prä­pa­rat auf dem Tisch, die­ser Mensch, ist fast ver­schwun­den. — stop