india : 7.00 — Weder darf ich ihren Namen verraten, noch in welcher Stadt sie wohnt oder für wen sie arbeitet. Alles andere darf ich erwähnen, dass sie wirkt, als sei sie einem Fellini-Film entkommen, zum Beispiel. Sie trägt blaue Turnschuhe, helle Seidenstrümpfe und einen grauen, kurzen Mantel mit einem Pelzkragen, der nicht echt ist oder doch, ich kann es nicht sagen. Wenn sie auf ihren langen, äußerst dünnen Beinen vor mir steht, überragt sie mich um einen halben Kopf, kann somit meinen Scheitel betrachten, was nie geschieht, weil sie mir stets auf oder in die Augen schaut, wenn wir miteinander sprechen. Auch dann nämlich schaut sie mir in die Augen, wenn ich ihren Blick nicht erwidere, weil ich gerade irgendeinen anderen Ort ihrer Erscheinung besichtige. An ihrem Hals sitzt ein grüngelber Schmetterling, der zu einem Tattoo gehört, das längst ihren halben Körper bedecken soll. Ich habe einmal einen flüchtigen Eindruck des Hautgemäldes erhalten, als sie mir ihren Bauch zeigte. Ich war begeistert, aber auch ein wenig erschrocken gewesen, ich konnte ihre Rippen sehen, so dünn ist sie, so zerbrechlich, dass man sie als eine Hungerkünstlerin bezeichnen könnte, eine, die gerade so wenig isst, dass sie daran nicht stirbt. Überhaupt, ja, überhaupt das Leben, es ist nicht leicht, das sagt sie mit einer tiefen Stimme. Ihr Mund ist ein kleiner Mund, ihre Augen sind grau, ihr Haar reicht bis fast zu den Kniekehlen herab. Jeder Mann, aber auch alle Frauen drehen sich nach ihr um, wenn sie erscheint und wieder verschwindet. Unlängst hatte sie einen kleinen Koffer gepackt und war mit ihm nach Kairo geflogen. Ich fragte, ob sie sich nicht gefürchtet habe. Nein, antwortete sie, es sei ihr nicht so wichtig am Leben zu bleiben, weil sie eigentlich nicht sehr gerne lebe, das sei schon immer so gewesen, weswegen sie nur ungern trinken und essen würde. Um ein Schälchen Haferflocken zu sich nehmen zu können, muss ein halber Tag vergehen. Das ist für ein Schälchen Haferflocken eine lange Zeit. Sie lacht jetzt. Wenn doch die Männer nicht immer dasselbe wollten, na, Du weißt! Der Künstler, der ihr das Hautgemälde fertigte, habe ihr gesagt, dass er sich fürchtet über ihren blanken Rippen mit der Nadel zu arbeiten. Wieder lacht sie, ein wärmendes Geräusch. — stop
Aus der Wörtersammlung: hungerkünstler
verona
MELDUNG. Durch Minenkraft wurden bei Breza 1 Kuh und 1 Baum gefällt, bei Dobrace 1 Hirte. Auf dem Marktplatz zu Konjic detonierte 1 Handgranate russischer Herkunft. All das bereits gestern gegen Abend zu. 6 Hungerkünstler europäischer Herkunft werden hingegen heute, Donnerstag, 7. November, 1 Hungerkünstler afrikanischer Herkunft zu sich nehmen. Zeit: 15 Uhr MEZ. Ort: Arena di Verona. Nur für Erwachsene. Eintritt frei. — stop