india : 5.58 — Zwei Fotografien, die möglicherweise nicht mehr existieren, zeigen den Kopf eines älteren Mannes ohne Haare, dessen Mund weit geöffnet ist. In diesem weitgeöffneten Mund hockt ein kleiner schwarzer Vogel von rotem Stirngefieder. Der Vogel scheint sich in dem Mund des alten Mannes wohlzufühlen, er kauert dort als wäre der Mund sein Nest. Weitere Vögel sind auf dem Bild zu erkennen, die dem Vogel im Mund des Mannes gleichen, dunkles Gefieder, das über ihren Augen hellrot leuchtet. Vier Vögel sitzen auf dem Kopf des alten Mannes, fünf auf seinen Schultern, von einem Vogel ist am linken Rand der Fotografie nur ein Schwanz zu erkennen, 12 Vögel befinden sich schwirrend in einem Orbit um den Kopf in der Höhe der Ohren, es sieht so aus als wären diese Vögel Kopfvögel, eine Spezies für sich, wie Putzerfische vielleicht, die Mondfische ein Leben lang begleiten. Auf einer zweiten Fotografie, von der sich nicht sagen lässt, ob sie vor oder nach der beschriebenen Aufnahme gefertigt wurde, zeigt sich der Mund des alten Mannes geschlossen, er lächelt. Strahlend blaue Augen sitzen hinter einer Brille, in deren Gläsern sich irgendein warmes Licht spiegelt. Als ich beide Bilder vor einiger Zeit nebeneinander legte, begann ich unverzüglich jene Vögel, die sich um den Kopf des Mannes herum bewegten oder auf ihm saßen, jeweils sorgfältig zu zählen. — stop
Aus der Wörtersammlung: orbit
im orbit
india : 18.16 — Die zärtlichste Art und Weise, einen Menschen zu berühren, ist vielleicht die Berührung durch Vorstellungskraft. stop. Mut. stop. Mut zur Erinnerung. stop. Das schweigende, vertraute Gehen in den Bergen. stop. Zitronenfalter. stop. Ein fröhliches Lachen, das Dohlenvögel lockte. stop. Wolken. stop. Gemeinsame Wolken. stop. Der Geschmack von Apfelscheiben. stop. Zeitlos sein. stop. Leicht und von Sorgen frei. stop. Geborgen. stop. Und Namen, Namen wie erfunden: Müllnerhorn. stop. Kolibrispitze. stop. Auf den Pfaden der Blick über die Schulter zurück: Bist du noch da? stop. Das Geräusch einer Glocke seit ungezählten Jahren in einer Pumpenradstation. stop. Das rieselnde Geräusch des Salzwassers. stop. Ein gebrochener Arm, der Zeit für Nähe spendet. stop. Eine Tasse Kaffee am Morgen im Aufbruch, ein warmer Kuss, ein Lächeln. stop. Das Schnurren einer Katze am Telefon. stop. Der süße Duft eines Ohres. stop. Ein roter Koffer, und im Winter Geistermasken, und wie man Feuer in einem Kachelofen entfacht. stop. Ja, wo bist Du, bist Du noch da? stop. Immer wieder das Wort Seelenortfeder in diesen Tagen, das ich am 20. Oktober 2010 entdeckte und sofort verschenkte. — stop