Aus der Wörtersammlung: vorstellungskraft

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am telefon

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marim­ba : 17.55 UTC — Plötz­lich kracht es. Sie muss wäh­rend unse­res Gesprä­ches in irgend­et­was gebis­sen haben. Ja, sagt sie, ich habe furcht­ba­ren Hun­ger, war den gan­zen Tag in irgend­wel­chen Sit­zun­gen, ich muss etwas essen, ich habe gera­de in einen Apfel gebis­sen. — Das war wohl ein sehr fes­ter Apfel, bemer­ke ich. Willst Du mal eine Bana­ne hören, fragt sie? Das Meer vor Thes­sa­lo­ni­ki sei unru­hig an die­sem Tag, die Näch­te sind wär­mer gewor­den, auf den Stra­ßen und Plät­zen, in den Parks cam­pier­ten noch immer tau­sen­de Flücht­lin­ge. Ich stel­le mir vor wie L. mit lächeln­dem und doch erns­tem Gesicht Obst ver­teilt, Bro­te, Tee, dann wie­der in irgend­wel­che Sit­zun­gen eilt, um hung­rig zu wer­den. Bana­nen, das weiß ich nun mit Sicher­heit zu sagen, sind kaum zu hören über eine Tele­fon­ver­bin­dung hin. Was man von einer Bana­ne in die­ser Situa­ti­on zu hören ver­mag, ist allein die Vor­stel­lung, dass gera­de eben in grö­ße­rer Ent­fer­nung ein Mensch in eine Bana­ne beißt. Ich höre dem­zu­fol­ge ein vor­ge­stell­tes Geräusch, wes­halb ich sagen kann, dass die Vor­stel­lungs­kraft wir­kungs­voll sein kann wie ein Mikro­phon oder wie eine Lupe. — Das war ges­tern. Heu­te ist es kurz vor sechs Uhr. Die Luft ist warm und feucht. Noch zu tun: Lek­tü­re — Italo Cal­vi­no Herr Palo­mar. Nichts wei­ter. — stop

ping

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im orbit

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india : 18.16 — Die zärt­lichs­te Art und Wei­se, einen Men­schen zu berüh­ren, ist viel­leicht die Berüh­rung durch Vor­stel­lungs­kraft. stop. Mut. stop. Mut zur Erin­ne­rung. stop. Das schwei­gen­de, ver­trau­te Gehen in den Ber­gen. stop. Zitro­nen­fal­ter. stop. Ein fröh­li­ches Lachen, das Doh­len­vö­gel lock­te. stop. Wol­ken. stop. Gemein­sa­me Wol­ken. stop. Der Geschmack von Apfel­schei­ben. stop. Zeit­los sein. stop. Leicht und von Sor­gen frei. stop. Gebor­gen. stop. Und Namen, Namen wie erfun­den: Müll­ner­horn. stop. Koli­brispit­ze. stop. Auf den Pfa­den der Blick über die Schul­ter zurück: Bist du noch da? stop. Das Geräusch einer Glo­cke seit unge­zähl­ten Jah­ren in einer Pum­pen­rad­sta­ti­on. stop. Das rie­seln­de Geräusch des Salz­was­sers. stop. Ein gebro­che­ner Arm, der Zeit für Nähe spen­det. stop. Eine Tas­se Kaf­fee am Mor­gen im Auf­bruch, ein war­mer Kuss, ein Lächeln. stop. Das Schnur­ren einer Kat­ze am Tele­fon. stop. Der süße Duft eines Ohres. stop. Ein roter Kof­fer, und im Win­ter Geis­ter­mas­ken, und wie man Feu­er in einem Kachel­ofen ent­facht. stop. Ja, wo bist Du, bist Du noch da? stop. Immer wie­der das Wort See­len­ort­fe­der in die­sen Tagen, das ich am 20. Okto­ber 2010 ent­deck­te und sofort ver­schenk­te. — stop
ping

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stimmen

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ulys­ses : 4.02 — Manch­mal, in letz­ter Zeit, ver­mag ich mir Stim­men vor­zu­stel­len, die ich nicht ken­ne oder wie­der­ken­ne. Stim­men, die ich mög­li­cher­wei­se  noch nie zuvor im wirk­li­chen Leben wahr­ge­nom­men habe, höre ich deut­lich. Das ist merk­wür­dig viel­leicht, weil ich bis­lang ver­mu­te­te, in mei­ner Vor­stel­lungs­kraft wür­den nur Stim­men auf­ge­ru­fen, sofern ich ein bekann­tes oder ver­trau­tes Gesicht zur Stim­me fin­den kann. Das Gesicht muss zunächst anwe­send sein, dann kann die Stim­me mit einem Satz, einem Wort oder einem Lachen fol­gen. Nun aber Stim­men, die mir fremd sind, Stim­men, die ich erfin­de, gemisch­te Stim­men oder altern­de Stim­men. – stop

polaroidtanz